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Die Grenzboten. Jg. 66, 1907, Drittes Vierteljahr.

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vorländers Aare--Schiller--Goethe

Die historische Betrachtung, die der ohne alle Rücksicht auf Erfahrung gebildeten
Kantischen Ethik entgegensteht, lag auch Schiller fern; er huldigt, wie Vor¬
länder lichtvoll zeigt, methodisch völlig der rigoristischen Lehre seines Meisters,
erachtet aber eine Ergänzung der reinen Ethik nach der Seite des Gefühls hin
für nötig. Wilhelm von Humboldt, Schillers erster und bedeutendster Jünger,
hatte recht, wenn er in des Freundes moralischen Ansichten das recht ver-
standne Moralsystem der kritischen Philosophie sah. Auch das Verständnis
Schillers insbesondre als Dramatiker wird uns erst recht erschlossen aus seinem
Verhältnis zu Kants Ethik, dessen "poetischer, aber doch echter Jünger der
Dichter der sittlichen Gesinnung, der moralischen Erhebung und Vertiefung war.
Er ist es zumeist, der den Zug der Sittlichkeit zum Ganzen hin dramatisch
gestaltet hat; ans Vaterland, ans teure, sich anzuschließen, den sittlichen Beruf
im Wollen für die Gesamtheit zu erfüllen, das ist die Begeisterung, aus welcher
seine Dichtung stammt und welche sie erzeugt." Lazarus, der diese Worte bei
einer Schillerfeier gesprochen hat, hat in seinen "pädagogischen Briefen" auf die
Eigentümlichkeit unsrer klassischen Periode hingewiesen, daß sich alle die großen
Dichter, die sie eben zu einer klassischen erhoben, zugleich unmittelbar mit dem
Gedanken der Erziehung, mit den wichtigsten Angelegenheiten menschlicher Ent¬
wicklung beschäftigt haben. Lessing und Schiller, Goethe und Jean Paul haben
am Werke der Erziehung des Volkes unmittelbar gearbeitet: Schiller in den
Briefen über ästhetische Erziehung, der schönsten Frucht seiner philosophischen
Studien, die alle Vorzüge der Jugend und des reifern Alters trägt. In ihnen
behandelt er den Gedanken von der Möglichkeit und der Notwendigkeit der
Menschen durch die Schönheit, ein heute wieder aktuell gewordnes Thema,
das Lazarus zuerst und zwar in seiner Doktorschrift Os eäueations asstdötieg.
(1849) wieder aufnahm, und für das er in Wort und Tat vielfach eingetreten
ist. "Ganz auf Kantischer Grundlage, sagt er in einer seiner Schillerreden,
führt hier Schiller seinen Bau auf. Und wenn von dem ganzen kunstvollen
Bau in der Folge kein Stein auf dem andern bleibt; für denjenigen, der ähn¬
liche Gegenstände philosophisch betrachtet, werden auch die Quadern hinreichen,
um wieder einen neuen Bau aufzurichten, so reich an idealen treffenden Be¬
merkungen, an einer solchen Erhebung edelster menschlicher Gesinnung und
Gesittung, daß auch, was so nur zerstreut ist, ein Wertvollstes für alle Zeiten
bleibt. Wir finden hier die höchste Schätzung der Kunst und des Schönen, welche
bis dahin in einem Menschengeiste gedacht, in einem Menschenherzen empfunden
worden ist. Schiller teilt ihr die große Aufgabe zu, den Bruch der Menschheit
zu heilen, den Riß im Gemüte eines jeden auszufüllen, das Bruchstück Mensch,
welches er wäre ohne die Schönheit, zu einem Ganzen zu machen. Unermüdlich
ist er in Aufzählung der Gegensätze, denen Geist und Gemüt unterworfen sind.
Hier Harmonie zu schaffen, Vereinigung herzustellen, das sei die Aufgabe des
Schönen, und darum hänge alle wahrhafte Entwicklung und Harmonie unter
den Menschen ab von der ästhetischen Erziehung."


vorländers Aare—Schiller—Goethe

Die historische Betrachtung, die der ohne alle Rücksicht auf Erfahrung gebildeten
Kantischen Ethik entgegensteht, lag auch Schiller fern; er huldigt, wie Vor¬
länder lichtvoll zeigt, methodisch völlig der rigoristischen Lehre seines Meisters,
erachtet aber eine Ergänzung der reinen Ethik nach der Seite des Gefühls hin
für nötig. Wilhelm von Humboldt, Schillers erster und bedeutendster Jünger,
hatte recht, wenn er in des Freundes moralischen Ansichten das recht ver-
standne Moralsystem der kritischen Philosophie sah. Auch das Verständnis
Schillers insbesondre als Dramatiker wird uns erst recht erschlossen aus seinem
Verhältnis zu Kants Ethik, dessen „poetischer, aber doch echter Jünger der
Dichter der sittlichen Gesinnung, der moralischen Erhebung und Vertiefung war.
Er ist es zumeist, der den Zug der Sittlichkeit zum Ganzen hin dramatisch
gestaltet hat; ans Vaterland, ans teure, sich anzuschließen, den sittlichen Beruf
im Wollen für die Gesamtheit zu erfüllen, das ist die Begeisterung, aus welcher
seine Dichtung stammt und welche sie erzeugt." Lazarus, der diese Worte bei
einer Schillerfeier gesprochen hat, hat in seinen „pädagogischen Briefen" auf die
Eigentümlichkeit unsrer klassischen Periode hingewiesen, daß sich alle die großen
Dichter, die sie eben zu einer klassischen erhoben, zugleich unmittelbar mit dem
Gedanken der Erziehung, mit den wichtigsten Angelegenheiten menschlicher Ent¬
wicklung beschäftigt haben. Lessing und Schiller, Goethe und Jean Paul haben
am Werke der Erziehung des Volkes unmittelbar gearbeitet: Schiller in den
Briefen über ästhetische Erziehung, der schönsten Frucht seiner philosophischen
Studien, die alle Vorzüge der Jugend und des reifern Alters trägt. In ihnen
behandelt er den Gedanken von der Möglichkeit und der Notwendigkeit der
Menschen durch die Schönheit, ein heute wieder aktuell gewordnes Thema,
das Lazarus zuerst und zwar in seiner Doktorschrift Os eäueations asstdötieg.
(1849) wieder aufnahm, und für das er in Wort und Tat vielfach eingetreten
ist. „Ganz auf Kantischer Grundlage, sagt er in einer seiner Schillerreden,
führt hier Schiller seinen Bau auf. Und wenn von dem ganzen kunstvollen
Bau in der Folge kein Stein auf dem andern bleibt; für denjenigen, der ähn¬
liche Gegenstände philosophisch betrachtet, werden auch die Quadern hinreichen,
um wieder einen neuen Bau aufzurichten, so reich an idealen treffenden Be¬
merkungen, an einer solchen Erhebung edelster menschlicher Gesinnung und
Gesittung, daß auch, was so nur zerstreut ist, ein Wertvollstes für alle Zeiten
bleibt. Wir finden hier die höchste Schätzung der Kunst und des Schönen, welche
bis dahin in einem Menschengeiste gedacht, in einem Menschenherzen empfunden
worden ist. Schiller teilt ihr die große Aufgabe zu, den Bruch der Menschheit
zu heilen, den Riß im Gemüte eines jeden auszufüllen, das Bruchstück Mensch,
welches er wäre ohne die Schönheit, zu einem Ganzen zu machen. Unermüdlich
ist er in Aufzählung der Gegensätze, denen Geist und Gemüt unterworfen sind.
Hier Harmonie zu schaffen, Vereinigung herzustellen, das sei die Aufgabe des
Schönen, und darum hänge alle wahrhafte Entwicklung und Harmonie unter
den Menschen ab von der ästhetischen Erziehung."


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 66, 1907, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341885_302701/81>, abgerufen am 28.07.2024.