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Die Grenzboten. Jg. 66, 1907, Drittes Vierteljahr.

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Über Machtfragen

pät und aus wirren Stürmen ist vor vier Jahrzehnten das Deutsche
Reich entsprossen mit einer Schnelligkeit und Herrlichkeit, die das
Volk mit einem Rausche der Begeisterung erfüllte. Aber Goethe
sagt schon in Wilhelm Meisters Lehrsahren: "Das Geschehene hat
auf die Gemüter der meisten eine unwiderstehliche Gewalt, und
was uns unmöglich schien, nimmt sogleich, als es geschehen ist, neben dem Ge¬
meinen seinen Platz ein." Nur zu rasch ist der Rausch der Begeisterung ver¬
flogen, die jüngere Generation hat ihn überhaupt nicht erlebt, die Mehrzahl der
ältern hat nur einen Jugendeindruck davon, und die Zahl der sechzigjährigen
und darüber, die persönlich angetan und mitgelitten haben, nimmt rasch ab.
Was vorher gewesen ist, wissen nur uoch wenige aus bewußtem Erlebnis, die
jetzt Lebenden nehmen das Reich als etwas Selbstverständliches hin, an dem
man sogar schon oben und unten ein wenig wackeln könne. Die Tiefe einer
großen Glücksempfindung über den ersten Frühlingsreiz des Reichs haben sie
nicht empfunden, und darum bestehn sie nicht immer die mannigfachen Prüfungen,
die an das Vaterland herantreten, und bei denen wir zu beweisen haben, ob
unsre politische Erkenntnis jener Höhe des Glücks gewachsen ist, mit der die
Vorsehung unser Volk gesegnet hat. Wäre es sonst möglich, daß die öffent¬
liche Stimmung seit Jahren zwischen einer gewissen Prahlerei und dann wieder
einer starken Nervosität gegenüber dem Auslande, zwischen Hurrastimmnng und
Reichsverdrossenheit hin und her pendelt? Die Pflicht der ernsten Tagesarbeit
ist an uns herangetreten, den blühenden Baun,, den die Anstrengung unsrer
eignen Väter in einem öde erscheinenden Boden gepflanzt hat, vor Stürmen
und andern Gefahren zu behüten und ihn sorgsam zu Pflegen, damit er die
erhofften Früchte bringe; denn ohne Pflege trägt kein Fruchtbaum, man darf
ihn auch nicht verwildem lassen oder nach Belieben daran herumschnitteln. Man
muß sein Wesen kennen und ihn nach dieser Erkenntnis, nicht aber nach Lehr¬
meinungen behandeln. Das Deutsche Reich ist eben ein ganz besondrer Baum,
der nach deutscher Weise behandelt werden muß und weder einen französischen.


Grenzboten III 1907 s


Über Machtfragen

pät und aus wirren Stürmen ist vor vier Jahrzehnten das Deutsche
Reich entsprossen mit einer Schnelligkeit und Herrlichkeit, die das
Volk mit einem Rausche der Begeisterung erfüllte. Aber Goethe
sagt schon in Wilhelm Meisters Lehrsahren: „Das Geschehene hat
auf die Gemüter der meisten eine unwiderstehliche Gewalt, und
was uns unmöglich schien, nimmt sogleich, als es geschehen ist, neben dem Ge¬
meinen seinen Platz ein." Nur zu rasch ist der Rausch der Begeisterung ver¬
flogen, die jüngere Generation hat ihn überhaupt nicht erlebt, die Mehrzahl der
ältern hat nur einen Jugendeindruck davon, und die Zahl der sechzigjährigen
und darüber, die persönlich angetan und mitgelitten haben, nimmt rasch ab.
Was vorher gewesen ist, wissen nur uoch wenige aus bewußtem Erlebnis, die
jetzt Lebenden nehmen das Reich als etwas Selbstverständliches hin, an dem
man sogar schon oben und unten ein wenig wackeln könne. Die Tiefe einer
großen Glücksempfindung über den ersten Frühlingsreiz des Reichs haben sie
nicht empfunden, und darum bestehn sie nicht immer die mannigfachen Prüfungen,
die an das Vaterland herantreten, und bei denen wir zu beweisen haben, ob
unsre politische Erkenntnis jener Höhe des Glücks gewachsen ist, mit der die
Vorsehung unser Volk gesegnet hat. Wäre es sonst möglich, daß die öffent¬
liche Stimmung seit Jahren zwischen einer gewissen Prahlerei und dann wieder
einer starken Nervosität gegenüber dem Auslande, zwischen Hurrastimmnng und
Reichsverdrossenheit hin und her pendelt? Die Pflicht der ernsten Tagesarbeit
ist an uns herangetreten, den blühenden Baun,, den die Anstrengung unsrer
eignen Väter in einem öde erscheinenden Boden gepflanzt hat, vor Stürmen
und andern Gefahren zu behüten und ihn sorgsam zu Pflegen, damit er die
erhofften Früchte bringe; denn ohne Pflege trägt kein Fruchtbaum, man darf
ihn auch nicht verwildem lassen oder nach Belieben daran herumschnitteln. Man
muß sein Wesen kennen und ihn nach dieser Erkenntnis, nicht aber nach Lehr¬
meinungen behandeln. Das Deutsche Reich ist eben ein ganz besondrer Baum,
der nach deutscher Weise behandelt werden muß und weder einen französischen.


Grenzboten III 1907 s
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[0061] [Abbildung] Über Machtfragen pät und aus wirren Stürmen ist vor vier Jahrzehnten das Deutsche Reich entsprossen mit einer Schnelligkeit und Herrlichkeit, die das Volk mit einem Rausche der Begeisterung erfüllte. Aber Goethe sagt schon in Wilhelm Meisters Lehrsahren: „Das Geschehene hat auf die Gemüter der meisten eine unwiderstehliche Gewalt, und was uns unmöglich schien, nimmt sogleich, als es geschehen ist, neben dem Ge¬ meinen seinen Platz ein." Nur zu rasch ist der Rausch der Begeisterung ver¬ flogen, die jüngere Generation hat ihn überhaupt nicht erlebt, die Mehrzahl der ältern hat nur einen Jugendeindruck davon, und die Zahl der sechzigjährigen und darüber, die persönlich angetan und mitgelitten haben, nimmt rasch ab. Was vorher gewesen ist, wissen nur uoch wenige aus bewußtem Erlebnis, die jetzt Lebenden nehmen das Reich als etwas Selbstverständliches hin, an dem man sogar schon oben und unten ein wenig wackeln könne. Die Tiefe einer großen Glücksempfindung über den ersten Frühlingsreiz des Reichs haben sie nicht empfunden, und darum bestehn sie nicht immer die mannigfachen Prüfungen, die an das Vaterland herantreten, und bei denen wir zu beweisen haben, ob unsre politische Erkenntnis jener Höhe des Glücks gewachsen ist, mit der die Vorsehung unser Volk gesegnet hat. Wäre es sonst möglich, daß die öffent¬ liche Stimmung seit Jahren zwischen einer gewissen Prahlerei und dann wieder einer starken Nervosität gegenüber dem Auslande, zwischen Hurrastimmnng und Reichsverdrossenheit hin und her pendelt? Die Pflicht der ernsten Tagesarbeit ist an uns herangetreten, den blühenden Baun,, den die Anstrengung unsrer eignen Väter in einem öde erscheinenden Boden gepflanzt hat, vor Stürmen und andern Gefahren zu behüten und ihn sorgsam zu Pflegen, damit er die erhofften Früchte bringe; denn ohne Pflege trägt kein Fruchtbaum, man darf ihn auch nicht verwildem lassen oder nach Belieben daran herumschnitteln. Man muß sein Wesen kennen und ihn nach dieser Erkenntnis, nicht aber nach Lehr¬ meinungen behandeln. Das Deutsche Reich ist eben ein ganz besondrer Baum, der nach deutscher Weise behandelt werden muß und weder einen französischen. Grenzboten III 1907 s

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 66, 1907, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341885_302701/61>, abgerufen am 12.12.2024.