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Die Grenzboten. Jg. 66, 1907, Drittes Vierteljahr.

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Betrachtungen über innere Politik

Ursachen vorhanden sein, die das deutsche Volk in die Sozialdemokratie treiben.
Diesen innern Ursachen nachzugehen ist Pflicht jedes Patrioten, und zu diesem
Nachdenken anzuregen war der Zweck meiner Rede."

Der Staatssekretär ist damals wegen dieser beiden Reden vielfach angegriffen
worden, aber er hat diese unberechtigten Angriffe abgelehnt mit den Worten:
"Solange ich an dieser Stelle stehe, werde ich dem deutschen Volke das sagen,
was ich für richtig halte. Das na^kr evtrs äsux faux ist viel bequemer, und
es ist für den immer schwer, der den Mut hat, der Katze die Schelle anzu¬
hängen. Wer aber den Schläfer in der Stunde der Gefahr kräftig an der
Schulter faßt, erwirbt sich auch ein Verdienst."

Graf Posadowsky ist ja inzwischen aus dem Amte geschieden, aber die
Bedeutung seiner Worte wird dadurch nicht vermindert. Es ist ein Glück für
den Staat, wenn Männer von der Bedeutung des Grafen Posadowsky ihre Über¬
zeugung ohne Rücksicht darauf aussprechen, ob das, was sie zu sagen haben,
bequem ist oder nicht. Es ist auch charakteristisch für unsre Zeit, daß dieser Mut
selten geworden ist. Die Zahl derer, die sich aus Neigung mit solchen politischen
Fragen beschäftigen, ist bei uns wohl überhaupt nicht sehr groß, es ist bequemer,
sich seine Ruhe nicht stören zu lassen. Von denen aber, die offnen Auges
durchs Leben gehn und etwas zu sagen Hütten, kommen viele in dem schwach
entwickelten politischen Leben unsers Volkes nicht zum Worte. Ihnen steht
höchstens ein Stück Papier zur Verfügung, um ihre Ansicht zu sagen, und
wenn dann einmal ein Mann von unbestrittner Autorität auftritt, die Schläfer
aufzurütteln, so reiben diese sich erstaunt die Augen und sind wohl gar noch
ungehalten darüber, daß man sie nicht hat weiter schlafen lasten. Es müßte öfter
vorkommen, daß sich jemand findet, den Winterschlaf des braven deutschen Michels
zu stören, und um so dankenswerter ist es, daß das geschehen ist an der Stelle,
die berufen ist, für das Wohl und den Fortschritt des deutschen Volkes zu sorgen,
vor dem Forum des deutschen Reichstages. Da aber Graf Posadowsky selbst
gesagt hat, daß es die Pflicht jedes Patrioten sei, den Ursachen unsrer krank¬
haften politischen Entwicklung nachzugehn, so möge der Versuch gestattet sein,
einen bescheidnen Beitrag zur Beantwortung der Fragen zu geben, die er damals
im Reichstage zur Diskussion gestellt hat.

Graf Posadowsky hat für die krankhafte Ausdehnung der sozialdemokra¬
tischen Bewegung besonders zwei Gründe angeführt, daß nämlich unsre Ver¬
waltung noch zu viele Gewohnheiten aus dem alten Polizeistaate herüber¬
genommen habe, und daß mit dem wachsenden Wohlstande die Opferfreudigkeit
und Großherzigkeit der besitzenden Klassen nicht gleichen Schritt gehalten habe,
sowie daß unsre bürgerliche Gesellschaft zu materialistisch und zu genußsüchtig
sei, als daß sie die Sozialdemokratie überwinden könnte. Den Vorwurf, der
hier wohl zunächst gegen die preußische Verwaltung erhoben wird, haben seit
langer Zeit weite Kreise der Bevölkerung immer und immer wieder erhoben,
und es kann kaum zweifelhaft sein, daß er gerechtfertigt ist. Wir haben vom


Betrachtungen über innere Politik

Ursachen vorhanden sein, die das deutsche Volk in die Sozialdemokratie treiben.
Diesen innern Ursachen nachzugehen ist Pflicht jedes Patrioten, und zu diesem
Nachdenken anzuregen war der Zweck meiner Rede."

Der Staatssekretär ist damals wegen dieser beiden Reden vielfach angegriffen
worden, aber er hat diese unberechtigten Angriffe abgelehnt mit den Worten:
„Solange ich an dieser Stelle stehe, werde ich dem deutschen Volke das sagen,
was ich für richtig halte. Das na^kr evtrs äsux faux ist viel bequemer, und
es ist für den immer schwer, der den Mut hat, der Katze die Schelle anzu¬
hängen. Wer aber den Schläfer in der Stunde der Gefahr kräftig an der
Schulter faßt, erwirbt sich auch ein Verdienst."

Graf Posadowsky ist ja inzwischen aus dem Amte geschieden, aber die
Bedeutung seiner Worte wird dadurch nicht vermindert. Es ist ein Glück für
den Staat, wenn Männer von der Bedeutung des Grafen Posadowsky ihre Über¬
zeugung ohne Rücksicht darauf aussprechen, ob das, was sie zu sagen haben,
bequem ist oder nicht. Es ist auch charakteristisch für unsre Zeit, daß dieser Mut
selten geworden ist. Die Zahl derer, die sich aus Neigung mit solchen politischen
Fragen beschäftigen, ist bei uns wohl überhaupt nicht sehr groß, es ist bequemer,
sich seine Ruhe nicht stören zu lassen. Von denen aber, die offnen Auges
durchs Leben gehn und etwas zu sagen Hütten, kommen viele in dem schwach
entwickelten politischen Leben unsers Volkes nicht zum Worte. Ihnen steht
höchstens ein Stück Papier zur Verfügung, um ihre Ansicht zu sagen, und
wenn dann einmal ein Mann von unbestrittner Autorität auftritt, die Schläfer
aufzurütteln, so reiben diese sich erstaunt die Augen und sind wohl gar noch
ungehalten darüber, daß man sie nicht hat weiter schlafen lasten. Es müßte öfter
vorkommen, daß sich jemand findet, den Winterschlaf des braven deutschen Michels
zu stören, und um so dankenswerter ist es, daß das geschehen ist an der Stelle,
die berufen ist, für das Wohl und den Fortschritt des deutschen Volkes zu sorgen,
vor dem Forum des deutschen Reichstages. Da aber Graf Posadowsky selbst
gesagt hat, daß es die Pflicht jedes Patrioten sei, den Ursachen unsrer krank¬
haften politischen Entwicklung nachzugehn, so möge der Versuch gestattet sein,
einen bescheidnen Beitrag zur Beantwortung der Fragen zu geben, die er damals
im Reichstage zur Diskussion gestellt hat.

Graf Posadowsky hat für die krankhafte Ausdehnung der sozialdemokra¬
tischen Bewegung besonders zwei Gründe angeführt, daß nämlich unsre Ver¬
waltung noch zu viele Gewohnheiten aus dem alten Polizeistaate herüber¬
genommen habe, und daß mit dem wachsenden Wohlstande die Opferfreudigkeit
und Großherzigkeit der besitzenden Klassen nicht gleichen Schritt gehalten habe,
sowie daß unsre bürgerliche Gesellschaft zu materialistisch und zu genußsüchtig
sei, als daß sie die Sozialdemokratie überwinden könnte. Den Vorwurf, der
hier wohl zunächst gegen die preußische Verwaltung erhoben wird, haben seit
langer Zeit weite Kreise der Bevölkerung immer und immer wieder erhoben,
und es kann kaum zweifelhaft sein, daß er gerechtfertigt ist. Wir haben vom


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 66, 1907, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341885_302701/342>, abgerufen am 01.09.2024.