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Die Grenzboten. Jg. 66, 1907, Drittes Vierteljahr.

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Soziale und wirtschaftliche Aämpfe

Gladstones Reform von 1884 übertrug dann die in den Städten ein¬
geführten Wahlrcchtserweiterungen auch auf das platte Land. Von allgemeinem
Wahlrecht war keine Rede. Schon die äußere Entwicklungsgeschichte des aktiven
Wahlrechts zum Unterhause, sagt Hatschek*). zeigt den innigen Zusammenhang
dieses Rechts mit der realen Grundlage, Grund und Boden. Das aktive Wahl¬
recht ist schon seit früher Zeit als eine Pertinenz und ein Annex des Grund¬
besitzes, als ein im Grundbesitz steckender Besitz aufgefaßt worden und wird
auch heute uoch so aufgefaßt. Als das radikal gesinnte Haus Cromwells die
Einführung des allgemeinen Wahlrechts verlangte, wurde die Forderung vom
Parlament zurückgewiesen mit der Bemerkung, das Wahlrecht sei Property,
sei Eigentum oder eine aus dem Eigentum fließende Befugnis. Eigentum in
diesem Sinne ist aber für den Engländer Grundeigentum, nur daß der Begriff
des Grundeigentums in den Nesormgesetzen eine weitere Auslegung erfahren
hat. Wahlberechtigungen auf der Grundlage von beweglichem Vermögen nennen
die Engländer spöttisch taro^-kranenisW, Phantasiewahlrechte, und als Disraeli
versuchte, ein solches Wahlrecht einzuführen, scheiterte dieser Versuch.

In Deutschland ist jeder fünfuudzwanzigjührige Mann wahlberechtigt, der
nicht unter Vormundschaft steht, sich nicht im Konkurse befindet, der keine
Armenunterstützung empfängt und den Genuß der staatsbürgerlichen Rechte
nicht durch richterliches Erkenntnis verloren hat; andre Schutzwehren gegen
Mißbrauch des Wahlrechts aufzurichten fand man nicht für nötig. In England
sind alle vom Wahlrechte ausgeschlossen, die besitzlos sind und kein Interesse
an der Erhaltung des Staats haben, die also bei einer Umwälzung nur ge¬
winnen können: in Deutschland geben die besitzlosen Massen den Ausschlag.
Die doktrinären Liberalen Deutschlands, die es lieben, immer mehr Rechte und
Freiheiten zu fordern, haben sich von jeher auf England und das freiheitliche
englische Verfassungslebcn berufen. Sie haben es wohl übersehen, die Ent¬
wicklung des englischen Wahlrechts zu studieren, als sie Bismarck zwangen, bei
Einführung des Reichstagswahlrechts noch mehr zu gewähren, als er schon zu
gewähren bereit war, und sie sind ihrem englischen Vorbilde auch jetzt wohl
nicht getreu, wenn sie sich bemühen, das Neichstagswahlrecht auch noch in den
Bundesstaaten einzuführen.

Daß das allgemeine gleiche Wahlrecht das ungleichste aller Wahlrechte
ist. darüber kann doch kein Zweifel bestehn. Es geht zurück auf Rousseaus
Fiktion von der Gleichheit der Menschen, während doch jeder Tag lehrt, wie
ungleich die Menschen sind. Nicht die zur Herrschaft berufne gebildete Minder¬
heit gibt den Ausschlag, sondern die Massen tun es, und es fordert dieses
Wahlrecht geradezu heraus, die Massen demagogisch zu umschmeicheln. Es
Uegt aber auf der Hand, daß Demagogen um so leichtere Arbeit haben mußten
bei einem Volke, das bis vor kurzem in einem Zustande binnenstaatlicher Klein-



Dr. Julius Hatschek, Handbuch des öffentlichen Rechtes, IV, I. S, 250 ff.
Soziale und wirtschaftliche Aämpfe

Gladstones Reform von 1884 übertrug dann die in den Städten ein¬
geführten Wahlrcchtserweiterungen auch auf das platte Land. Von allgemeinem
Wahlrecht war keine Rede. Schon die äußere Entwicklungsgeschichte des aktiven
Wahlrechts zum Unterhause, sagt Hatschek*). zeigt den innigen Zusammenhang
dieses Rechts mit der realen Grundlage, Grund und Boden. Das aktive Wahl¬
recht ist schon seit früher Zeit als eine Pertinenz und ein Annex des Grund¬
besitzes, als ein im Grundbesitz steckender Besitz aufgefaßt worden und wird
auch heute uoch so aufgefaßt. Als das radikal gesinnte Haus Cromwells die
Einführung des allgemeinen Wahlrechts verlangte, wurde die Forderung vom
Parlament zurückgewiesen mit der Bemerkung, das Wahlrecht sei Property,
sei Eigentum oder eine aus dem Eigentum fließende Befugnis. Eigentum in
diesem Sinne ist aber für den Engländer Grundeigentum, nur daß der Begriff
des Grundeigentums in den Nesormgesetzen eine weitere Auslegung erfahren
hat. Wahlberechtigungen auf der Grundlage von beweglichem Vermögen nennen
die Engländer spöttisch taro^-kranenisW, Phantasiewahlrechte, und als Disraeli
versuchte, ein solches Wahlrecht einzuführen, scheiterte dieser Versuch.

In Deutschland ist jeder fünfuudzwanzigjührige Mann wahlberechtigt, der
nicht unter Vormundschaft steht, sich nicht im Konkurse befindet, der keine
Armenunterstützung empfängt und den Genuß der staatsbürgerlichen Rechte
nicht durch richterliches Erkenntnis verloren hat; andre Schutzwehren gegen
Mißbrauch des Wahlrechts aufzurichten fand man nicht für nötig. In England
sind alle vom Wahlrechte ausgeschlossen, die besitzlos sind und kein Interesse
an der Erhaltung des Staats haben, die also bei einer Umwälzung nur ge¬
winnen können: in Deutschland geben die besitzlosen Massen den Ausschlag.
Die doktrinären Liberalen Deutschlands, die es lieben, immer mehr Rechte und
Freiheiten zu fordern, haben sich von jeher auf England und das freiheitliche
englische Verfassungslebcn berufen. Sie haben es wohl übersehen, die Ent¬
wicklung des englischen Wahlrechts zu studieren, als sie Bismarck zwangen, bei
Einführung des Reichstagswahlrechts noch mehr zu gewähren, als er schon zu
gewähren bereit war, und sie sind ihrem englischen Vorbilde auch jetzt wohl
nicht getreu, wenn sie sich bemühen, das Neichstagswahlrecht auch noch in den
Bundesstaaten einzuführen.

Daß das allgemeine gleiche Wahlrecht das ungleichste aller Wahlrechte
ist. darüber kann doch kein Zweifel bestehn. Es geht zurück auf Rousseaus
Fiktion von der Gleichheit der Menschen, während doch jeder Tag lehrt, wie
ungleich die Menschen sind. Nicht die zur Herrschaft berufne gebildete Minder¬
heit gibt den Ausschlag, sondern die Massen tun es, und es fordert dieses
Wahlrecht geradezu heraus, die Massen demagogisch zu umschmeicheln. Es
Uegt aber auf der Hand, daß Demagogen um so leichtere Arbeit haben mußten
bei einem Volke, das bis vor kurzem in einem Zustande binnenstaatlicher Klein-



Dr. Julius Hatschek, Handbuch des öffentlichen Rechtes, IV, I. S, 250 ff.
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[0611] Soziale und wirtschaftliche Aämpfe Gladstones Reform von 1884 übertrug dann die in den Städten ein¬ geführten Wahlrcchtserweiterungen auch auf das platte Land. Von allgemeinem Wahlrecht war keine Rede. Schon die äußere Entwicklungsgeschichte des aktiven Wahlrechts zum Unterhause, sagt Hatschek*). zeigt den innigen Zusammenhang dieses Rechts mit der realen Grundlage, Grund und Boden. Das aktive Wahl¬ recht ist schon seit früher Zeit als eine Pertinenz und ein Annex des Grund¬ besitzes, als ein im Grundbesitz steckender Besitz aufgefaßt worden und wird auch heute uoch so aufgefaßt. Als das radikal gesinnte Haus Cromwells die Einführung des allgemeinen Wahlrechts verlangte, wurde die Forderung vom Parlament zurückgewiesen mit der Bemerkung, das Wahlrecht sei Property, sei Eigentum oder eine aus dem Eigentum fließende Befugnis. Eigentum in diesem Sinne ist aber für den Engländer Grundeigentum, nur daß der Begriff des Grundeigentums in den Nesormgesetzen eine weitere Auslegung erfahren hat. Wahlberechtigungen auf der Grundlage von beweglichem Vermögen nennen die Engländer spöttisch taro^-kranenisW, Phantasiewahlrechte, und als Disraeli versuchte, ein solches Wahlrecht einzuführen, scheiterte dieser Versuch. In Deutschland ist jeder fünfuudzwanzigjührige Mann wahlberechtigt, der nicht unter Vormundschaft steht, sich nicht im Konkurse befindet, der keine Armenunterstützung empfängt und den Genuß der staatsbürgerlichen Rechte nicht durch richterliches Erkenntnis verloren hat; andre Schutzwehren gegen Mißbrauch des Wahlrechts aufzurichten fand man nicht für nötig. In England sind alle vom Wahlrechte ausgeschlossen, die besitzlos sind und kein Interesse an der Erhaltung des Staats haben, die also bei einer Umwälzung nur ge¬ winnen können: in Deutschland geben die besitzlosen Massen den Ausschlag. Die doktrinären Liberalen Deutschlands, die es lieben, immer mehr Rechte und Freiheiten zu fordern, haben sich von jeher auf England und das freiheitliche englische Verfassungslebcn berufen. Sie haben es wohl übersehen, die Ent¬ wicklung des englischen Wahlrechts zu studieren, als sie Bismarck zwangen, bei Einführung des Reichstagswahlrechts noch mehr zu gewähren, als er schon zu gewähren bereit war, und sie sind ihrem englischen Vorbilde auch jetzt wohl nicht getreu, wenn sie sich bemühen, das Neichstagswahlrecht auch noch in den Bundesstaaten einzuführen. Daß das allgemeine gleiche Wahlrecht das ungleichste aller Wahlrechte ist. darüber kann doch kein Zweifel bestehn. Es geht zurück auf Rousseaus Fiktion von der Gleichheit der Menschen, während doch jeder Tag lehrt, wie ungleich die Menschen sind. Nicht die zur Herrschaft berufne gebildete Minder¬ heit gibt den Ausschlag, sondern die Massen tun es, und es fordert dieses Wahlrecht geradezu heraus, die Massen demagogisch zu umschmeicheln. Es Uegt aber auf der Hand, daß Demagogen um so leichtere Arbeit haben mußten bei einem Volke, das bis vor kurzem in einem Zustande binnenstaatlicher Klein- Dr. Julius Hatschek, Handbuch des öffentlichen Rechtes, IV, I. S, 250 ff.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 66, 1907, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341885_302701/611>, abgerufen am 01.09.2024.