Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 66, 1907, Drittes Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
Zum Ursprung des Märchens

folgendes aussagen: Die primitiven Urväter der Kulturvölker waren, ebenso wie
die heutigen Wilden, sobald sie eine gewisse Stufe des Gemeinschaftslebens er¬
reicht hatten, fabelfrohe Menschen, die es über alles liebten, die Zeit mit
Geschichtenerzähler hinzubringen. Die Beschränktheit ihrer unentwickelten Geistes¬
anlagen brachte es mit sich, daß sie nicht zusammenhängende, motivierte Er¬
zählungen, sondern formlose Sprunghafte Geschichten hervorbrachten. Was den
Stoff anlangt, so hielten sie sich dabei entweder an ihre Träume oder an ein¬
fache Erlebnisse des täglichen Lebens, besonders an solche, die den gewöhnlichen,
durch Sitte und Brauch vorgeschriebnen Verhältnissen zuwiderliefen und dadurch
einen besonders interessanten Gegenstand darboten; vor allem fühlten sie sich
durch solche Geschehnisse angezogen, die in irgendeiner Weise einen Kampf dar¬
stellten. Weil nun das ganze Denken des primitiven Menschen durchdrungen
ist von abergläubischen Vorstellungen jeder Art, drängte sich die mannig¬
faltige Jdeenmasse ihres religiösen Glaubens, besonders die Anschauungen
über die Seele und ihr Leben sowie über die unsichtbare Welt übernatürlicher
Geister und Dämonen, über die Natur und schließlich über das Zauberwesen
in ihre Erzählungen ein. Wenn sie erzählten, so vermischte sich von selbst
Natürliches mit Übernatürlichem, rannen ihnen beide Reiche entsprechend ihrem
allgemeinen Unvermögen, verschiedne Vorstellungen voneinander zu sondern, in
ein untrennbares Ganzes zusammen. So entstanden formlose Geschichten, die
wesentlich illusionistischen, oder wie wir es von unserm Standpunkt bezeichnen,
märchenhaften Charakter tragen, und die sich überall ähnlich sein mußten, weil
die allgemeine Gleichheit der menschlichen Anlagen überall nicht nur zu ähnlichen
Gesellschaftsformen, sondern auch zu überraschend gleichartigen religiösen Vor¬
stellungen und auf Grund dieser beiden Faktoren zu ähnlichen Erzählungen
führte. Diese Geschichten sind nun die Keime zu den kunstvollem Märchen¬
erzählungen, die einer spätern Stufe angehören.

Diese Hypothese scheint mir die natürlichste und einfachste zu sein und
darum den Vorzug vor solchen zu verdienen, die mehr oder minder künstlich
den Ursprung der Märchen nicht aus dem Wesen und dem Zustande der Er¬
zähler, sondern aus andern vielleicht ursprünglichem Geisteserzeugnissen der
primitiven Zeit ableiten. So wurde versucht, das Märchen aus der Zauber¬
handlung oder vielmehr aus dem diese begleitenden Zauberspruch, sofern er sich
in der Form einer symbolischen Erzählung kundgibt, abzuleiten, oder aus un-
verstandnen Riten, die später durch eine hinzugedichtete Erzählung erklärt oder
gerechtfertigt werden sollten. Man kann unbedenklich zugestehn, daß sich in
spätern Stadien der Entwicklung auch aus Zaubersprüchen oder Riten märchen¬
hafte Erzählungen entwickelt haben können, und man muß dabei beachten, daß
zur Erklärung der Kultgebräuche meist uralte bekannte und verbreitete Erzählungs¬
stoffe verwandt wurden. Auch mag hier und da ein alter Mythus zu einem
Märchen herabgesunken sein. Ich habe schon das Beispiel von dem Mythus
des Sonnenheros und dem Ungeheuer Nacht angeführt. Die schöne tiefsinnige


Zum Ursprung des Märchens

folgendes aussagen: Die primitiven Urväter der Kulturvölker waren, ebenso wie
die heutigen Wilden, sobald sie eine gewisse Stufe des Gemeinschaftslebens er¬
reicht hatten, fabelfrohe Menschen, die es über alles liebten, die Zeit mit
Geschichtenerzähler hinzubringen. Die Beschränktheit ihrer unentwickelten Geistes¬
anlagen brachte es mit sich, daß sie nicht zusammenhängende, motivierte Er¬
zählungen, sondern formlose Sprunghafte Geschichten hervorbrachten. Was den
Stoff anlangt, so hielten sie sich dabei entweder an ihre Träume oder an ein¬
fache Erlebnisse des täglichen Lebens, besonders an solche, die den gewöhnlichen,
durch Sitte und Brauch vorgeschriebnen Verhältnissen zuwiderliefen und dadurch
einen besonders interessanten Gegenstand darboten; vor allem fühlten sie sich
durch solche Geschehnisse angezogen, die in irgendeiner Weise einen Kampf dar¬
stellten. Weil nun das ganze Denken des primitiven Menschen durchdrungen
ist von abergläubischen Vorstellungen jeder Art, drängte sich die mannig¬
faltige Jdeenmasse ihres religiösen Glaubens, besonders die Anschauungen
über die Seele und ihr Leben sowie über die unsichtbare Welt übernatürlicher
Geister und Dämonen, über die Natur und schließlich über das Zauberwesen
in ihre Erzählungen ein. Wenn sie erzählten, so vermischte sich von selbst
Natürliches mit Übernatürlichem, rannen ihnen beide Reiche entsprechend ihrem
allgemeinen Unvermögen, verschiedne Vorstellungen voneinander zu sondern, in
ein untrennbares Ganzes zusammen. So entstanden formlose Geschichten, die
wesentlich illusionistischen, oder wie wir es von unserm Standpunkt bezeichnen,
märchenhaften Charakter tragen, und die sich überall ähnlich sein mußten, weil
die allgemeine Gleichheit der menschlichen Anlagen überall nicht nur zu ähnlichen
Gesellschaftsformen, sondern auch zu überraschend gleichartigen religiösen Vor¬
stellungen und auf Grund dieser beiden Faktoren zu ähnlichen Erzählungen
führte. Diese Geschichten sind nun die Keime zu den kunstvollem Märchen¬
erzählungen, die einer spätern Stufe angehören.

Diese Hypothese scheint mir die natürlichste und einfachste zu sein und
darum den Vorzug vor solchen zu verdienen, die mehr oder minder künstlich
den Ursprung der Märchen nicht aus dem Wesen und dem Zustande der Er¬
zähler, sondern aus andern vielleicht ursprünglichem Geisteserzeugnissen der
primitiven Zeit ableiten. So wurde versucht, das Märchen aus der Zauber¬
handlung oder vielmehr aus dem diese begleitenden Zauberspruch, sofern er sich
in der Form einer symbolischen Erzählung kundgibt, abzuleiten, oder aus un-
verstandnen Riten, die später durch eine hinzugedichtete Erzählung erklärt oder
gerechtfertigt werden sollten. Man kann unbedenklich zugestehn, daß sich in
spätern Stadien der Entwicklung auch aus Zaubersprüchen oder Riten märchen¬
hafte Erzählungen entwickelt haben können, und man muß dabei beachten, daß
zur Erklärung der Kultgebräuche meist uralte bekannte und verbreitete Erzählungs¬
stoffe verwandt wurden. Auch mag hier und da ein alter Mythus zu einem
Märchen herabgesunken sein. Ich habe schon das Beispiel von dem Mythus
des Sonnenheros und dem Ungeheuer Nacht angeführt. Die schöne tiefsinnige


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0091" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/302793"/>
          <fw type="header" place="top"> Zum Ursprung des Märchens</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_323" prev="#ID_322"> folgendes aussagen: Die primitiven Urväter der Kulturvölker waren, ebenso wie<lb/>
die heutigen Wilden, sobald sie eine gewisse Stufe des Gemeinschaftslebens er¬<lb/>
reicht hatten, fabelfrohe Menschen, die es über alles liebten, die Zeit mit<lb/>
Geschichtenerzähler hinzubringen. Die Beschränktheit ihrer unentwickelten Geistes¬<lb/>
anlagen brachte es mit sich, daß sie nicht zusammenhängende, motivierte Er¬<lb/>
zählungen, sondern formlose Sprunghafte Geschichten hervorbrachten. Was den<lb/>
Stoff anlangt, so hielten sie sich dabei entweder an ihre Träume oder an ein¬<lb/>
fache Erlebnisse des täglichen Lebens, besonders an solche, die den gewöhnlichen,<lb/>
durch Sitte und Brauch vorgeschriebnen Verhältnissen zuwiderliefen und dadurch<lb/>
einen besonders interessanten Gegenstand darboten; vor allem fühlten sie sich<lb/>
durch solche Geschehnisse angezogen, die in irgendeiner Weise einen Kampf dar¬<lb/>
stellten. Weil nun das ganze Denken des primitiven Menschen durchdrungen<lb/>
ist von abergläubischen Vorstellungen jeder Art, drängte sich die mannig¬<lb/>
faltige Jdeenmasse ihres religiösen Glaubens, besonders die Anschauungen<lb/>
über die Seele und ihr Leben sowie über die unsichtbare Welt übernatürlicher<lb/>
Geister und Dämonen, über die Natur und schließlich über das Zauberwesen<lb/>
in ihre Erzählungen ein. Wenn sie erzählten, so vermischte sich von selbst<lb/>
Natürliches mit Übernatürlichem, rannen ihnen beide Reiche entsprechend ihrem<lb/>
allgemeinen Unvermögen, verschiedne Vorstellungen voneinander zu sondern, in<lb/>
ein untrennbares Ganzes zusammen. So entstanden formlose Geschichten, die<lb/>
wesentlich illusionistischen, oder wie wir es von unserm Standpunkt bezeichnen,<lb/>
märchenhaften Charakter tragen, und die sich überall ähnlich sein mußten, weil<lb/>
die allgemeine Gleichheit der menschlichen Anlagen überall nicht nur zu ähnlichen<lb/>
Gesellschaftsformen, sondern auch zu überraschend gleichartigen religiösen Vor¬<lb/>
stellungen und auf Grund dieser beiden Faktoren zu ähnlichen Erzählungen<lb/>
führte. Diese Geschichten sind nun die Keime zu den kunstvollem Märchen¬<lb/>
erzählungen, die einer spätern Stufe angehören.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_324" next="#ID_325"> Diese Hypothese scheint mir die natürlichste und einfachste zu sein und<lb/>
darum den Vorzug vor solchen zu verdienen, die mehr oder minder künstlich<lb/>
den Ursprung der Märchen nicht aus dem Wesen und dem Zustande der Er¬<lb/>
zähler, sondern aus andern vielleicht ursprünglichem Geisteserzeugnissen der<lb/>
primitiven Zeit ableiten. So wurde versucht, das Märchen aus der Zauber¬<lb/>
handlung oder vielmehr aus dem diese begleitenden Zauberspruch, sofern er sich<lb/>
in der Form einer symbolischen Erzählung kundgibt, abzuleiten, oder aus un-<lb/>
verstandnen Riten, die später durch eine hinzugedichtete Erzählung erklärt oder<lb/>
gerechtfertigt werden sollten. Man kann unbedenklich zugestehn, daß sich in<lb/>
spätern Stadien der Entwicklung auch aus Zaubersprüchen oder Riten märchen¬<lb/>
hafte Erzählungen entwickelt haben können, und man muß dabei beachten, daß<lb/>
zur Erklärung der Kultgebräuche meist uralte bekannte und verbreitete Erzählungs¬<lb/>
stoffe verwandt wurden. Auch mag hier und da ein alter Mythus zu einem<lb/>
Märchen herabgesunken sein. Ich habe schon das Beispiel von dem Mythus<lb/>
des Sonnenheros und dem Ungeheuer Nacht angeführt. Die schöne tiefsinnige</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0091] Zum Ursprung des Märchens folgendes aussagen: Die primitiven Urväter der Kulturvölker waren, ebenso wie die heutigen Wilden, sobald sie eine gewisse Stufe des Gemeinschaftslebens er¬ reicht hatten, fabelfrohe Menschen, die es über alles liebten, die Zeit mit Geschichtenerzähler hinzubringen. Die Beschränktheit ihrer unentwickelten Geistes¬ anlagen brachte es mit sich, daß sie nicht zusammenhängende, motivierte Er¬ zählungen, sondern formlose Sprunghafte Geschichten hervorbrachten. Was den Stoff anlangt, so hielten sie sich dabei entweder an ihre Träume oder an ein¬ fache Erlebnisse des täglichen Lebens, besonders an solche, die den gewöhnlichen, durch Sitte und Brauch vorgeschriebnen Verhältnissen zuwiderliefen und dadurch einen besonders interessanten Gegenstand darboten; vor allem fühlten sie sich durch solche Geschehnisse angezogen, die in irgendeiner Weise einen Kampf dar¬ stellten. Weil nun das ganze Denken des primitiven Menschen durchdrungen ist von abergläubischen Vorstellungen jeder Art, drängte sich die mannig¬ faltige Jdeenmasse ihres religiösen Glaubens, besonders die Anschauungen über die Seele und ihr Leben sowie über die unsichtbare Welt übernatürlicher Geister und Dämonen, über die Natur und schließlich über das Zauberwesen in ihre Erzählungen ein. Wenn sie erzählten, so vermischte sich von selbst Natürliches mit Übernatürlichem, rannen ihnen beide Reiche entsprechend ihrem allgemeinen Unvermögen, verschiedne Vorstellungen voneinander zu sondern, in ein untrennbares Ganzes zusammen. So entstanden formlose Geschichten, die wesentlich illusionistischen, oder wie wir es von unserm Standpunkt bezeichnen, märchenhaften Charakter tragen, und die sich überall ähnlich sein mußten, weil die allgemeine Gleichheit der menschlichen Anlagen überall nicht nur zu ähnlichen Gesellschaftsformen, sondern auch zu überraschend gleichartigen religiösen Vor¬ stellungen und auf Grund dieser beiden Faktoren zu ähnlichen Erzählungen führte. Diese Geschichten sind nun die Keime zu den kunstvollem Märchen¬ erzählungen, die einer spätern Stufe angehören. Diese Hypothese scheint mir die natürlichste und einfachste zu sein und darum den Vorzug vor solchen zu verdienen, die mehr oder minder künstlich den Ursprung der Märchen nicht aus dem Wesen und dem Zustande der Er¬ zähler, sondern aus andern vielleicht ursprünglichem Geisteserzeugnissen der primitiven Zeit ableiten. So wurde versucht, das Märchen aus der Zauber¬ handlung oder vielmehr aus dem diese begleitenden Zauberspruch, sofern er sich in der Form einer symbolischen Erzählung kundgibt, abzuleiten, oder aus un- verstandnen Riten, die später durch eine hinzugedichtete Erzählung erklärt oder gerechtfertigt werden sollten. Man kann unbedenklich zugestehn, daß sich in spätern Stadien der Entwicklung auch aus Zaubersprüchen oder Riten märchen¬ hafte Erzählungen entwickelt haben können, und man muß dabei beachten, daß zur Erklärung der Kultgebräuche meist uralte bekannte und verbreitete Erzählungs¬ stoffe verwandt wurden. Auch mag hier und da ein alter Mythus zu einem Märchen herabgesunken sein. Ich habe schon das Beispiel von dem Mythus des Sonnenheros und dem Ungeheuer Nacht angeführt. Die schöne tiefsinnige

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341885_302701
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341885_302701/91
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 66, 1907, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341885_302701/91>, abgerufen am 28.07.2024.