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Die Grenzboten. Jg. 66, 1907, Drittes Vierteljahr.

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Elastizität eingebüßt. Gewöhnlich hat es die besondre berufsmäßige Beschäftigung
ganz einseitig werden lassen und den freien anderweitigen Gebrauch behindert.
Es kommt hinzu, daß uns die Häufung fertiger Ideen und eingeprägter
Begriffe einengt und das freie Gedankenspiel gewissermaßen zur Gewohnheits¬
äußerung herabdrückt. Endlich ist unser Geist durch das Übermaß der Gehirn¬
tätigkeit ermüdet, durch andauernd sitzende Lebensweise erschlafft. Das volle
Gegenteil besteht bei der Ursprünglichkeit ihrer Denkweise für Männer einer
jugendlichen Rasse---- Seit drei Jahrhunderten büßen wir immer mehr den
klaren und unmittelbaren Blick für die Dinge ein; unter dem Zwange einer
andauernden und hohe Anforderungen stellenden Erziehung im Zimmer studieren
wir statt der Dinge selbst die dafür üblichen Zeichen, statt des Geländes die
Karte____"

Die dem japanischen Volke eignen Vorzüge, seine ungemeine Aufnahme¬
fähigkeit, beruhen zum großen Teil in dieser Jungfräulichkeit seiner Daseins-
bedingungen gegenüber der seit Jahrhunderten durch die europäische Zivilisation
verweichlichten Rasse. Erscheinungen wie Blücher aber legen die Frage nahe,
ob wir uns hinsichtlich unsrer intellektuellen Entwicklung in den letzten hundert
Jahren auf dem richtigen Wege befinden. Welcher Gegensatz zwischen unsrer
Zeit und den Jahren unmittelbar nach den Befreiungskriegen, von denen
Treitschke sagt (Deutsche Geschichte im neunzehnten Jahrhundert II): "Noch
verstanden die Gymnasien, weil sie geisttötende Vielwisserei vermieden, die
dauernde Freude am klassischen Altertum und den Drang nach freier mensch¬
licher Bildung in ihren Schülern zu erwecken.... Die altberühmten Heimstätten
der klassischen Gelehrsamkeit, die sächsischen Fnrstenschulen und die württem-
bergischen Klosterschulen, entließen ihre Männer zur Universität, sobald die
Lehrer die Zeit gekommen glaubten, und der Staat meisterte sie nicht." Seit¬
dem sind wir immer mechanischer geworden und immer mehr dem Bildungs¬
dünkel verfallen, ohne zu bedenken, daß wir echte Bildung damit sicherlich nicht
fördern, wenn wir die wissenschaftlichen Anforderungen für die verschiedensten
Berufe immerfort steigern. Viel zu wenig sagt sich die Schule, daß sie nicht
nur um ihrer selbst willen da ist, und damit die Lehrer glänzende Ergebnisse
erreichen.

Unzweifelhaft bedarf die Jugend einer strengen Schulung des Geistes,
aber es will scheinen, als ob bei uns immer noch Wissen ohne weiteres für
Bildung gehalten würde. Treffend sagt Otto von Leixner in seinem "Weg zum
Selbst": "Der tüchtige Bauer, der im Schweiße seines Angesichts seinen
Boden bestellt und einfach und schlicht denkt und fühlt, stellt in seiner Art einen
Hochgebildeten dar. Wehe allen, die diese Bildung mißachten und zerstören."
Auf diesem Wege der Mißachtung befinden sich aber, wenn auch vielleicht
unbewußt, zahlreiche akademisch Gebildete. Sehr schön läßt Frenssen seinen Peter
Mohr (Fahrt nach Südwest) über seinen Leutnant äußern, die Mannschaften
hätten sich gewundert, wie er die Anstrengungen und Entbehrungen besser


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Elastizität eingebüßt. Gewöhnlich hat es die besondre berufsmäßige Beschäftigung
ganz einseitig werden lassen und den freien anderweitigen Gebrauch behindert.
Es kommt hinzu, daß uns die Häufung fertiger Ideen und eingeprägter
Begriffe einengt und das freie Gedankenspiel gewissermaßen zur Gewohnheits¬
äußerung herabdrückt. Endlich ist unser Geist durch das Übermaß der Gehirn¬
tätigkeit ermüdet, durch andauernd sitzende Lebensweise erschlafft. Das volle
Gegenteil besteht bei der Ursprünglichkeit ihrer Denkweise für Männer einer
jugendlichen Rasse---- Seit drei Jahrhunderten büßen wir immer mehr den
klaren und unmittelbaren Blick für die Dinge ein; unter dem Zwange einer
andauernden und hohe Anforderungen stellenden Erziehung im Zimmer studieren
wir statt der Dinge selbst die dafür üblichen Zeichen, statt des Geländes die
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Die dem japanischen Volke eignen Vorzüge, seine ungemeine Aufnahme¬
fähigkeit, beruhen zum großen Teil in dieser Jungfräulichkeit seiner Daseins-
bedingungen gegenüber der seit Jahrhunderten durch die europäische Zivilisation
verweichlichten Rasse. Erscheinungen wie Blücher aber legen die Frage nahe,
ob wir uns hinsichtlich unsrer intellektuellen Entwicklung in den letzten hundert
Jahren auf dem richtigen Wege befinden. Welcher Gegensatz zwischen unsrer
Zeit und den Jahren unmittelbar nach den Befreiungskriegen, von denen
Treitschke sagt (Deutsche Geschichte im neunzehnten Jahrhundert II): „Noch
verstanden die Gymnasien, weil sie geisttötende Vielwisserei vermieden, die
dauernde Freude am klassischen Altertum und den Drang nach freier mensch¬
licher Bildung in ihren Schülern zu erwecken.... Die altberühmten Heimstätten
der klassischen Gelehrsamkeit, die sächsischen Fnrstenschulen und die württem-
bergischen Klosterschulen, entließen ihre Männer zur Universität, sobald die
Lehrer die Zeit gekommen glaubten, und der Staat meisterte sie nicht." Seit¬
dem sind wir immer mechanischer geworden und immer mehr dem Bildungs¬
dünkel verfallen, ohne zu bedenken, daß wir echte Bildung damit sicherlich nicht
fördern, wenn wir die wissenschaftlichen Anforderungen für die verschiedensten
Berufe immerfort steigern. Viel zu wenig sagt sich die Schule, daß sie nicht
nur um ihrer selbst willen da ist, und damit die Lehrer glänzende Ergebnisse
erreichen.

Unzweifelhaft bedarf die Jugend einer strengen Schulung des Geistes,
aber es will scheinen, als ob bei uns immer noch Wissen ohne weiteres für
Bildung gehalten würde. Treffend sagt Otto von Leixner in seinem „Weg zum
Selbst": „Der tüchtige Bauer, der im Schweiße seines Angesichts seinen
Boden bestellt und einfach und schlicht denkt und fühlt, stellt in seiner Art einen
Hochgebildeten dar. Wehe allen, die diese Bildung mißachten und zerstören."
Auf diesem Wege der Mißachtung befinden sich aber, wenn auch vielleicht
unbewußt, zahlreiche akademisch Gebildete. Sehr schön läßt Frenssen seinen Peter
Mohr (Fahrt nach Südwest) über seinen Leutnant äußern, die Mannschaften
hätten sich gewundert, wie er die Anstrengungen und Entbehrungen besser


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[0351] Line neue Blücher-Biographie Elastizität eingebüßt. Gewöhnlich hat es die besondre berufsmäßige Beschäftigung ganz einseitig werden lassen und den freien anderweitigen Gebrauch behindert. Es kommt hinzu, daß uns die Häufung fertiger Ideen und eingeprägter Begriffe einengt und das freie Gedankenspiel gewissermaßen zur Gewohnheits¬ äußerung herabdrückt. Endlich ist unser Geist durch das Übermaß der Gehirn¬ tätigkeit ermüdet, durch andauernd sitzende Lebensweise erschlafft. Das volle Gegenteil besteht bei der Ursprünglichkeit ihrer Denkweise für Männer einer jugendlichen Rasse---- Seit drei Jahrhunderten büßen wir immer mehr den klaren und unmittelbaren Blick für die Dinge ein; unter dem Zwange einer andauernden und hohe Anforderungen stellenden Erziehung im Zimmer studieren wir statt der Dinge selbst die dafür üblichen Zeichen, statt des Geländes die Karte____" Die dem japanischen Volke eignen Vorzüge, seine ungemeine Aufnahme¬ fähigkeit, beruhen zum großen Teil in dieser Jungfräulichkeit seiner Daseins- bedingungen gegenüber der seit Jahrhunderten durch die europäische Zivilisation verweichlichten Rasse. Erscheinungen wie Blücher aber legen die Frage nahe, ob wir uns hinsichtlich unsrer intellektuellen Entwicklung in den letzten hundert Jahren auf dem richtigen Wege befinden. Welcher Gegensatz zwischen unsrer Zeit und den Jahren unmittelbar nach den Befreiungskriegen, von denen Treitschke sagt (Deutsche Geschichte im neunzehnten Jahrhundert II): „Noch verstanden die Gymnasien, weil sie geisttötende Vielwisserei vermieden, die dauernde Freude am klassischen Altertum und den Drang nach freier mensch¬ licher Bildung in ihren Schülern zu erwecken.... Die altberühmten Heimstätten der klassischen Gelehrsamkeit, die sächsischen Fnrstenschulen und die württem- bergischen Klosterschulen, entließen ihre Männer zur Universität, sobald die Lehrer die Zeit gekommen glaubten, und der Staat meisterte sie nicht." Seit¬ dem sind wir immer mechanischer geworden und immer mehr dem Bildungs¬ dünkel verfallen, ohne zu bedenken, daß wir echte Bildung damit sicherlich nicht fördern, wenn wir die wissenschaftlichen Anforderungen für die verschiedensten Berufe immerfort steigern. Viel zu wenig sagt sich die Schule, daß sie nicht nur um ihrer selbst willen da ist, und damit die Lehrer glänzende Ergebnisse erreichen. Unzweifelhaft bedarf die Jugend einer strengen Schulung des Geistes, aber es will scheinen, als ob bei uns immer noch Wissen ohne weiteres für Bildung gehalten würde. Treffend sagt Otto von Leixner in seinem „Weg zum Selbst": „Der tüchtige Bauer, der im Schweiße seines Angesichts seinen Boden bestellt und einfach und schlicht denkt und fühlt, stellt in seiner Art einen Hochgebildeten dar. Wehe allen, die diese Bildung mißachten und zerstören." Auf diesem Wege der Mißachtung befinden sich aber, wenn auch vielleicht unbewußt, zahlreiche akademisch Gebildete. Sehr schön läßt Frenssen seinen Peter Mohr (Fahrt nach Südwest) über seinen Leutnant äußern, die Mannschaften hätten sich gewundert, wie er die Anstrengungen und Entbehrungen besser

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 66, 1907, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341885_302701/351>, abgerufen am 01.09.2024.