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Die Grenzboten. Jg. 66, 1907, Drittes Vierteljahr.

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Zum Ursprung des Märchens

Märchen zukommt. Schritt für Schritt kann man die Verzauberung des Mürchen-
helden in Tiere auf den primitiven Glauben vom Übergange der menschlichen
Seele in Tierleiber zurückleitcn. Das Grunddogma der Zauberkunst lautet:
Da der Leib mit allem, was an ihm ist, eine innerlich untrennbare Einheit
bildet, so ist jedes einzelne Teilchen des Körpers der Lebenskraft teilhaftig,
auch nachdem es vom Körper losgelöst worden ist. Was einer also mit einem
Körperteilchen eines Menschen, sei es mit einem Haare, einem Zahn, einem
Nagelabschnitt, ja sogar mit der Fußspur vornimmt, das spürt der Besitzer,
auch wenn er weit entfernt sein sollte. Diese urälteste Zauberanschauung wirkt
noch lebendig in dem Märchenzuge nach, wonach der Held ein Haar, eine
Feder oder eine Schuppe von einem hilfreichen Tier erhält mit der Anweisung,
dieses Teilchen im Augenblicke der Not zu verbrennen, um durch diese Mani¬
pulation das Tier augenblicklich herbeizurufen.

Auch rein gesellschaftliche Einrichtungen aus der primitiven Vorzeit der
Völker (die ja allerdings immer mit religiösen Anschauungen durchtränkt sind)
hat das Märchen bewahrt. Bei den meisten Völkern herrscht der Brauch, daß
bei den Mädchenweihen die Jungfrau eine gewisse Zeit in einem dunkeln ab¬
geschlossenen Raum, in den kein Sonnenstrahl dringen darf, eingekerkert gehalten
wird. Man wird dabei an den bekannten Märchenzug erinnert, daß ein König
seine Tochter auf Grund einer schlimmen Prophezeiung bis zum vierzehnten
Jahre (also bis zur Zeit der Mannbarkeit) in einen Turm einschließt (Danae-
motiv). Trifft ein Sonnenstrahl eine Jungfrau, der es prophezeit worden ist,
daß sie sich vor der Sonne hüten solle, so wird das Mädchen in ein Tier ver¬
wandelt. Dieses Motiv findet sich häufig in dem Märchenkreise von der unter¬
geschobnen Braut. Überhaupt spielen die primitiven Tabuvorschriften eine be¬
deutende Rolle in Märchen, worauf hier jedoch nicht weiter eingegangen
werden kann.

Die wenigen hier angeführten Beispiele müssen genügen, zu zeigen, daß
der Stoff, aus dem unsre Märchen bestehn, aus dem Leben, den Natur¬
anschauungen und den abergläubischen Vorstellungen der Urzeit der märchen¬
erzählenden Völker gewonnen worden ist. Das, was uns märchenhaft im
eigentlichen Sinne, d. h. übernatürlich und auf der Tätigkeit der Phantasie be¬
ruhend erscheint, war früher einmal wirklich lebendige Weltanschauung, fest ge¬
glaubte Lebenserfahrung. Wir verstehn nun, daß die Menschen der Vorzeit,
wenn sie eine besonders interessante Begebenheit erzählen wollten, im Banne
dieser religiösen Vorstellungen und der Zauberanschauungen stehend, gar nicht
anders erzählen konnten, als daß sich fortwährend diese übernatürlichen Bestand¬
teile ihrer täglichen Erfahrungen in ihre Vorstellungen eindrängten. Erfinden
konnte der Naturmensch nicht selbsttätig, sondern nur verbinden, und was er
verband, waren die ihm geläufigen Erscheinungen und Vorgänge des täglichen
gesellschaftlichen Lebens mit jenen Bestandteilen seiner illusionistischen Welt¬
anschauung.


Zum Ursprung des Märchens

Märchen zukommt. Schritt für Schritt kann man die Verzauberung des Mürchen-
helden in Tiere auf den primitiven Glauben vom Übergange der menschlichen
Seele in Tierleiber zurückleitcn. Das Grunddogma der Zauberkunst lautet:
Da der Leib mit allem, was an ihm ist, eine innerlich untrennbare Einheit
bildet, so ist jedes einzelne Teilchen des Körpers der Lebenskraft teilhaftig,
auch nachdem es vom Körper losgelöst worden ist. Was einer also mit einem
Körperteilchen eines Menschen, sei es mit einem Haare, einem Zahn, einem
Nagelabschnitt, ja sogar mit der Fußspur vornimmt, das spürt der Besitzer,
auch wenn er weit entfernt sein sollte. Diese urälteste Zauberanschauung wirkt
noch lebendig in dem Märchenzuge nach, wonach der Held ein Haar, eine
Feder oder eine Schuppe von einem hilfreichen Tier erhält mit der Anweisung,
dieses Teilchen im Augenblicke der Not zu verbrennen, um durch diese Mani¬
pulation das Tier augenblicklich herbeizurufen.

Auch rein gesellschaftliche Einrichtungen aus der primitiven Vorzeit der
Völker (die ja allerdings immer mit religiösen Anschauungen durchtränkt sind)
hat das Märchen bewahrt. Bei den meisten Völkern herrscht der Brauch, daß
bei den Mädchenweihen die Jungfrau eine gewisse Zeit in einem dunkeln ab¬
geschlossenen Raum, in den kein Sonnenstrahl dringen darf, eingekerkert gehalten
wird. Man wird dabei an den bekannten Märchenzug erinnert, daß ein König
seine Tochter auf Grund einer schlimmen Prophezeiung bis zum vierzehnten
Jahre (also bis zur Zeit der Mannbarkeit) in einen Turm einschließt (Danae-
motiv). Trifft ein Sonnenstrahl eine Jungfrau, der es prophezeit worden ist,
daß sie sich vor der Sonne hüten solle, so wird das Mädchen in ein Tier ver¬
wandelt. Dieses Motiv findet sich häufig in dem Märchenkreise von der unter¬
geschobnen Braut. Überhaupt spielen die primitiven Tabuvorschriften eine be¬
deutende Rolle in Märchen, worauf hier jedoch nicht weiter eingegangen
werden kann.

Die wenigen hier angeführten Beispiele müssen genügen, zu zeigen, daß
der Stoff, aus dem unsre Märchen bestehn, aus dem Leben, den Natur¬
anschauungen und den abergläubischen Vorstellungen der Urzeit der märchen¬
erzählenden Völker gewonnen worden ist. Das, was uns märchenhaft im
eigentlichen Sinne, d. h. übernatürlich und auf der Tätigkeit der Phantasie be¬
ruhend erscheint, war früher einmal wirklich lebendige Weltanschauung, fest ge¬
glaubte Lebenserfahrung. Wir verstehn nun, daß die Menschen der Vorzeit,
wenn sie eine besonders interessante Begebenheit erzählen wollten, im Banne
dieser religiösen Vorstellungen und der Zauberanschauungen stehend, gar nicht
anders erzählen konnten, als daß sich fortwährend diese übernatürlichen Bestand¬
teile ihrer täglichen Erfahrungen in ihre Vorstellungen eindrängten. Erfinden
konnte der Naturmensch nicht selbsttätig, sondern nur verbinden, und was er
verband, waren die ihm geläufigen Erscheinungen und Vorgänge des täglichen
gesellschaftlichen Lebens mit jenen Bestandteilen seiner illusionistischen Welt¬
anschauung.


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[0088] Zum Ursprung des Märchens Märchen zukommt. Schritt für Schritt kann man die Verzauberung des Mürchen- helden in Tiere auf den primitiven Glauben vom Übergange der menschlichen Seele in Tierleiber zurückleitcn. Das Grunddogma der Zauberkunst lautet: Da der Leib mit allem, was an ihm ist, eine innerlich untrennbare Einheit bildet, so ist jedes einzelne Teilchen des Körpers der Lebenskraft teilhaftig, auch nachdem es vom Körper losgelöst worden ist. Was einer also mit einem Körperteilchen eines Menschen, sei es mit einem Haare, einem Zahn, einem Nagelabschnitt, ja sogar mit der Fußspur vornimmt, das spürt der Besitzer, auch wenn er weit entfernt sein sollte. Diese urälteste Zauberanschauung wirkt noch lebendig in dem Märchenzuge nach, wonach der Held ein Haar, eine Feder oder eine Schuppe von einem hilfreichen Tier erhält mit der Anweisung, dieses Teilchen im Augenblicke der Not zu verbrennen, um durch diese Mani¬ pulation das Tier augenblicklich herbeizurufen. Auch rein gesellschaftliche Einrichtungen aus der primitiven Vorzeit der Völker (die ja allerdings immer mit religiösen Anschauungen durchtränkt sind) hat das Märchen bewahrt. Bei den meisten Völkern herrscht der Brauch, daß bei den Mädchenweihen die Jungfrau eine gewisse Zeit in einem dunkeln ab¬ geschlossenen Raum, in den kein Sonnenstrahl dringen darf, eingekerkert gehalten wird. Man wird dabei an den bekannten Märchenzug erinnert, daß ein König seine Tochter auf Grund einer schlimmen Prophezeiung bis zum vierzehnten Jahre (also bis zur Zeit der Mannbarkeit) in einen Turm einschließt (Danae- motiv). Trifft ein Sonnenstrahl eine Jungfrau, der es prophezeit worden ist, daß sie sich vor der Sonne hüten solle, so wird das Mädchen in ein Tier ver¬ wandelt. Dieses Motiv findet sich häufig in dem Märchenkreise von der unter¬ geschobnen Braut. Überhaupt spielen die primitiven Tabuvorschriften eine be¬ deutende Rolle in Märchen, worauf hier jedoch nicht weiter eingegangen werden kann. Die wenigen hier angeführten Beispiele müssen genügen, zu zeigen, daß der Stoff, aus dem unsre Märchen bestehn, aus dem Leben, den Natur¬ anschauungen und den abergläubischen Vorstellungen der Urzeit der märchen¬ erzählenden Völker gewonnen worden ist. Das, was uns märchenhaft im eigentlichen Sinne, d. h. übernatürlich und auf der Tätigkeit der Phantasie be¬ ruhend erscheint, war früher einmal wirklich lebendige Weltanschauung, fest ge¬ glaubte Lebenserfahrung. Wir verstehn nun, daß die Menschen der Vorzeit, wenn sie eine besonders interessante Begebenheit erzählen wollten, im Banne dieser religiösen Vorstellungen und der Zauberanschauungen stehend, gar nicht anders erzählen konnten, als daß sich fortwährend diese übernatürlichen Bestand¬ teile ihrer täglichen Erfahrungen in ihre Vorstellungen eindrängten. Erfinden konnte der Naturmensch nicht selbsttätig, sondern nur verbinden, und was er verband, waren die ihm geläufigen Erscheinungen und Vorgänge des täglichen gesellschaftlichen Lebens mit jenen Bestandteilen seiner illusionistischen Welt¬ anschauung.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 66, 1907, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341885_302701/88>, abgerufen am 29.07.2024.