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Die Grenzboten. Jg. 66, 1907, Drittes Vierteljahr.

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Zum Ursprung des Märchens

den Ursprung des Märchens, denn aus dieser Verwandtschaft geht hervor, daß
die Schlüsse, die wir aus dem Studium der Märchen primitiver Völker ziehn,
muwtis ZQutMäis auch für die der zivilisierten Völker gelten; und es ist klar,
daß uns eine Untersuchung der primitiven Märchen näher zu dem Ursprung
dieser Dichtungsgattung führen wird, als die Durchforschung der Märchen der
Kulturvölker.

Im folgenden soll nun der Versuch gemacht werden, durch eine kurze
Prüfung des geistigen Zustandes der wilden Völker Anhaltspunkte zu ge¬
winnen, von denen aus man dann einige Richtungslinien, die für die Ent¬
wicklung des Märchens etwa maßgebend gewesen sein mögen, ziehn könnte.

1

Der heutige Stand der Märchenforschung berechtigt uns zu der An¬
nahme, daß das Märchen als ein der ganzen Menschheit eigentümlicher Besitz,
ein natnrnotwendigcs Produkt in der Entwicklung der einzelnen Völker und
Stämme angesehen werden muß, und daß es auf gewissen, überall gleichen
Anlagen des menschlichen Denkens und Fühlens, wie sie sich der Natur und
den gesellschaftlichen Einrichtungen gegenüber äußern, beruht. Es versteht sich
von selbst, daß der äußere und der innere Lebenszustand eines Volkes eine
gewisse Höhe erreicht haben muß, ehe aus ihm ein literarisches Erzeugnis,
wie es das Märchen ist, erwachsen konnte. Stämme, deren geistiges Leben
noch unentwickelt ist, oder die zu vegetierenden Dasein hinabgesunken sind,
vermögen keine geordneten Erzählungen hervorzubringen. Voraussetzung für
die Entstehung der Märchenerzählung ist eine gewisse gesellschaftliche Organi¬
sation, eine Stammesgliederung, in der vor allem das Verhältnis der beiden
Geschlechter zueinander in irgendeiner Form der Ehe normiert sein muß, die
ein Besitzrecht des Gatten ans sein Weib gewährleistet, denn die Märchen der
Naturvölker zeigen, daß hier eine bedeutende Quelle für Erzählungsstoffe fließt.
Die Verwandtschaftsverhültnisse müssen traditionell festgelegt worden sein, denn
das Verhältnis der Kinder zu den Eltern, der Brüder zu den Schwestern ist
eine wichtige Grundlage für die Handlung des Märchens. Im allgemeinen
kann man sagen, daß ein Anlaß zu einer erzählenden Darstellung gegeben ist,
sobald ein durch die Sitte geheiligtes Verhältnis gestört wird, denn ein häu¬
figes Thema der primitiven Märchen ist die Trübung eines Familienverhält-
uisses und dessen Wiederherstellung. Daraus folgt, daß sich innerhalb der
Stammesorganisation eine gewisse Summe von Sitten und Gebräuchen fest¬
gesetzt haben muß, die dann in der Mürchenhandlung zur Geltung kommen.
Den Anstoß zu einer Erzählung gibt nicht die ungestörte Beobachtung dieser
Sitten und Gebräuche, sondern ihre Störung. Das religiöse Leben muß
eine gewisse Stufe der Entwicklung erreicht haben, denn wie sich später
herausstellen wird, spielen die religiösen Anschauungen eine bedeutende Rolle
im Märchen.


Zum Ursprung des Märchens

den Ursprung des Märchens, denn aus dieser Verwandtschaft geht hervor, daß
die Schlüsse, die wir aus dem Studium der Märchen primitiver Völker ziehn,
muwtis ZQutMäis auch für die der zivilisierten Völker gelten; und es ist klar,
daß uns eine Untersuchung der primitiven Märchen näher zu dem Ursprung
dieser Dichtungsgattung führen wird, als die Durchforschung der Märchen der
Kulturvölker.

Im folgenden soll nun der Versuch gemacht werden, durch eine kurze
Prüfung des geistigen Zustandes der wilden Völker Anhaltspunkte zu ge¬
winnen, von denen aus man dann einige Richtungslinien, die für die Ent¬
wicklung des Märchens etwa maßgebend gewesen sein mögen, ziehn könnte.

1

Der heutige Stand der Märchenforschung berechtigt uns zu der An¬
nahme, daß das Märchen als ein der ganzen Menschheit eigentümlicher Besitz,
ein natnrnotwendigcs Produkt in der Entwicklung der einzelnen Völker und
Stämme angesehen werden muß, und daß es auf gewissen, überall gleichen
Anlagen des menschlichen Denkens und Fühlens, wie sie sich der Natur und
den gesellschaftlichen Einrichtungen gegenüber äußern, beruht. Es versteht sich
von selbst, daß der äußere und der innere Lebenszustand eines Volkes eine
gewisse Höhe erreicht haben muß, ehe aus ihm ein literarisches Erzeugnis,
wie es das Märchen ist, erwachsen konnte. Stämme, deren geistiges Leben
noch unentwickelt ist, oder die zu vegetierenden Dasein hinabgesunken sind,
vermögen keine geordneten Erzählungen hervorzubringen. Voraussetzung für
die Entstehung der Märchenerzählung ist eine gewisse gesellschaftliche Organi¬
sation, eine Stammesgliederung, in der vor allem das Verhältnis der beiden
Geschlechter zueinander in irgendeiner Form der Ehe normiert sein muß, die
ein Besitzrecht des Gatten ans sein Weib gewährleistet, denn die Märchen der
Naturvölker zeigen, daß hier eine bedeutende Quelle für Erzählungsstoffe fließt.
Die Verwandtschaftsverhültnisse müssen traditionell festgelegt worden sein, denn
das Verhältnis der Kinder zu den Eltern, der Brüder zu den Schwestern ist
eine wichtige Grundlage für die Handlung des Märchens. Im allgemeinen
kann man sagen, daß ein Anlaß zu einer erzählenden Darstellung gegeben ist,
sobald ein durch die Sitte geheiligtes Verhältnis gestört wird, denn ein häu¬
figes Thema der primitiven Märchen ist die Trübung eines Familienverhält-
uisses und dessen Wiederherstellung. Daraus folgt, daß sich innerhalb der
Stammesorganisation eine gewisse Summe von Sitten und Gebräuchen fest¬
gesetzt haben muß, die dann in der Mürchenhandlung zur Geltung kommen.
Den Anstoß zu einer Erzählung gibt nicht die ungestörte Beobachtung dieser
Sitten und Gebräuche, sondern ihre Störung. Das religiöse Leben muß
eine gewisse Stufe der Entwicklung erreicht haben, denn wie sich später
herausstellen wird, spielen die religiösen Anschauungen eine bedeutende Rolle
im Märchen.


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[0032] Zum Ursprung des Märchens den Ursprung des Märchens, denn aus dieser Verwandtschaft geht hervor, daß die Schlüsse, die wir aus dem Studium der Märchen primitiver Völker ziehn, muwtis ZQutMäis auch für die der zivilisierten Völker gelten; und es ist klar, daß uns eine Untersuchung der primitiven Märchen näher zu dem Ursprung dieser Dichtungsgattung führen wird, als die Durchforschung der Märchen der Kulturvölker. Im folgenden soll nun der Versuch gemacht werden, durch eine kurze Prüfung des geistigen Zustandes der wilden Völker Anhaltspunkte zu ge¬ winnen, von denen aus man dann einige Richtungslinien, die für die Ent¬ wicklung des Märchens etwa maßgebend gewesen sein mögen, ziehn könnte. 1 Der heutige Stand der Märchenforschung berechtigt uns zu der An¬ nahme, daß das Märchen als ein der ganzen Menschheit eigentümlicher Besitz, ein natnrnotwendigcs Produkt in der Entwicklung der einzelnen Völker und Stämme angesehen werden muß, und daß es auf gewissen, überall gleichen Anlagen des menschlichen Denkens und Fühlens, wie sie sich der Natur und den gesellschaftlichen Einrichtungen gegenüber äußern, beruht. Es versteht sich von selbst, daß der äußere und der innere Lebenszustand eines Volkes eine gewisse Höhe erreicht haben muß, ehe aus ihm ein literarisches Erzeugnis, wie es das Märchen ist, erwachsen konnte. Stämme, deren geistiges Leben noch unentwickelt ist, oder die zu vegetierenden Dasein hinabgesunken sind, vermögen keine geordneten Erzählungen hervorzubringen. Voraussetzung für die Entstehung der Märchenerzählung ist eine gewisse gesellschaftliche Organi¬ sation, eine Stammesgliederung, in der vor allem das Verhältnis der beiden Geschlechter zueinander in irgendeiner Form der Ehe normiert sein muß, die ein Besitzrecht des Gatten ans sein Weib gewährleistet, denn die Märchen der Naturvölker zeigen, daß hier eine bedeutende Quelle für Erzählungsstoffe fließt. Die Verwandtschaftsverhültnisse müssen traditionell festgelegt worden sein, denn das Verhältnis der Kinder zu den Eltern, der Brüder zu den Schwestern ist eine wichtige Grundlage für die Handlung des Märchens. Im allgemeinen kann man sagen, daß ein Anlaß zu einer erzählenden Darstellung gegeben ist, sobald ein durch die Sitte geheiligtes Verhältnis gestört wird, denn ein häu¬ figes Thema der primitiven Märchen ist die Trübung eines Familienverhält- uisses und dessen Wiederherstellung. Daraus folgt, daß sich innerhalb der Stammesorganisation eine gewisse Summe von Sitten und Gebräuchen fest¬ gesetzt haben muß, die dann in der Mürchenhandlung zur Geltung kommen. Den Anstoß zu einer Erzählung gibt nicht die ungestörte Beobachtung dieser Sitten und Gebräuche, sondern ihre Störung. Das religiöse Leben muß eine gewisse Stufe der Entwicklung erreicht haben, denn wie sich später herausstellen wird, spielen die religiösen Anschauungen eine bedeutende Rolle im Märchen.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 66, 1907, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341885_302701/32>, abgerufen am 12.12.2024.