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Die Grenzboten. Jg. 66, 1907, Drittes Vierteljahr.

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Soziale und wirtschaftliche Rumpfe

auch haben möge, uns doch nicht hindern kann, zu einem erträglichen inner-
Politischen Zustande zu kommen, wenn nur die führenden Schichten des Volks
wissen, was sie wollen, und die Kraft finden, die als richtig erkannten Bahnen
zu wandeln. Gerade jetzt bei der veränderten politischen Lage ist es deshalb
angebracht, die Frage zu stellen: Was haben wir getan, die schädlichen Wirkungen
des allgemeinen, gleichen und geheimen Wahlrechts nach Möglichkeit aufzuheben,
die Massen der Wähler immun zu machen gegen das Gift der demagogischen
Verhetzung, sie reif zu machen für einen vernünftigen Gebrauch der Rechte, die
sie empfangen haben, und ihr Verständnis dafür zu wecken, daß den Rechten
Pflichten gegenüberstelln, ohne deren Erfüllung ein Staatswesen nicht gesund
bleiben kann. Den sozialen Frieden haben wir zu erreichen gesucht durch das
Riesenwerk unsrer sozialpolitischen Gesetzgebung. Auf die Bedeutung und die
Leistungen dieses einzig in der Welt dastehenden Unternehmens einzugehn ist
nicht der Zweck dieses Aufsatzes. Hier muß genügen, darauf hinzuweisen, daß
die deutschen Arbeiter die Wohltaten dieser Gesetzgebung hingenommen haben,
daß aber der Dank dafür ausgeblieben ist. Nicht zum sozialen Frieden sind
wir gelangt, sondern der Klassenhaß ist ständig gewachsen. Die Sozialdemokratie
hat die zugunsten der Arbeiter gemachten Gesetze, besonders das Gesetz über
die Krankenversicherung, im Interesse ihrer Organisation so auszunutzen ver¬
standen, daß die Gegensätze vielfach nicht ausgeglichen, sondern verschärft
worden sind. Dazu kommt, daß unsre sozialpolitische Gesetzgebung neben den,
vielen Segen, den sie geschaffen hat, als unerfreuliche Begleiterscheinung eine
neue Krankheit gebracht hat, die Rentensucht. Die weitesten Kreise unsers Volks
hat diese Krankheit befallen. Wer Jnvcilidenmarken klebt, wer der Unfall¬
versicherung angehört oder Krankenrassenbeiträge zahlt, glaubt auch Anspruch
auf eine Rente oder auf Leistungen der Krankenkasse zu haben, und wer einen
wirklich begründeten Anspruch nicht nachweisen kann, sucht sein Ziel auf Um¬
wegen zu erreichen. Heuchelei, Lug und Trug siud geradezu großgezogen worden,
und was das Schlimmste ist. das Pflichtgefühl, selbst für die eigne Zukunft
und für die der Familie zu sorgen, ist zurückgedrängt, das Verantwortlichkeits-
gefühl geschwächt worden. Rechte, aber keine Pflichten, vom Staate alles
verlangen, das ist die Parole. Wenn den: neuen Reichstage in der Thronrede
und vom Reichskanzler die Fortführung der sozialpolitischen Gesetzgebung an¬
gekündigt worden ist, so ist das gewiß mit Freude zu begrüßen, daß wir aber
auf diesem Wege allein zu gesunden politischen Verhältnissen kommen werden,
das darf man nach den bisher gemachten Erfahrungen doch kaum erwarten.
Es wird andrer Mittel und Wege bedürfen, und diese werden wir nur finden
können, wenn wir ausgehn von den Ursachen der Übelstände, um denen wir
kranken.

Wir haben in frühern Artikeln versucht, nachzuweisen, daß die krankhaften
Zustände unsers Volkslebens zurückzuführen sind auf die soziale und räumluhe
Umschichtung der Bevölkerung, die ihrerseits eine Folge der überstürzten


Soziale und wirtschaftliche Rumpfe

auch haben möge, uns doch nicht hindern kann, zu einem erträglichen inner-
Politischen Zustande zu kommen, wenn nur die führenden Schichten des Volks
wissen, was sie wollen, und die Kraft finden, die als richtig erkannten Bahnen
zu wandeln. Gerade jetzt bei der veränderten politischen Lage ist es deshalb
angebracht, die Frage zu stellen: Was haben wir getan, die schädlichen Wirkungen
des allgemeinen, gleichen und geheimen Wahlrechts nach Möglichkeit aufzuheben,
die Massen der Wähler immun zu machen gegen das Gift der demagogischen
Verhetzung, sie reif zu machen für einen vernünftigen Gebrauch der Rechte, die
sie empfangen haben, und ihr Verständnis dafür zu wecken, daß den Rechten
Pflichten gegenüberstelln, ohne deren Erfüllung ein Staatswesen nicht gesund
bleiben kann. Den sozialen Frieden haben wir zu erreichen gesucht durch das
Riesenwerk unsrer sozialpolitischen Gesetzgebung. Auf die Bedeutung und die
Leistungen dieses einzig in der Welt dastehenden Unternehmens einzugehn ist
nicht der Zweck dieses Aufsatzes. Hier muß genügen, darauf hinzuweisen, daß
die deutschen Arbeiter die Wohltaten dieser Gesetzgebung hingenommen haben,
daß aber der Dank dafür ausgeblieben ist. Nicht zum sozialen Frieden sind
wir gelangt, sondern der Klassenhaß ist ständig gewachsen. Die Sozialdemokratie
hat die zugunsten der Arbeiter gemachten Gesetze, besonders das Gesetz über
die Krankenversicherung, im Interesse ihrer Organisation so auszunutzen ver¬
standen, daß die Gegensätze vielfach nicht ausgeglichen, sondern verschärft
worden sind. Dazu kommt, daß unsre sozialpolitische Gesetzgebung neben den,
vielen Segen, den sie geschaffen hat, als unerfreuliche Begleiterscheinung eine
neue Krankheit gebracht hat, die Rentensucht. Die weitesten Kreise unsers Volks
hat diese Krankheit befallen. Wer Jnvcilidenmarken klebt, wer der Unfall¬
versicherung angehört oder Krankenrassenbeiträge zahlt, glaubt auch Anspruch
auf eine Rente oder auf Leistungen der Krankenkasse zu haben, und wer einen
wirklich begründeten Anspruch nicht nachweisen kann, sucht sein Ziel auf Um¬
wegen zu erreichen. Heuchelei, Lug und Trug siud geradezu großgezogen worden,
und was das Schlimmste ist. das Pflichtgefühl, selbst für die eigne Zukunft
und für die der Familie zu sorgen, ist zurückgedrängt, das Verantwortlichkeits-
gefühl geschwächt worden. Rechte, aber keine Pflichten, vom Staate alles
verlangen, das ist die Parole. Wenn den: neuen Reichstage in der Thronrede
und vom Reichskanzler die Fortführung der sozialpolitischen Gesetzgebung an¬
gekündigt worden ist, so ist das gewiß mit Freude zu begrüßen, daß wir aber
auf diesem Wege allein zu gesunden politischen Verhältnissen kommen werden,
das darf man nach den bisher gemachten Erfahrungen doch kaum erwarten.
Es wird andrer Mittel und Wege bedürfen, und diese werden wir nur finden
können, wenn wir ausgehn von den Ursachen der Übelstände, um denen wir
kranken.

Wir haben in frühern Artikeln versucht, nachzuweisen, daß die krankhaften
Zustände unsers Volkslebens zurückzuführen sind auf die soziale und räumluhe
Umschichtung der Bevölkerung, die ihrerseits eine Folge der überstürzten


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[0613] Soziale und wirtschaftliche Rumpfe auch haben möge, uns doch nicht hindern kann, zu einem erträglichen inner- Politischen Zustande zu kommen, wenn nur die führenden Schichten des Volks wissen, was sie wollen, und die Kraft finden, die als richtig erkannten Bahnen zu wandeln. Gerade jetzt bei der veränderten politischen Lage ist es deshalb angebracht, die Frage zu stellen: Was haben wir getan, die schädlichen Wirkungen des allgemeinen, gleichen und geheimen Wahlrechts nach Möglichkeit aufzuheben, die Massen der Wähler immun zu machen gegen das Gift der demagogischen Verhetzung, sie reif zu machen für einen vernünftigen Gebrauch der Rechte, die sie empfangen haben, und ihr Verständnis dafür zu wecken, daß den Rechten Pflichten gegenüberstelln, ohne deren Erfüllung ein Staatswesen nicht gesund bleiben kann. Den sozialen Frieden haben wir zu erreichen gesucht durch das Riesenwerk unsrer sozialpolitischen Gesetzgebung. Auf die Bedeutung und die Leistungen dieses einzig in der Welt dastehenden Unternehmens einzugehn ist nicht der Zweck dieses Aufsatzes. Hier muß genügen, darauf hinzuweisen, daß die deutschen Arbeiter die Wohltaten dieser Gesetzgebung hingenommen haben, daß aber der Dank dafür ausgeblieben ist. Nicht zum sozialen Frieden sind wir gelangt, sondern der Klassenhaß ist ständig gewachsen. Die Sozialdemokratie hat die zugunsten der Arbeiter gemachten Gesetze, besonders das Gesetz über die Krankenversicherung, im Interesse ihrer Organisation so auszunutzen ver¬ standen, daß die Gegensätze vielfach nicht ausgeglichen, sondern verschärft worden sind. Dazu kommt, daß unsre sozialpolitische Gesetzgebung neben den, vielen Segen, den sie geschaffen hat, als unerfreuliche Begleiterscheinung eine neue Krankheit gebracht hat, die Rentensucht. Die weitesten Kreise unsers Volks hat diese Krankheit befallen. Wer Jnvcilidenmarken klebt, wer der Unfall¬ versicherung angehört oder Krankenrassenbeiträge zahlt, glaubt auch Anspruch auf eine Rente oder auf Leistungen der Krankenkasse zu haben, und wer einen wirklich begründeten Anspruch nicht nachweisen kann, sucht sein Ziel auf Um¬ wegen zu erreichen. Heuchelei, Lug und Trug siud geradezu großgezogen worden, und was das Schlimmste ist. das Pflichtgefühl, selbst für die eigne Zukunft und für die der Familie zu sorgen, ist zurückgedrängt, das Verantwortlichkeits- gefühl geschwächt worden. Rechte, aber keine Pflichten, vom Staate alles verlangen, das ist die Parole. Wenn den: neuen Reichstage in der Thronrede und vom Reichskanzler die Fortführung der sozialpolitischen Gesetzgebung an¬ gekündigt worden ist, so ist das gewiß mit Freude zu begrüßen, daß wir aber auf diesem Wege allein zu gesunden politischen Verhältnissen kommen werden, das darf man nach den bisher gemachten Erfahrungen doch kaum erwarten. Es wird andrer Mittel und Wege bedürfen, und diese werden wir nur finden können, wenn wir ausgehn von den Ursachen der Übelstände, um denen wir kranken. Wir haben in frühern Artikeln versucht, nachzuweisen, daß die krankhaften Zustände unsers Volkslebens zurückzuführen sind auf die soziale und räumluhe Umschichtung der Bevölkerung, die ihrerseits eine Folge der überstürzten

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 66, 1907, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341885_302701/613>, abgerufen am 01.09.2024.