Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 66, 1907, Drittes Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
vorländers Aare--Schiller--Goethe

Natur" keine Feindin wahrer Philosophie war, ist gerade die vertraute Freund¬
schaft mit Schiller, die durch den von diesem ihm nahe gebrachten Kantischen
Kritizismus belebt und gestärkt wurde. Durch Schiller wurde Goethe Philosoph
mit Bewußtsein; vorher war er es, ohne es zu wissen. Schiller war der
Mentor, der den philosophischen Dämmerungszustand Goethes gelichtet, ihm die
Philosophie zu einem notwendigen Bestandteil seines Ich gemacht hat. Seit
der Bekanntschaft mit Schiller zählt er die Philosophie ganz anders als vorher
zu den Gegenständen seines Interesses und Studiums.

Gegen Kant eiferte der ganze Herdersche Kreis, nicht am wenigsten Herder
selbst, dessen gehässiger Ton Goethe abstoßen mußte; auch Jean Paul, der alte
Klopstock, Dalberg, Vater Gleim und andre fallen gegen ihn aus, und mit der
Feindschaft gegen Kant ist die gegen Schiller und Goethe verwachsen. Die
Genien zeigen, daß die beiden Dioskuren mit dem Königsberger Weisen die¬
selben Gegner haben. Es ist keineswegs ein erquickliches, aber ein ungemein
plastisches, ja dramatisches Bild des geistigen Lebens jener Zeit, das in jener
Fehde an uns vorüberzieht.*)

Nach Schillers Tode trat Goethes Beschäftigung mit der Philosophie
zurück, und es blieb nur das philosophische Interesse. Von einer vertrautem
Beschäftigung mit philosophischen Problemen, wie sie durch die Freundschaft
und den innigen Geistesaustausch mit Schiller in ihm wachgerufen worden
war, ist nach dessen Tode nicht viel mehr zu merken. Auch hier gibt Vor¬
länder interessante Ausblicke auf das Geistesleben der ersten Jahrzehnte des
neunzehnten Jahrhunderts: Hegel und Steffens, Fichte, Schelling und Schopen¬
hauer treten uns vor Augen. Jacobi führt Goethe wieder zu seiner alten Liebe,
zu Spinoza, zurück, dem er nun aber, wie überhaupt philosophischen Systemen,
dank der durch Schiller vermittelten Einführung in die kritische Philosophie ein
besseres Verständnis entgegenbringt.

Das Verhalten unsrer beiden größten Dichter zur Philosophie: Goethes,
der nach seinem eignen Bekenntnis bei den mannigfaltigen Richtungen seines
Wesens nicht an einer Denkweise genug haben konnte, und Schillers, der Kants
Schüler geworden war, ist für ihr Verständnis überaus wichtig. Wir finden
bei Goethe tiefen Einfluß des kritischen Idealismus einerseits, immer wieder¬
kehrendes Ablenken und eigenartige Auffassungsweise andrerseits, die auf dem
unverlierbaren Gegensatz zwischen der anschauenden, immer zum Ganzen hin-
strebenden Natur des Dichters und der zergliedernden Strenge des Philosophen
beruhen, dem kritische Scheidung immer das erste Erfordernis bleibt. "Schiller,



Kurz nach dem Vorländerschen Werke ist in demselben Verlage ein Buch erschienen,
das in dem Streite zwischen Herder und Kant warm Herders Sache vertritt und ein wertvolles
Gegenstück oder auch eine Ergänzung zu "Kant--Schiller--Goethe" bietet: Herders und Kants
Ästhetik von Günther Jacobo. Der Verfasser bringt sein Werturteil über die Kalligone
und die Kritik der Urteilskraft gewissermaßen schon in, Titel durch Herders Voranstellung zum
Ausdruck.
vorländers Aare—Schiller—Goethe

Natur" keine Feindin wahrer Philosophie war, ist gerade die vertraute Freund¬
schaft mit Schiller, die durch den von diesem ihm nahe gebrachten Kantischen
Kritizismus belebt und gestärkt wurde. Durch Schiller wurde Goethe Philosoph
mit Bewußtsein; vorher war er es, ohne es zu wissen. Schiller war der
Mentor, der den philosophischen Dämmerungszustand Goethes gelichtet, ihm die
Philosophie zu einem notwendigen Bestandteil seines Ich gemacht hat. Seit
der Bekanntschaft mit Schiller zählt er die Philosophie ganz anders als vorher
zu den Gegenständen seines Interesses und Studiums.

Gegen Kant eiferte der ganze Herdersche Kreis, nicht am wenigsten Herder
selbst, dessen gehässiger Ton Goethe abstoßen mußte; auch Jean Paul, der alte
Klopstock, Dalberg, Vater Gleim und andre fallen gegen ihn aus, und mit der
Feindschaft gegen Kant ist die gegen Schiller und Goethe verwachsen. Die
Genien zeigen, daß die beiden Dioskuren mit dem Königsberger Weisen die¬
selben Gegner haben. Es ist keineswegs ein erquickliches, aber ein ungemein
plastisches, ja dramatisches Bild des geistigen Lebens jener Zeit, das in jener
Fehde an uns vorüberzieht.*)

Nach Schillers Tode trat Goethes Beschäftigung mit der Philosophie
zurück, und es blieb nur das philosophische Interesse. Von einer vertrautem
Beschäftigung mit philosophischen Problemen, wie sie durch die Freundschaft
und den innigen Geistesaustausch mit Schiller in ihm wachgerufen worden
war, ist nach dessen Tode nicht viel mehr zu merken. Auch hier gibt Vor¬
länder interessante Ausblicke auf das Geistesleben der ersten Jahrzehnte des
neunzehnten Jahrhunderts: Hegel und Steffens, Fichte, Schelling und Schopen¬
hauer treten uns vor Augen. Jacobi führt Goethe wieder zu seiner alten Liebe,
zu Spinoza, zurück, dem er nun aber, wie überhaupt philosophischen Systemen,
dank der durch Schiller vermittelten Einführung in die kritische Philosophie ein
besseres Verständnis entgegenbringt.

Das Verhalten unsrer beiden größten Dichter zur Philosophie: Goethes,
der nach seinem eignen Bekenntnis bei den mannigfaltigen Richtungen seines
Wesens nicht an einer Denkweise genug haben konnte, und Schillers, der Kants
Schüler geworden war, ist für ihr Verständnis überaus wichtig. Wir finden
bei Goethe tiefen Einfluß des kritischen Idealismus einerseits, immer wieder¬
kehrendes Ablenken und eigenartige Auffassungsweise andrerseits, die auf dem
unverlierbaren Gegensatz zwischen der anschauenden, immer zum Ganzen hin-
strebenden Natur des Dichters und der zergliedernden Strenge des Philosophen
beruhen, dem kritische Scheidung immer das erste Erfordernis bleibt. „Schiller,



Kurz nach dem Vorländerschen Werke ist in demselben Verlage ein Buch erschienen,
das in dem Streite zwischen Herder und Kant warm Herders Sache vertritt und ein wertvolles
Gegenstück oder auch eine Ergänzung zu „Kant—Schiller—Goethe" bietet: Herders und Kants
Ästhetik von Günther Jacobo. Der Verfasser bringt sein Werturteil über die Kalligone
und die Kritik der Urteilskraft gewissermaßen schon in, Titel durch Herders Voranstellung zum
Ausdruck.
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0083" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/302785"/>
          <fw type="header" place="top"> vorländers Aare&#x2014;Schiller&#x2014;Goethe</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_298" prev="#ID_297"> Natur" keine Feindin wahrer Philosophie war, ist gerade die vertraute Freund¬<lb/>
schaft mit Schiller, die durch den von diesem ihm nahe gebrachten Kantischen<lb/>
Kritizismus belebt und gestärkt wurde. Durch Schiller wurde Goethe Philosoph<lb/>
mit Bewußtsein; vorher war er es, ohne es zu wissen. Schiller war der<lb/>
Mentor, der den philosophischen Dämmerungszustand Goethes gelichtet, ihm die<lb/>
Philosophie zu einem notwendigen Bestandteil seines Ich gemacht hat. Seit<lb/>
der Bekanntschaft mit Schiller zählt er die Philosophie ganz anders als vorher<lb/>
zu den Gegenständen seines Interesses und Studiums.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_299"> Gegen Kant eiferte der ganze Herdersche Kreis, nicht am wenigsten Herder<lb/>
selbst, dessen gehässiger Ton Goethe abstoßen mußte; auch Jean Paul, der alte<lb/>
Klopstock, Dalberg, Vater Gleim und andre fallen gegen ihn aus, und mit der<lb/>
Feindschaft gegen Kant ist die gegen Schiller und Goethe verwachsen. Die<lb/>
Genien zeigen, daß die beiden Dioskuren mit dem Königsberger Weisen die¬<lb/>
selben Gegner haben. Es ist keineswegs ein erquickliches, aber ein ungemein<lb/>
plastisches, ja dramatisches Bild des geistigen Lebens jener Zeit, das in jener<lb/>
Fehde an uns vorüberzieht.*)</p><lb/>
          <p xml:id="ID_300"> Nach Schillers Tode trat Goethes Beschäftigung mit der Philosophie<lb/>
zurück, und es blieb nur das philosophische Interesse. Von einer vertrautem<lb/>
Beschäftigung mit philosophischen Problemen, wie sie durch die Freundschaft<lb/>
und den innigen Geistesaustausch mit Schiller in ihm wachgerufen worden<lb/>
war, ist nach dessen Tode nicht viel mehr zu merken. Auch hier gibt Vor¬<lb/>
länder interessante Ausblicke auf das Geistesleben der ersten Jahrzehnte des<lb/>
neunzehnten Jahrhunderts: Hegel und Steffens, Fichte, Schelling und Schopen¬<lb/>
hauer treten uns vor Augen. Jacobi führt Goethe wieder zu seiner alten Liebe,<lb/>
zu Spinoza, zurück, dem er nun aber, wie überhaupt philosophischen Systemen,<lb/>
dank der durch Schiller vermittelten Einführung in die kritische Philosophie ein<lb/>
besseres Verständnis entgegenbringt.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_301" next="#ID_302"> Das Verhalten unsrer beiden größten Dichter zur Philosophie: Goethes,<lb/>
der nach seinem eignen Bekenntnis bei den mannigfaltigen Richtungen seines<lb/>
Wesens nicht an einer Denkweise genug haben konnte, und Schillers, der Kants<lb/>
Schüler geworden war, ist für ihr Verständnis überaus wichtig. Wir finden<lb/>
bei Goethe tiefen Einfluß des kritischen Idealismus einerseits, immer wieder¬<lb/>
kehrendes Ablenken und eigenartige Auffassungsweise andrerseits, die auf dem<lb/>
unverlierbaren Gegensatz zwischen der anschauenden, immer zum Ganzen hin-<lb/>
strebenden Natur des Dichters und der zergliedernden Strenge des Philosophen<lb/>
beruhen, dem kritische Scheidung immer das erste Erfordernis bleibt. &#x201E;Schiller,</p><lb/>
          <note xml:id="FID_11" place="foot"> Kurz nach dem Vorländerschen Werke ist in demselben Verlage ein Buch erschienen,<lb/>
das in dem Streite zwischen Herder und Kant warm Herders Sache vertritt und ein wertvolles<lb/>
Gegenstück oder auch eine Ergänzung zu &#x201E;Kant&#x2014;Schiller&#x2014;Goethe" bietet: Herders und Kants<lb/>
Ästhetik von Günther Jacobo. Der Verfasser bringt sein Werturteil über die Kalligone<lb/>
und die Kritik der Urteilskraft gewissermaßen schon in, Titel durch Herders Voranstellung zum<lb/>
Ausdruck.</note><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0083] vorländers Aare—Schiller—Goethe Natur" keine Feindin wahrer Philosophie war, ist gerade die vertraute Freund¬ schaft mit Schiller, die durch den von diesem ihm nahe gebrachten Kantischen Kritizismus belebt und gestärkt wurde. Durch Schiller wurde Goethe Philosoph mit Bewußtsein; vorher war er es, ohne es zu wissen. Schiller war der Mentor, der den philosophischen Dämmerungszustand Goethes gelichtet, ihm die Philosophie zu einem notwendigen Bestandteil seines Ich gemacht hat. Seit der Bekanntschaft mit Schiller zählt er die Philosophie ganz anders als vorher zu den Gegenständen seines Interesses und Studiums. Gegen Kant eiferte der ganze Herdersche Kreis, nicht am wenigsten Herder selbst, dessen gehässiger Ton Goethe abstoßen mußte; auch Jean Paul, der alte Klopstock, Dalberg, Vater Gleim und andre fallen gegen ihn aus, und mit der Feindschaft gegen Kant ist die gegen Schiller und Goethe verwachsen. Die Genien zeigen, daß die beiden Dioskuren mit dem Königsberger Weisen die¬ selben Gegner haben. Es ist keineswegs ein erquickliches, aber ein ungemein plastisches, ja dramatisches Bild des geistigen Lebens jener Zeit, das in jener Fehde an uns vorüberzieht.*) Nach Schillers Tode trat Goethes Beschäftigung mit der Philosophie zurück, und es blieb nur das philosophische Interesse. Von einer vertrautem Beschäftigung mit philosophischen Problemen, wie sie durch die Freundschaft und den innigen Geistesaustausch mit Schiller in ihm wachgerufen worden war, ist nach dessen Tode nicht viel mehr zu merken. Auch hier gibt Vor¬ länder interessante Ausblicke auf das Geistesleben der ersten Jahrzehnte des neunzehnten Jahrhunderts: Hegel und Steffens, Fichte, Schelling und Schopen¬ hauer treten uns vor Augen. Jacobi führt Goethe wieder zu seiner alten Liebe, zu Spinoza, zurück, dem er nun aber, wie überhaupt philosophischen Systemen, dank der durch Schiller vermittelten Einführung in die kritische Philosophie ein besseres Verständnis entgegenbringt. Das Verhalten unsrer beiden größten Dichter zur Philosophie: Goethes, der nach seinem eignen Bekenntnis bei den mannigfaltigen Richtungen seines Wesens nicht an einer Denkweise genug haben konnte, und Schillers, der Kants Schüler geworden war, ist für ihr Verständnis überaus wichtig. Wir finden bei Goethe tiefen Einfluß des kritischen Idealismus einerseits, immer wieder¬ kehrendes Ablenken und eigenartige Auffassungsweise andrerseits, die auf dem unverlierbaren Gegensatz zwischen der anschauenden, immer zum Ganzen hin- strebenden Natur des Dichters und der zergliedernden Strenge des Philosophen beruhen, dem kritische Scheidung immer das erste Erfordernis bleibt. „Schiller, Kurz nach dem Vorländerschen Werke ist in demselben Verlage ein Buch erschienen, das in dem Streite zwischen Herder und Kant warm Herders Sache vertritt und ein wertvolles Gegenstück oder auch eine Ergänzung zu „Kant—Schiller—Goethe" bietet: Herders und Kants Ästhetik von Günther Jacobo. Der Verfasser bringt sein Werturteil über die Kalligone und die Kritik der Urteilskraft gewissermaßen schon in, Titel durch Herders Voranstellung zum Ausdruck.

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341885_302701
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341885_302701/83
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 66, 1907, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341885_302701/83>, abgerufen am 12.12.2024.