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Die Grenzboten. Jg. 66, 1907, Drittes Vierteljahr.

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vorländers Acme--Schiller--Goethe

Auch über Goethes philosophische Entwicklung seien nur einige Hauptpunkte
und Sätze aus Vorländers gründlichen Forschungen herausgegriffen. Diese
begründen, wie gesagt, die erste umfassende Darstellung von Goethes Beziehungen
zur Philosophie und namentlich zu Kant. Sie sind ganz anders gestaltet als
die Schillers. Goethe trat in kein Schulverhältnis, er schrieb keine philosophische
Abhandlung und fühlte nicht den Beruf zum philosophischen Systematiker. Eine
besondre Schwierigkeit für Vorländer lag in der UnVollständigkeit des Quellen¬
materials. In drei Perioden zeichnet er uns Goethes Entwicklungsgang. Wir
sehen, wie trotz der Bekanntschaft mit Herder in der ersten Periode, nämlich
vor seiner Verbindung mit Schiller (1794), Kant noch keinen bemerkbaren Ein¬
fluß auf ihn übt. Er hatte sich allerdings schon Anfang 1789 zu Kant gewandt.
Als er 1788 aus Italien heimkehrte, fand er Jena voll von Kants Philosophie,
und es drängte ihn, zu ihr Stellung zu nehmen. Zu ihrem eindringlichen
Studium hatte er jedoch nicht genug Ausdauer und Geduld, und es stand
immer etwas Fremdartiges zwischen ihm und Kant. Er ist philosophisch ab¬
hängig von Herder, und beide sind Verehrer Spinozas. Solange Herder ihn
beeinflußt, bleibt er Schiller und Kant fern.

Reinholds begeisterte Briefe über die Kantische Philosophie bereiteten den
Umschwung in Goethe vor. Die Kritik der Urteilskraft verbreitete ihm Helles
Licht über sein bisheriges Schaffen, Tun und Denken. In ihr fand er die
gesuchte philosophische Fundamentierung; die Hauptgedanken dieses Werkes fand
er seinem Denken analog, freilich faßte er sie nach seiner besondern Weise auf.
Seit Kant bei Goethe Fuß gefaßt hat, ist von Spinoza lange nicht mehr die
Rede. Schiller brachte ihm die ersehnte Versöhnung mit der Philosophie, und
diese half den Bund unsrer beiden größten Dichter begründen, während vorher
gerade Schillers Begeisterung für die Kantische Philosophie ein inneres Ver¬
hältnis zwischen ihnen nicht hatte aufkommen lassen. Erst die bekannte Begeg¬
nung in Jena in der Naturforschender Gesellschaft (Sommer 1794) brachte sie
einander näher, als reife Männer schon, aber "mit um so größerem Gewinne,
schreibt Schiller, da die letzten Gefährten auf einer langen Reise sich immer am
meisten zu sagen haben". Sie rechneten von da eine neue Periode. Goethe
war, was Philosophie anlangt, der Empfangende, Schiller führte ihn in das
Verständnis des kritischen Idealismus ein. Dessen ästhetische Briefe erregen
sein höchstes Entzücken und atmen doch Kantische Grundsätze. Die fortschreitende
Beschäftigung Goethes mit Kant ist gleichbedeutend mit der Entfremdung von
Herder und dem Zusammenwachsen mit Schiller, in dessen Auffassung er sich
Kants Philosophie zu eigen machte, ohne daß sich Goethe jedoch, wie es
Schiller getan hatte, gründlich in die Einzelheiten eines philosophischen Systems
vertieft hätte. Niemals hat er sich einem Philosophen von Fach ganz ergeben,
niemals sich in die Fesseln eines Systems eingesponnen. Er nahm sich, wie
Schiller ihm einmal schreibt, von seinen Ideen nur das. was seinen An¬
schauungen zusagte. Der beste Beweis dafür, daß Goethes "anschauende


vorländers Acme—Schiller—Goethe

Auch über Goethes philosophische Entwicklung seien nur einige Hauptpunkte
und Sätze aus Vorländers gründlichen Forschungen herausgegriffen. Diese
begründen, wie gesagt, die erste umfassende Darstellung von Goethes Beziehungen
zur Philosophie und namentlich zu Kant. Sie sind ganz anders gestaltet als
die Schillers. Goethe trat in kein Schulverhältnis, er schrieb keine philosophische
Abhandlung und fühlte nicht den Beruf zum philosophischen Systematiker. Eine
besondre Schwierigkeit für Vorländer lag in der UnVollständigkeit des Quellen¬
materials. In drei Perioden zeichnet er uns Goethes Entwicklungsgang. Wir
sehen, wie trotz der Bekanntschaft mit Herder in der ersten Periode, nämlich
vor seiner Verbindung mit Schiller (1794), Kant noch keinen bemerkbaren Ein¬
fluß auf ihn übt. Er hatte sich allerdings schon Anfang 1789 zu Kant gewandt.
Als er 1788 aus Italien heimkehrte, fand er Jena voll von Kants Philosophie,
und es drängte ihn, zu ihr Stellung zu nehmen. Zu ihrem eindringlichen
Studium hatte er jedoch nicht genug Ausdauer und Geduld, und es stand
immer etwas Fremdartiges zwischen ihm und Kant. Er ist philosophisch ab¬
hängig von Herder, und beide sind Verehrer Spinozas. Solange Herder ihn
beeinflußt, bleibt er Schiller und Kant fern.

Reinholds begeisterte Briefe über die Kantische Philosophie bereiteten den
Umschwung in Goethe vor. Die Kritik der Urteilskraft verbreitete ihm Helles
Licht über sein bisheriges Schaffen, Tun und Denken. In ihr fand er die
gesuchte philosophische Fundamentierung; die Hauptgedanken dieses Werkes fand
er seinem Denken analog, freilich faßte er sie nach seiner besondern Weise auf.
Seit Kant bei Goethe Fuß gefaßt hat, ist von Spinoza lange nicht mehr die
Rede. Schiller brachte ihm die ersehnte Versöhnung mit der Philosophie, und
diese half den Bund unsrer beiden größten Dichter begründen, während vorher
gerade Schillers Begeisterung für die Kantische Philosophie ein inneres Ver¬
hältnis zwischen ihnen nicht hatte aufkommen lassen. Erst die bekannte Begeg¬
nung in Jena in der Naturforschender Gesellschaft (Sommer 1794) brachte sie
einander näher, als reife Männer schon, aber „mit um so größerem Gewinne,
schreibt Schiller, da die letzten Gefährten auf einer langen Reise sich immer am
meisten zu sagen haben". Sie rechneten von da eine neue Periode. Goethe
war, was Philosophie anlangt, der Empfangende, Schiller führte ihn in das
Verständnis des kritischen Idealismus ein. Dessen ästhetische Briefe erregen
sein höchstes Entzücken und atmen doch Kantische Grundsätze. Die fortschreitende
Beschäftigung Goethes mit Kant ist gleichbedeutend mit der Entfremdung von
Herder und dem Zusammenwachsen mit Schiller, in dessen Auffassung er sich
Kants Philosophie zu eigen machte, ohne daß sich Goethe jedoch, wie es
Schiller getan hatte, gründlich in die Einzelheiten eines philosophischen Systems
vertieft hätte. Niemals hat er sich einem Philosophen von Fach ganz ergeben,
niemals sich in die Fesseln eines Systems eingesponnen. Er nahm sich, wie
Schiller ihm einmal schreibt, von seinen Ideen nur das. was seinen An¬
schauungen zusagte. Der beste Beweis dafür, daß Goethes „anschauende


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[0082] vorländers Acme—Schiller—Goethe Auch über Goethes philosophische Entwicklung seien nur einige Hauptpunkte und Sätze aus Vorländers gründlichen Forschungen herausgegriffen. Diese begründen, wie gesagt, die erste umfassende Darstellung von Goethes Beziehungen zur Philosophie und namentlich zu Kant. Sie sind ganz anders gestaltet als die Schillers. Goethe trat in kein Schulverhältnis, er schrieb keine philosophische Abhandlung und fühlte nicht den Beruf zum philosophischen Systematiker. Eine besondre Schwierigkeit für Vorländer lag in der UnVollständigkeit des Quellen¬ materials. In drei Perioden zeichnet er uns Goethes Entwicklungsgang. Wir sehen, wie trotz der Bekanntschaft mit Herder in der ersten Periode, nämlich vor seiner Verbindung mit Schiller (1794), Kant noch keinen bemerkbaren Ein¬ fluß auf ihn übt. Er hatte sich allerdings schon Anfang 1789 zu Kant gewandt. Als er 1788 aus Italien heimkehrte, fand er Jena voll von Kants Philosophie, und es drängte ihn, zu ihr Stellung zu nehmen. Zu ihrem eindringlichen Studium hatte er jedoch nicht genug Ausdauer und Geduld, und es stand immer etwas Fremdartiges zwischen ihm und Kant. Er ist philosophisch ab¬ hängig von Herder, und beide sind Verehrer Spinozas. Solange Herder ihn beeinflußt, bleibt er Schiller und Kant fern. Reinholds begeisterte Briefe über die Kantische Philosophie bereiteten den Umschwung in Goethe vor. Die Kritik der Urteilskraft verbreitete ihm Helles Licht über sein bisheriges Schaffen, Tun und Denken. In ihr fand er die gesuchte philosophische Fundamentierung; die Hauptgedanken dieses Werkes fand er seinem Denken analog, freilich faßte er sie nach seiner besondern Weise auf. Seit Kant bei Goethe Fuß gefaßt hat, ist von Spinoza lange nicht mehr die Rede. Schiller brachte ihm die ersehnte Versöhnung mit der Philosophie, und diese half den Bund unsrer beiden größten Dichter begründen, während vorher gerade Schillers Begeisterung für die Kantische Philosophie ein inneres Ver¬ hältnis zwischen ihnen nicht hatte aufkommen lassen. Erst die bekannte Begeg¬ nung in Jena in der Naturforschender Gesellschaft (Sommer 1794) brachte sie einander näher, als reife Männer schon, aber „mit um so größerem Gewinne, schreibt Schiller, da die letzten Gefährten auf einer langen Reise sich immer am meisten zu sagen haben". Sie rechneten von da eine neue Periode. Goethe war, was Philosophie anlangt, der Empfangende, Schiller führte ihn in das Verständnis des kritischen Idealismus ein. Dessen ästhetische Briefe erregen sein höchstes Entzücken und atmen doch Kantische Grundsätze. Die fortschreitende Beschäftigung Goethes mit Kant ist gleichbedeutend mit der Entfremdung von Herder und dem Zusammenwachsen mit Schiller, in dessen Auffassung er sich Kants Philosophie zu eigen machte, ohne daß sich Goethe jedoch, wie es Schiller getan hatte, gründlich in die Einzelheiten eines philosophischen Systems vertieft hätte. Niemals hat er sich einem Philosophen von Fach ganz ergeben, niemals sich in die Fesseln eines Systems eingesponnen. Er nahm sich, wie Schiller ihm einmal schreibt, von seinen Ideen nur das. was seinen An¬ schauungen zusagte. Der beste Beweis dafür, daß Goethes „anschauende

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 66, 1907, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341885_302701/82>, abgerufen am 28.07.2024.