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Die Grenzboten. Jg. 66, 1907, Drittes Vierteljahr.

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Betrachtungen über innere Politik

alten Polizeistaate her ein System der Vielregiererei und der Bevormundung,
das nicht mehr in unsre Zeit paßt. Unsre Verwaltung lebt immer noch in
dem Glauben, daß sie die Pflicht habe, sich um alles und jedes zu kümmern,
daß es ihre Aufgabe sei, den Menschen von der Wiege bis zur Bahre zu
geleiten, durch möglichst viele Polizeiverordnungen, die niemand kennt und
niemand kennen kann, die Bevölkerung vor Unheil zu bewahren. In wichtigen
Angelegenheiten darf man recht lange auf einen Bescheid warten, sehr schnell
ist man aber bei der Hand, durch Strafmandate an die Existenz von Ver¬
ordnungen zu erinnern, von denen die mit dem Strafbefehl beglückten noch nie
etwas gehört hatten. Die vielen Übergriffe und Ungeschicklichkeiten von Polizei-
beamten tragen auch nicht dazu bei, unsre untern Verwaltungsorgane beliebt
zu machen; aber die Gerechtigkeit fordert es doch, zu sagen, daß die Neigung
zur Vielregiererei und zur Bevormundung bei den höhern Behörden gerade so
eingewurzelt ist wie bei den niedern. Es ließen sich viele Beispiele dafür
anführen. Unzweifelhaft werden viele Menschen jahraus jahrein durch un¬
geschickte Behandlung verärgert, aber ob dadurch weite Massen der Be¬
völkerung zur Sozialdemokratie getrieben worden sind kann doch zweifelhaft
sein. Mir will es scheinen, daß unsre Verwaltung weniger durch das ge¬
sündigt hat, was sie getan hat, als durch das, was sie unterlassen hat, worauf
später noch eingegangen werden soll. Jedenfalls kann man wohl damit rechnen,
daß die Staatsregierung eine Reform der Verwaltung bald durchführen wird,
nachdem deren Rückständigkeit an so hervorragender Stelle bezeugt worden ist.
Die Regierung wird bei einem solchen Bestreben sicher den Beifall aller Kreise
der Bevölkerung finden.

Die Richtlinien einer Reform der Verwaltung sind durch vielfache Er¬
örterungen im Parlament, in der Presse und in Zeitschriften ziemlich klargestellt.
So sehr die Ansichten im einzelnen abweichen, darüber waren doch bisher alle,
die sich mit der Angelegenheit beschäftigt haben, einig, daß die Verwaltung de¬
zentralisiert werden müsse, das heißt, daß den Beamten, die der Bevölkerung
am nächsten stehen, den Landräten und Regierungspräsidenten oder Ober-
Prüsidenten, je nachdem man diese oder jene für geeigneter hält, die Lokalver¬
waltung zu beaufsichtigen, größere Selbständigkeit eingeräumt werden müsse.
Nur durch weitgehende Dezentralisation wird man erreichen können, daß das
Schreibwerk vermindert wird, unter dem jetzt die produktive Verwaltungstätigkeit
leidet. Zugleich würde aber die Dezentralisation die Möglichkeit gewähren, die
Zahl der Beamten zu vermindern, was unbedingt angestrebt werden muß.
Oberbürgermeister Adickes hat nachgewiesen, mit welcher Verschwendung von
Menschenmaterial unsre Justizverwaltung arbeitet, und daß nur durch eine
Änderung der Organisation und durch eine Verminderung der Zahl der Richter
die Mängel beseitigt werden können, an denen die Justizverwaltung krankt. Die
Gedanken, die er ausgesprochen hat, können und werden nicht verloren gehn,
sie müssen den Anstoß zu einer Reform der Justiz geben. Was aber für die


Betrachtungen über innere Politik

alten Polizeistaate her ein System der Vielregiererei und der Bevormundung,
das nicht mehr in unsre Zeit paßt. Unsre Verwaltung lebt immer noch in
dem Glauben, daß sie die Pflicht habe, sich um alles und jedes zu kümmern,
daß es ihre Aufgabe sei, den Menschen von der Wiege bis zur Bahre zu
geleiten, durch möglichst viele Polizeiverordnungen, die niemand kennt und
niemand kennen kann, die Bevölkerung vor Unheil zu bewahren. In wichtigen
Angelegenheiten darf man recht lange auf einen Bescheid warten, sehr schnell
ist man aber bei der Hand, durch Strafmandate an die Existenz von Ver¬
ordnungen zu erinnern, von denen die mit dem Strafbefehl beglückten noch nie
etwas gehört hatten. Die vielen Übergriffe und Ungeschicklichkeiten von Polizei-
beamten tragen auch nicht dazu bei, unsre untern Verwaltungsorgane beliebt
zu machen; aber die Gerechtigkeit fordert es doch, zu sagen, daß die Neigung
zur Vielregiererei und zur Bevormundung bei den höhern Behörden gerade so
eingewurzelt ist wie bei den niedern. Es ließen sich viele Beispiele dafür
anführen. Unzweifelhaft werden viele Menschen jahraus jahrein durch un¬
geschickte Behandlung verärgert, aber ob dadurch weite Massen der Be¬
völkerung zur Sozialdemokratie getrieben worden sind kann doch zweifelhaft
sein. Mir will es scheinen, daß unsre Verwaltung weniger durch das ge¬
sündigt hat, was sie getan hat, als durch das, was sie unterlassen hat, worauf
später noch eingegangen werden soll. Jedenfalls kann man wohl damit rechnen,
daß die Staatsregierung eine Reform der Verwaltung bald durchführen wird,
nachdem deren Rückständigkeit an so hervorragender Stelle bezeugt worden ist.
Die Regierung wird bei einem solchen Bestreben sicher den Beifall aller Kreise
der Bevölkerung finden.

Die Richtlinien einer Reform der Verwaltung sind durch vielfache Er¬
örterungen im Parlament, in der Presse und in Zeitschriften ziemlich klargestellt.
So sehr die Ansichten im einzelnen abweichen, darüber waren doch bisher alle,
die sich mit der Angelegenheit beschäftigt haben, einig, daß die Verwaltung de¬
zentralisiert werden müsse, das heißt, daß den Beamten, die der Bevölkerung
am nächsten stehen, den Landräten und Regierungspräsidenten oder Ober-
Prüsidenten, je nachdem man diese oder jene für geeigneter hält, die Lokalver¬
waltung zu beaufsichtigen, größere Selbständigkeit eingeräumt werden müsse.
Nur durch weitgehende Dezentralisation wird man erreichen können, daß das
Schreibwerk vermindert wird, unter dem jetzt die produktive Verwaltungstätigkeit
leidet. Zugleich würde aber die Dezentralisation die Möglichkeit gewähren, die
Zahl der Beamten zu vermindern, was unbedingt angestrebt werden muß.
Oberbürgermeister Adickes hat nachgewiesen, mit welcher Verschwendung von
Menschenmaterial unsre Justizverwaltung arbeitet, und daß nur durch eine
Änderung der Organisation und durch eine Verminderung der Zahl der Richter
die Mängel beseitigt werden können, an denen die Justizverwaltung krankt. Die
Gedanken, die er ausgesprochen hat, können und werden nicht verloren gehn,
sie müssen den Anstoß zu einer Reform der Justiz geben. Was aber für die


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[0343] Betrachtungen über innere Politik alten Polizeistaate her ein System der Vielregiererei und der Bevormundung, das nicht mehr in unsre Zeit paßt. Unsre Verwaltung lebt immer noch in dem Glauben, daß sie die Pflicht habe, sich um alles und jedes zu kümmern, daß es ihre Aufgabe sei, den Menschen von der Wiege bis zur Bahre zu geleiten, durch möglichst viele Polizeiverordnungen, die niemand kennt und niemand kennen kann, die Bevölkerung vor Unheil zu bewahren. In wichtigen Angelegenheiten darf man recht lange auf einen Bescheid warten, sehr schnell ist man aber bei der Hand, durch Strafmandate an die Existenz von Ver¬ ordnungen zu erinnern, von denen die mit dem Strafbefehl beglückten noch nie etwas gehört hatten. Die vielen Übergriffe und Ungeschicklichkeiten von Polizei- beamten tragen auch nicht dazu bei, unsre untern Verwaltungsorgane beliebt zu machen; aber die Gerechtigkeit fordert es doch, zu sagen, daß die Neigung zur Vielregiererei und zur Bevormundung bei den höhern Behörden gerade so eingewurzelt ist wie bei den niedern. Es ließen sich viele Beispiele dafür anführen. Unzweifelhaft werden viele Menschen jahraus jahrein durch un¬ geschickte Behandlung verärgert, aber ob dadurch weite Massen der Be¬ völkerung zur Sozialdemokratie getrieben worden sind kann doch zweifelhaft sein. Mir will es scheinen, daß unsre Verwaltung weniger durch das ge¬ sündigt hat, was sie getan hat, als durch das, was sie unterlassen hat, worauf später noch eingegangen werden soll. Jedenfalls kann man wohl damit rechnen, daß die Staatsregierung eine Reform der Verwaltung bald durchführen wird, nachdem deren Rückständigkeit an so hervorragender Stelle bezeugt worden ist. Die Regierung wird bei einem solchen Bestreben sicher den Beifall aller Kreise der Bevölkerung finden. Die Richtlinien einer Reform der Verwaltung sind durch vielfache Er¬ örterungen im Parlament, in der Presse und in Zeitschriften ziemlich klargestellt. So sehr die Ansichten im einzelnen abweichen, darüber waren doch bisher alle, die sich mit der Angelegenheit beschäftigt haben, einig, daß die Verwaltung de¬ zentralisiert werden müsse, das heißt, daß den Beamten, die der Bevölkerung am nächsten stehen, den Landräten und Regierungspräsidenten oder Ober- Prüsidenten, je nachdem man diese oder jene für geeigneter hält, die Lokalver¬ waltung zu beaufsichtigen, größere Selbständigkeit eingeräumt werden müsse. Nur durch weitgehende Dezentralisation wird man erreichen können, daß das Schreibwerk vermindert wird, unter dem jetzt die produktive Verwaltungstätigkeit leidet. Zugleich würde aber die Dezentralisation die Möglichkeit gewähren, die Zahl der Beamten zu vermindern, was unbedingt angestrebt werden muß. Oberbürgermeister Adickes hat nachgewiesen, mit welcher Verschwendung von Menschenmaterial unsre Justizverwaltung arbeitet, und daß nur durch eine Änderung der Organisation und durch eine Verminderung der Zahl der Richter die Mängel beseitigt werden können, an denen die Justizverwaltung krankt. Die Gedanken, die er ausgesprochen hat, können und werden nicht verloren gehn, sie müssen den Anstoß zu einer Reform der Justiz geben. Was aber für die

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 66, 1907, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341885_302701/343>, abgerufen am 01.09.2024.