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Die Grenzboten. Jg. 66, 1907, Drittes Vierteljahr.

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Soziale und wirtschaftliche Kämpfe

wirtschaft gelebt hatte, das dann von Grund aus aufgewühlt nud ungeschichtet
worden war, das aber zugleich politisch noch uicht geschult und gereift war
für die große" Aufgabe" einer neuen Zeit.

Die Wirkungen konnten nicht ausbleiben. Schon im Jahre 1863 hatte
Lassalle de" Allgemeinen deutschen Arbeiterverein gegründet, dessen Programm
sich aber noch nicht wesentlich von dem des liberalen Radikalismus unterschied.
Der Verband deutscher Arbeitervereine nahm dann 1868 unter dem Vorsitze
von Bebel das internationale und revolutionäre Programm von Marx an,
und 1869 konstituierte sich in Eisenach die sozialdemokratische Arbeiterpartei.
Im Norddeutschen Bunde war ja das allgemeine Wahlrecht schon im Jahre 1867
eingeführt worden, und so konnten dem ersten gesetzgebenden Reichstage des
Norddeutschen Bundes schon sieben Sozialdemokraten angehören. Bei den
Wahlen des Jahres 1870 wurden bereits 3,3 Prozent aller Stimmen für
Sozialdemokraten abgegeben, und nun ging es reißend schnell vorwärts. Für
die revolutionäre Partei wurden Stimmen abgegeben 1877: 493258, 1884:
549990, 1887: 763128, 1890: 1427298, 1898: über zwei Millionen, 1903
drei Millionen, 1907 dreieinviertel Millionen Stimmen. Wir haben zu unsrer
Genugtuung erlebt, daß trotz dieses abermaligen Zuwachses an Stimmen die
revolutionäre Partei bei den Wahlen im Januar und Februar 1907 nicht
weniger als 38 Sitze verloren hat, weil das Bürgertum endlich die Kraft
gefunden hat, sich zusammen zu schließen und einen bedeutenden Teil der "Partei
der NichtWähler" mobil zu macheu. Aber die Tatsache, daß die Sozialdemokratie
anch jetzt wieder eine große Zahl neuer Anhänger gewonnen hat, bleibt doch
bestehn, ein Stillstand in der Entwicklung der Partei ist bisher nicht eingetreten,
und man wird also damit rechnen müssen, daß künftige Wahlen, die vielleicht
in einer weniger glücklichen Stunde stattfinden, wieder ein ungünstigeres Bild
zeigen. Auch jetzt und gerade jetzt ist also die Frage berechtigt, wie dieses
stündige Wachstum der Sozialdemokratie zu erklären ist, was getan worden ist,
es zu hindern, und was etwa noch hätte geschehen müssen, welche Fehler also
gemacht worden sind, und was in Zukunft zu geschehen hat, um diese Krankheit
unsers Volkstums zu heilen.

Es kann nicht genügen, den zunehmenden Materialismus aller Kreise des
Volks zu beklagen und in ihm die Wurzel alles Übels zu suchen zu einer Zeit,
wo das Bürgertum eben die Kraft bewiesen hat, den Einfluß der Sozialdemokratie
so stark einzuschränken, wie es geschehen ist. Durch die letzten Reichstagswahlen
ist unsre ganze politische Lage geändert worden. Jedem politisch einsichtigen ist
es längst klar gewesen, daß es ein Verbrechen wäre, an dem Reichstagswahlrecht
zu rütteln, daß schon der Versuch dazu unübersehbare Erschütterungen nach sich
ziehen müßte. Der Ausfall der letzten Wahl wird hoffentlich die wohltätige
Folge haben, daß alle unfruchtbaren und schädlichen Erörterungen über die
Änderung des Wahlrechts endgiltig verschwinden, weil der Nachweis geliefert
worden ist, daß dieses Wahlrecht, so viele unerfreuliche Nebenwirkungen es


Soziale und wirtschaftliche Kämpfe

wirtschaft gelebt hatte, das dann von Grund aus aufgewühlt nud ungeschichtet
worden war, das aber zugleich politisch noch uicht geschult und gereift war
für die große» Aufgabe» einer neuen Zeit.

Die Wirkungen konnten nicht ausbleiben. Schon im Jahre 1863 hatte
Lassalle de» Allgemeinen deutschen Arbeiterverein gegründet, dessen Programm
sich aber noch nicht wesentlich von dem des liberalen Radikalismus unterschied.
Der Verband deutscher Arbeitervereine nahm dann 1868 unter dem Vorsitze
von Bebel das internationale und revolutionäre Programm von Marx an,
und 1869 konstituierte sich in Eisenach die sozialdemokratische Arbeiterpartei.
Im Norddeutschen Bunde war ja das allgemeine Wahlrecht schon im Jahre 1867
eingeführt worden, und so konnten dem ersten gesetzgebenden Reichstage des
Norddeutschen Bundes schon sieben Sozialdemokraten angehören. Bei den
Wahlen des Jahres 1870 wurden bereits 3,3 Prozent aller Stimmen für
Sozialdemokraten abgegeben, und nun ging es reißend schnell vorwärts. Für
die revolutionäre Partei wurden Stimmen abgegeben 1877: 493258, 1884:
549990, 1887: 763128, 1890: 1427298, 1898: über zwei Millionen, 1903
drei Millionen, 1907 dreieinviertel Millionen Stimmen. Wir haben zu unsrer
Genugtuung erlebt, daß trotz dieses abermaligen Zuwachses an Stimmen die
revolutionäre Partei bei den Wahlen im Januar und Februar 1907 nicht
weniger als 38 Sitze verloren hat, weil das Bürgertum endlich die Kraft
gefunden hat, sich zusammen zu schließen und einen bedeutenden Teil der „Partei
der NichtWähler" mobil zu macheu. Aber die Tatsache, daß die Sozialdemokratie
anch jetzt wieder eine große Zahl neuer Anhänger gewonnen hat, bleibt doch
bestehn, ein Stillstand in der Entwicklung der Partei ist bisher nicht eingetreten,
und man wird also damit rechnen müssen, daß künftige Wahlen, die vielleicht
in einer weniger glücklichen Stunde stattfinden, wieder ein ungünstigeres Bild
zeigen. Auch jetzt und gerade jetzt ist also die Frage berechtigt, wie dieses
stündige Wachstum der Sozialdemokratie zu erklären ist, was getan worden ist,
es zu hindern, und was etwa noch hätte geschehen müssen, welche Fehler also
gemacht worden sind, und was in Zukunft zu geschehen hat, um diese Krankheit
unsers Volkstums zu heilen.

Es kann nicht genügen, den zunehmenden Materialismus aller Kreise des
Volks zu beklagen und in ihm die Wurzel alles Übels zu suchen zu einer Zeit,
wo das Bürgertum eben die Kraft bewiesen hat, den Einfluß der Sozialdemokratie
so stark einzuschränken, wie es geschehen ist. Durch die letzten Reichstagswahlen
ist unsre ganze politische Lage geändert worden. Jedem politisch einsichtigen ist
es längst klar gewesen, daß es ein Verbrechen wäre, an dem Reichstagswahlrecht
zu rütteln, daß schon der Versuch dazu unübersehbare Erschütterungen nach sich
ziehen müßte. Der Ausfall der letzten Wahl wird hoffentlich die wohltätige
Folge haben, daß alle unfruchtbaren und schädlichen Erörterungen über die
Änderung des Wahlrechts endgiltig verschwinden, weil der Nachweis geliefert
worden ist, daß dieses Wahlrecht, so viele unerfreuliche Nebenwirkungen es


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[0612] Soziale und wirtschaftliche Kämpfe wirtschaft gelebt hatte, das dann von Grund aus aufgewühlt nud ungeschichtet worden war, das aber zugleich politisch noch uicht geschult und gereift war für die große» Aufgabe» einer neuen Zeit. Die Wirkungen konnten nicht ausbleiben. Schon im Jahre 1863 hatte Lassalle de» Allgemeinen deutschen Arbeiterverein gegründet, dessen Programm sich aber noch nicht wesentlich von dem des liberalen Radikalismus unterschied. Der Verband deutscher Arbeitervereine nahm dann 1868 unter dem Vorsitze von Bebel das internationale und revolutionäre Programm von Marx an, und 1869 konstituierte sich in Eisenach die sozialdemokratische Arbeiterpartei. Im Norddeutschen Bunde war ja das allgemeine Wahlrecht schon im Jahre 1867 eingeführt worden, und so konnten dem ersten gesetzgebenden Reichstage des Norddeutschen Bundes schon sieben Sozialdemokraten angehören. Bei den Wahlen des Jahres 1870 wurden bereits 3,3 Prozent aller Stimmen für Sozialdemokraten abgegeben, und nun ging es reißend schnell vorwärts. Für die revolutionäre Partei wurden Stimmen abgegeben 1877: 493258, 1884: 549990, 1887: 763128, 1890: 1427298, 1898: über zwei Millionen, 1903 drei Millionen, 1907 dreieinviertel Millionen Stimmen. Wir haben zu unsrer Genugtuung erlebt, daß trotz dieses abermaligen Zuwachses an Stimmen die revolutionäre Partei bei den Wahlen im Januar und Februar 1907 nicht weniger als 38 Sitze verloren hat, weil das Bürgertum endlich die Kraft gefunden hat, sich zusammen zu schließen und einen bedeutenden Teil der „Partei der NichtWähler" mobil zu macheu. Aber die Tatsache, daß die Sozialdemokratie anch jetzt wieder eine große Zahl neuer Anhänger gewonnen hat, bleibt doch bestehn, ein Stillstand in der Entwicklung der Partei ist bisher nicht eingetreten, und man wird also damit rechnen müssen, daß künftige Wahlen, die vielleicht in einer weniger glücklichen Stunde stattfinden, wieder ein ungünstigeres Bild zeigen. Auch jetzt und gerade jetzt ist also die Frage berechtigt, wie dieses stündige Wachstum der Sozialdemokratie zu erklären ist, was getan worden ist, es zu hindern, und was etwa noch hätte geschehen müssen, welche Fehler also gemacht worden sind, und was in Zukunft zu geschehen hat, um diese Krankheit unsers Volkstums zu heilen. Es kann nicht genügen, den zunehmenden Materialismus aller Kreise des Volks zu beklagen und in ihm die Wurzel alles Übels zu suchen zu einer Zeit, wo das Bürgertum eben die Kraft bewiesen hat, den Einfluß der Sozialdemokratie so stark einzuschränken, wie es geschehen ist. Durch die letzten Reichstagswahlen ist unsre ganze politische Lage geändert worden. Jedem politisch einsichtigen ist es längst klar gewesen, daß es ein Verbrechen wäre, an dem Reichstagswahlrecht zu rütteln, daß schon der Versuch dazu unübersehbare Erschütterungen nach sich ziehen müßte. Der Ausfall der letzten Wahl wird hoffentlich die wohltätige Folge haben, daß alle unfruchtbaren und schädlichen Erörterungen über die Änderung des Wahlrechts endgiltig verschwinden, weil der Nachweis geliefert worden ist, daß dieses Wahlrecht, so viele unerfreuliche Nebenwirkungen es

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 66, 1907, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341885_302701/612>, abgerufen am 01.09.2024.