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Die Grenzboten. Jg. 66, 1907, Drittes Vierteljahr.

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solchen nationalen Bewegung gegenüber bestimmte Grenzen festgehalten werden.
So kann das Streben der jungen Ägypter nach höhern Ämtern im Regierungs-
dienst, die jetzt in den Händen von Engländern sind, keineswegs von der Hand
gewiesen werden. Etwas andres ist es dagegen mit der im engern Sinne
politischen Seite des nationalen Programms, dem Verlangen nach größerer
Ausdehnung parlamentarischer Einrichtungen.

Über die tatsächlich vorhcmdne Ausdehnung der parlamentarischen Ein¬
richtungen in Ägypten wird weiter unten noch gesprochen werden -- hier soll
zunächst nur die Frage erörtert werden, inwieweit eine Ausdehnung der Be¬
fugnisse des "Gesetzgebenden Rats und der gesetzgebenden Versammlung"
möglich und wünschenswert erscheint.

Wenn auch die ägyptische Nationalpartei ihr Programm keineswegs genau
festgestellt hat, so scheint sie doch die Schaffung einer Einrichtung ähnlich dein
Haus der Gemeinen in England anzustreben. Die Absicht, daneben auch eine
zweite Kammer, ähnlich dem Hause der Lords, oder aber nur eine einzige, die
ganze Macht in sich vereinigende Kammer zu schaffen, ließ sich noch nicht
deutlich erkennen. Ebenso ist es fraglich, ob dieses angestrebte ägyptische
Parlament seine gesetzgebende Tätigkeit auf alle Einwohner des Landes oder
nur auf die Eingebornen ausdehnen soll. Der erste Gedanke würde die Zu¬
stimmung aller Mächte nötig machen, die sicher nicht zu bekommen wäre. Ab¬
gesehen aber von diesen freilich höchst wichtigen Erwägungen geht allem Anschein
nach die Absicht dahin, erstens ein der Kammer verantwortliches und von ihrer
Mehrheit abhängiges Ministerium zu schaffen, und zweitens, die gesamte Auf¬
sicht über die Finanzen des Landes dieser Kammer zu übertragen. Während
aber die Annahme des ersten Vorschlags ein reines Chaos zur Folge haben
müßte, würde die Einführung des zweiten fast unvermeidlich zum Staatsbaukerott
führen. Die ganze Frage läßt sich überhaupt nur mit Mühe ernsthaft erörtern.
Wie kann in einem Lande, das durch Jahrhunderte unter den schlimmsten
Formen einer Mißregierung zu leiden hatte, und in dem vor zehn Jahren (1897)
nur 9,5 vom Hundert der Männer und 3 vom Hundert der Frauen lesen und
schreiben konnten, plötzlich die Fähigkeit vorhanden sein, das volle Recht der
Selbstverwaltung zum Segen für sich und andre ausüben zu können? So er¬
scheint heute das Programm der "nationalen Partei" völlig undurchführbar.

Hat somit der "ägyptische Nationalismus" in der Form, wie ihn die
ägyptische Nationalpartei vertritt, wenig oder keine Aussicht auf Erfolge, so
gilt das nicht in gleicher Weise für ein andres Ideal, wie es die gesamte
Nation, einschließlich praktisch denkender Politiker, wohl anstreben könnte. Ein
solches Ideal aber sieht Lord Cromer selbst in der Zusammenfassung aller
Bewohner des Landes ohne Rücksicht auf Rasse, Religion oder Herkunft zu
einer einheitlichen ägyptischen Nation. Der Verwirklichung dieses Ideals stehn
heute freilich noch die "Kapitulationen" in ihrer gegenwärtigen Gestalt ent¬
gegen, die eine Trennung nicht nur zwischen Eingebornen und Europäern,


Ägypten im Jahre ^9^6

solchen nationalen Bewegung gegenüber bestimmte Grenzen festgehalten werden.
So kann das Streben der jungen Ägypter nach höhern Ämtern im Regierungs-
dienst, die jetzt in den Händen von Engländern sind, keineswegs von der Hand
gewiesen werden. Etwas andres ist es dagegen mit der im engern Sinne
politischen Seite des nationalen Programms, dem Verlangen nach größerer
Ausdehnung parlamentarischer Einrichtungen.

Über die tatsächlich vorhcmdne Ausdehnung der parlamentarischen Ein¬
richtungen in Ägypten wird weiter unten noch gesprochen werden — hier soll
zunächst nur die Frage erörtert werden, inwieweit eine Ausdehnung der Be¬
fugnisse des „Gesetzgebenden Rats und der gesetzgebenden Versammlung"
möglich und wünschenswert erscheint.

Wenn auch die ägyptische Nationalpartei ihr Programm keineswegs genau
festgestellt hat, so scheint sie doch die Schaffung einer Einrichtung ähnlich dein
Haus der Gemeinen in England anzustreben. Die Absicht, daneben auch eine
zweite Kammer, ähnlich dem Hause der Lords, oder aber nur eine einzige, die
ganze Macht in sich vereinigende Kammer zu schaffen, ließ sich noch nicht
deutlich erkennen. Ebenso ist es fraglich, ob dieses angestrebte ägyptische
Parlament seine gesetzgebende Tätigkeit auf alle Einwohner des Landes oder
nur auf die Eingebornen ausdehnen soll. Der erste Gedanke würde die Zu¬
stimmung aller Mächte nötig machen, die sicher nicht zu bekommen wäre. Ab¬
gesehen aber von diesen freilich höchst wichtigen Erwägungen geht allem Anschein
nach die Absicht dahin, erstens ein der Kammer verantwortliches und von ihrer
Mehrheit abhängiges Ministerium zu schaffen, und zweitens, die gesamte Auf¬
sicht über die Finanzen des Landes dieser Kammer zu übertragen. Während
aber die Annahme des ersten Vorschlags ein reines Chaos zur Folge haben
müßte, würde die Einführung des zweiten fast unvermeidlich zum Staatsbaukerott
führen. Die ganze Frage läßt sich überhaupt nur mit Mühe ernsthaft erörtern.
Wie kann in einem Lande, das durch Jahrhunderte unter den schlimmsten
Formen einer Mißregierung zu leiden hatte, und in dem vor zehn Jahren (1897)
nur 9,5 vom Hundert der Männer und 3 vom Hundert der Frauen lesen und
schreiben konnten, plötzlich die Fähigkeit vorhanden sein, das volle Recht der
Selbstverwaltung zum Segen für sich und andre ausüben zu können? So er¬
scheint heute das Programm der „nationalen Partei" völlig undurchführbar.

Hat somit der „ägyptische Nationalismus" in der Form, wie ihn die
ägyptische Nationalpartei vertritt, wenig oder keine Aussicht auf Erfolge, so
gilt das nicht in gleicher Weise für ein andres Ideal, wie es die gesamte
Nation, einschließlich praktisch denkender Politiker, wohl anstreben könnte. Ein
solches Ideal aber sieht Lord Cromer selbst in der Zusammenfassung aller
Bewohner des Landes ohne Rücksicht auf Rasse, Religion oder Herkunft zu
einer einheitlichen ägyptischen Nation. Der Verwirklichung dieses Ideals stehn
heute freilich noch die „Kapitulationen" in ihrer gegenwärtigen Gestalt ent¬
gegen, die eine Trennung nicht nur zwischen Eingebornen und Europäern,


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[0444] Ägypten im Jahre ^9^6 solchen nationalen Bewegung gegenüber bestimmte Grenzen festgehalten werden. So kann das Streben der jungen Ägypter nach höhern Ämtern im Regierungs- dienst, die jetzt in den Händen von Engländern sind, keineswegs von der Hand gewiesen werden. Etwas andres ist es dagegen mit der im engern Sinne politischen Seite des nationalen Programms, dem Verlangen nach größerer Ausdehnung parlamentarischer Einrichtungen. Über die tatsächlich vorhcmdne Ausdehnung der parlamentarischen Ein¬ richtungen in Ägypten wird weiter unten noch gesprochen werden — hier soll zunächst nur die Frage erörtert werden, inwieweit eine Ausdehnung der Be¬ fugnisse des „Gesetzgebenden Rats und der gesetzgebenden Versammlung" möglich und wünschenswert erscheint. Wenn auch die ägyptische Nationalpartei ihr Programm keineswegs genau festgestellt hat, so scheint sie doch die Schaffung einer Einrichtung ähnlich dein Haus der Gemeinen in England anzustreben. Die Absicht, daneben auch eine zweite Kammer, ähnlich dem Hause der Lords, oder aber nur eine einzige, die ganze Macht in sich vereinigende Kammer zu schaffen, ließ sich noch nicht deutlich erkennen. Ebenso ist es fraglich, ob dieses angestrebte ägyptische Parlament seine gesetzgebende Tätigkeit auf alle Einwohner des Landes oder nur auf die Eingebornen ausdehnen soll. Der erste Gedanke würde die Zu¬ stimmung aller Mächte nötig machen, die sicher nicht zu bekommen wäre. Ab¬ gesehen aber von diesen freilich höchst wichtigen Erwägungen geht allem Anschein nach die Absicht dahin, erstens ein der Kammer verantwortliches und von ihrer Mehrheit abhängiges Ministerium zu schaffen, und zweitens, die gesamte Auf¬ sicht über die Finanzen des Landes dieser Kammer zu übertragen. Während aber die Annahme des ersten Vorschlags ein reines Chaos zur Folge haben müßte, würde die Einführung des zweiten fast unvermeidlich zum Staatsbaukerott führen. Die ganze Frage läßt sich überhaupt nur mit Mühe ernsthaft erörtern. Wie kann in einem Lande, das durch Jahrhunderte unter den schlimmsten Formen einer Mißregierung zu leiden hatte, und in dem vor zehn Jahren (1897) nur 9,5 vom Hundert der Männer und 3 vom Hundert der Frauen lesen und schreiben konnten, plötzlich die Fähigkeit vorhanden sein, das volle Recht der Selbstverwaltung zum Segen für sich und andre ausüben zu können? So er¬ scheint heute das Programm der „nationalen Partei" völlig undurchführbar. Hat somit der „ägyptische Nationalismus" in der Form, wie ihn die ägyptische Nationalpartei vertritt, wenig oder keine Aussicht auf Erfolge, so gilt das nicht in gleicher Weise für ein andres Ideal, wie es die gesamte Nation, einschließlich praktisch denkender Politiker, wohl anstreben könnte. Ein solches Ideal aber sieht Lord Cromer selbst in der Zusammenfassung aller Bewohner des Landes ohne Rücksicht auf Rasse, Religion oder Herkunft zu einer einheitlichen ägyptischen Nation. Der Verwirklichung dieses Ideals stehn heute freilich noch die „Kapitulationen" in ihrer gegenwärtigen Gestalt ent¬ gegen, die eine Trennung nicht nur zwischen Eingebornen und Europäern,

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 66, 1907, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341885_302701/444>, abgerufen am 01.09.2024.