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Die Grenzboten. Jg. 66, 1907, Drittes Vierteljahr.

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Zum Ursprung des Märchens

die Tore, die wachehaltenden Ungeheuer tun ihm nichts zuleide usw.) Diese
Beispiele, die man unbeschränkt vermehren könnte, zeigen wohl zur Genüge, wie
aus uralten Anschauungen über die Reise der Seele in das Totenland die Er¬
zählung von der Fahrt des Helden in das Märchenwunderland erwachsen ist.
Wollen wir diese Anschauungen der primitiven Menschen nun noch weiter auf
ihren Ursprung zurttckverfolgcn, so stoßen wir auf Traumerfahrnngen. Im
Traum oder im Rausch der Ekstase glauben besonders dazu disponierte Indi¬
viduen, vor allem also die professionellen Zauberer, in das Seelenland ein¬
gedrungen zu sein, und was sich ihnen im Traum oder in der Ekstase offenbart
hat, erzählen sie nachher den staunend lauschenden Zuhörern. Es ist geradezu
ein Teil der praktischen Zauberkunst, von Zeit zu Zeit die Seele in das Jen¬
seits zu schicken, wobei Personen, die geheime Dinge oder die Zukunft zu er¬
fahren wünschen, dem Zauberer Fragen mitgeben, die er sich von den Seelen im
Jenseits beantworten lassen soll. Von solchen Fahrten der Medizinmänner in
das Seelenland weiß die ethnologische Forschung viele interessante Berichte an¬
zuführen. Man sieht leicht, daß hier der Keim zu der Märchenerzählung liegt,
in der der Held in die Hölle zum Teufel fährt und von ihm Antworten auf
Fragen, die ihm unterwegs mitgegeben worden sind, erhält.

Auch die einfachen, kindlichen Anschauungen des Wilden über die Natur
-- die primitive Naturmythologie -- kehren im Märchen wieder. Der Urmensch
dachte sich das Himmelsgewölbe als ein festes Gewebe, das wohl ein besonders
geschickter Mann einmal besteigen konnte. Viele Märchen wissen davon zu er¬
zählen, wie der Jüngling oder die Jungfrau zu der Sonne oder zu dem Mond
emporsteigt, um sich von ihnen Rat oder Hilfe zu holen. Der Glasberg des
Märchens ist nichts andres als die blaue Himmelskuppel. Sonne, Mond und
Sterne gelten auf der ganzen Welt als persönliche Wesen. Die Sonne wird
vielfach als alte Frau aufgefaßt oder als grausames männliches Wesen, das
seine eignen mit dem Mond erzeugten Kinder, die Sterne, verfolgt, um sie zu
fressen. Hieraus wird nun verständlich, wie im Märchen erzählt werden kann,
daß die Jungfrau, als sie zur Sonne wandert, nicht eben freundlich empfangen
wird; die Sonne wittert Menschenfleisch und freut sich auf die unverhoffte Beute.
Im Monde glauben so ziemlich alle Völker der Erde ein menschliches Wesen
zu sehen, meist eine Frau, die da oben spinnt oder Gewänder webt. Diese
Anschauung hat den Anlaß zu dem Thema gegeben, daß die Heldin von dem
freundlichen Monde drei wunderschöne Kleider erhält. Wenn der Mond eine goldne
Henne mit sechs goldnen Küchlein schenkt, so ist damit das Siebengestirn gemeint.

Das Zauberwesen des Märchens geht in seiner Gesamtheit auf die uralten
Primitiven Zaubervorstellungen zurück. Die Haupteigenschaft, die die Wilden
dem Zauberer zuschreiben, ist die Fähigkeit, seine Seele mit Leichtigkeit aus dem
Körper zu lösen und sie entweder auf die Wanderschaft zu schicken, bis ins
Jenseits hinein, oder sie in andre Menschen oder in Tiere einfahren zu lassen.
Das letzte ist die Fähigkeit der Selbstverwandlung, die auch den Zauberern im


Zum Ursprung des Märchens

die Tore, die wachehaltenden Ungeheuer tun ihm nichts zuleide usw.) Diese
Beispiele, die man unbeschränkt vermehren könnte, zeigen wohl zur Genüge, wie
aus uralten Anschauungen über die Reise der Seele in das Totenland die Er¬
zählung von der Fahrt des Helden in das Märchenwunderland erwachsen ist.
Wollen wir diese Anschauungen der primitiven Menschen nun noch weiter auf
ihren Ursprung zurttckverfolgcn, so stoßen wir auf Traumerfahrnngen. Im
Traum oder im Rausch der Ekstase glauben besonders dazu disponierte Indi¬
viduen, vor allem also die professionellen Zauberer, in das Seelenland ein¬
gedrungen zu sein, und was sich ihnen im Traum oder in der Ekstase offenbart
hat, erzählen sie nachher den staunend lauschenden Zuhörern. Es ist geradezu
ein Teil der praktischen Zauberkunst, von Zeit zu Zeit die Seele in das Jen¬
seits zu schicken, wobei Personen, die geheime Dinge oder die Zukunft zu er¬
fahren wünschen, dem Zauberer Fragen mitgeben, die er sich von den Seelen im
Jenseits beantworten lassen soll. Von solchen Fahrten der Medizinmänner in
das Seelenland weiß die ethnologische Forschung viele interessante Berichte an¬
zuführen. Man sieht leicht, daß hier der Keim zu der Märchenerzählung liegt,
in der der Held in die Hölle zum Teufel fährt und von ihm Antworten auf
Fragen, die ihm unterwegs mitgegeben worden sind, erhält.

Auch die einfachen, kindlichen Anschauungen des Wilden über die Natur
— die primitive Naturmythologie — kehren im Märchen wieder. Der Urmensch
dachte sich das Himmelsgewölbe als ein festes Gewebe, das wohl ein besonders
geschickter Mann einmal besteigen konnte. Viele Märchen wissen davon zu er¬
zählen, wie der Jüngling oder die Jungfrau zu der Sonne oder zu dem Mond
emporsteigt, um sich von ihnen Rat oder Hilfe zu holen. Der Glasberg des
Märchens ist nichts andres als die blaue Himmelskuppel. Sonne, Mond und
Sterne gelten auf der ganzen Welt als persönliche Wesen. Die Sonne wird
vielfach als alte Frau aufgefaßt oder als grausames männliches Wesen, das
seine eignen mit dem Mond erzeugten Kinder, die Sterne, verfolgt, um sie zu
fressen. Hieraus wird nun verständlich, wie im Märchen erzählt werden kann,
daß die Jungfrau, als sie zur Sonne wandert, nicht eben freundlich empfangen
wird; die Sonne wittert Menschenfleisch und freut sich auf die unverhoffte Beute.
Im Monde glauben so ziemlich alle Völker der Erde ein menschliches Wesen
zu sehen, meist eine Frau, die da oben spinnt oder Gewänder webt. Diese
Anschauung hat den Anlaß zu dem Thema gegeben, daß die Heldin von dem
freundlichen Monde drei wunderschöne Kleider erhält. Wenn der Mond eine goldne
Henne mit sechs goldnen Küchlein schenkt, so ist damit das Siebengestirn gemeint.

Das Zauberwesen des Märchens geht in seiner Gesamtheit auf die uralten
Primitiven Zaubervorstellungen zurück. Die Haupteigenschaft, die die Wilden
dem Zauberer zuschreiben, ist die Fähigkeit, seine Seele mit Leichtigkeit aus dem
Körper zu lösen und sie entweder auf die Wanderschaft zu schicken, bis ins
Jenseits hinein, oder sie in andre Menschen oder in Tiere einfahren zu lassen.
Das letzte ist die Fähigkeit der Selbstverwandlung, die auch den Zauberern im


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 66, 1907, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341885_302701/87>, abgerufen am 07.01.2025.