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Die Grenzboten. Jg. 66, 1907, Drittes Vierteljahr.

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Zum Ursprung des Märchens

erste Entstehung des Märchens zu denken hat. Nicht anders steht es mit den
Mürchenzügen in der babylonischen Literatur, im Gilgcnneschepos und in der
Sargonsage. Hier wird die Datierung unsicher, aber jedenfalls sind diese Er¬
zählungen auf dem Boden einer vollständig ausgebildeten höhern Kultur er¬
wachsen. Das allerülteste vorhandne Märchen führt uns nach Ägypten, es ist
das Märchen von Batu und Anepu, das in der vorliegenden Form etwa
vierzehnhundert Jahre vor dem Beginn unsrer Zeitrechnung niedergeschrieben
ist. Aber niemand kann ermessen, wie weit es in unbekannte Zeiten zurück¬
reicht. Auch dieses älteste Märchen ist kein primitives, sondern zeigt dieselben
typischen Züge wie die Märchen der neuesten Zeit. Das Ergebnis dieser lite-
rarischen Untersuchung ist also nur das, daß wir feststellen können, daß in der
fernsten uns zugänglichen Zeit ausgebildete Märchen existiert haben, daß also
der Ursprung und die erste Entwicklung dieser Erzählungen in die vorgeschicht¬
liche Zeit hineinreichen, in die kein Menschenauge einzudringen vermag.

Da liegt es nun nahe, sich zu den Naturvölkern zu wenden und zu ver¬
suchen, ob man bei ihnen bessere Auskunft bekommt. Hier zeigt sich nun zu¬
nächst, daß das Märchen nicht eine den Europäern, oder allgemeiner gesprochen,
den gebildeten Völkern eigentümliche Dichtungsart ist, sondern die neuere For¬
schung hat fast bei allen Wilden, deren traditionelle Überlieferungen zugänglich
geworden sind, Märchen gefunden und aufgezeichnet. Dabei zeigte sich über¬
raschenderweise, daß diese Märchen durchweg dieselben charakteristischen Züge
tragen wie die der zivilisierten Völker. Zum Teil beruht dieser Umstand
offenbar auf direkter Übertragung durch die Europäer, so, wenn bei den Ein¬
wohnern Brasiliens dieselben Märchen erzählt werden wie in Spanien, zum
Teil jedoch kann man es aus den Berichten von Entdeckern und Missionaren
aus dem siebzehnten und dem achtzehnten Jahrhundert nachweisen, daß viele
wilde Völker vor der ersten geschichtlichen Berührung mit Europäern schon
Märchen hatten. Am wichtigsten für die Frage nach der Entstehung des
Märchens sind natürlich solche Erzählungen, die unzweifelhaft einheimisch sind.
Aber alle diese Materialien liefern uns keine direkte Auskunft über die Ent¬
stehung des Märchens, denn von keinem kann man feststellen, wie lange es
bei dem betreffenden Volke erzählt worden ist, und welche Wandlungen es
durchgemacht hat. Wir haben eben nur fertige Märchen vor uns, und wir
verfügen über keinerlei Mittel, festzustellen, ob in irgendeinem Märchen eines
auf niedriger Stufe stehenden Volkes eine Neuschöpfung vorliegt, die ein ge¬
wisses Analogon zu der Urschöpfung der europäischen Märchen bieten könnte.
Wir können die Erzählungen der Naturvölker nicht weiter zurückverfolgen als
etwa zwei oder höchstens drei Jahrhunderte. So ist auch hier das Material
zu geringfügig, als daß es unmittelbaren Aufschluß über die Entstehung des
Märchens bieten könnte; doch ist die Tatsache, daß das Marchenmaterial der
wilden Völker eine so enge Verwandtschaft zeigt mit dein des internationalen
Erzählungsschatzes, von nicht geringer Bedeutung für die Untersuchung über


Zum Ursprung des Märchens

erste Entstehung des Märchens zu denken hat. Nicht anders steht es mit den
Mürchenzügen in der babylonischen Literatur, im Gilgcnneschepos und in der
Sargonsage. Hier wird die Datierung unsicher, aber jedenfalls sind diese Er¬
zählungen auf dem Boden einer vollständig ausgebildeten höhern Kultur er¬
wachsen. Das allerülteste vorhandne Märchen führt uns nach Ägypten, es ist
das Märchen von Batu und Anepu, das in der vorliegenden Form etwa
vierzehnhundert Jahre vor dem Beginn unsrer Zeitrechnung niedergeschrieben
ist. Aber niemand kann ermessen, wie weit es in unbekannte Zeiten zurück¬
reicht. Auch dieses älteste Märchen ist kein primitives, sondern zeigt dieselben
typischen Züge wie die Märchen der neuesten Zeit. Das Ergebnis dieser lite-
rarischen Untersuchung ist also nur das, daß wir feststellen können, daß in der
fernsten uns zugänglichen Zeit ausgebildete Märchen existiert haben, daß also
der Ursprung und die erste Entwicklung dieser Erzählungen in die vorgeschicht¬
liche Zeit hineinreichen, in die kein Menschenauge einzudringen vermag.

Da liegt es nun nahe, sich zu den Naturvölkern zu wenden und zu ver¬
suchen, ob man bei ihnen bessere Auskunft bekommt. Hier zeigt sich nun zu¬
nächst, daß das Märchen nicht eine den Europäern, oder allgemeiner gesprochen,
den gebildeten Völkern eigentümliche Dichtungsart ist, sondern die neuere For¬
schung hat fast bei allen Wilden, deren traditionelle Überlieferungen zugänglich
geworden sind, Märchen gefunden und aufgezeichnet. Dabei zeigte sich über¬
raschenderweise, daß diese Märchen durchweg dieselben charakteristischen Züge
tragen wie die der zivilisierten Völker. Zum Teil beruht dieser Umstand
offenbar auf direkter Übertragung durch die Europäer, so, wenn bei den Ein¬
wohnern Brasiliens dieselben Märchen erzählt werden wie in Spanien, zum
Teil jedoch kann man es aus den Berichten von Entdeckern und Missionaren
aus dem siebzehnten und dem achtzehnten Jahrhundert nachweisen, daß viele
wilde Völker vor der ersten geschichtlichen Berührung mit Europäern schon
Märchen hatten. Am wichtigsten für die Frage nach der Entstehung des
Märchens sind natürlich solche Erzählungen, die unzweifelhaft einheimisch sind.
Aber alle diese Materialien liefern uns keine direkte Auskunft über die Ent¬
stehung des Märchens, denn von keinem kann man feststellen, wie lange es
bei dem betreffenden Volke erzählt worden ist, und welche Wandlungen es
durchgemacht hat. Wir haben eben nur fertige Märchen vor uns, und wir
verfügen über keinerlei Mittel, festzustellen, ob in irgendeinem Märchen eines
auf niedriger Stufe stehenden Volkes eine Neuschöpfung vorliegt, die ein ge¬
wisses Analogon zu der Urschöpfung der europäischen Märchen bieten könnte.
Wir können die Erzählungen der Naturvölker nicht weiter zurückverfolgen als
etwa zwei oder höchstens drei Jahrhunderte. So ist auch hier das Material
zu geringfügig, als daß es unmittelbaren Aufschluß über die Entstehung des
Märchens bieten könnte; doch ist die Tatsache, daß das Marchenmaterial der
wilden Völker eine so enge Verwandtschaft zeigt mit dein des internationalen
Erzählungsschatzes, von nicht geringer Bedeutung für die Untersuchung über


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[0031] Zum Ursprung des Märchens erste Entstehung des Märchens zu denken hat. Nicht anders steht es mit den Mürchenzügen in der babylonischen Literatur, im Gilgcnneschepos und in der Sargonsage. Hier wird die Datierung unsicher, aber jedenfalls sind diese Er¬ zählungen auf dem Boden einer vollständig ausgebildeten höhern Kultur er¬ wachsen. Das allerülteste vorhandne Märchen führt uns nach Ägypten, es ist das Märchen von Batu und Anepu, das in der vorliegenden Form etwa vierzehnhundert Jahre vor dem Beginn unsrer Zeitrechnung niedergeschrieben ist. Aber niemand kann ermessen, wie weit es in unbekannte Zeiten zurück¬ reicht. Auch dieses älteste Märchen ist kein primitives, sondern zeigt dieselben typischen Züge wie die Märchen der neuesten Zeit. Das Ergebnis dieser lite- rarischen Untersuchung ist also nur das, daß wir feststellen können, daß in der fernsten uns zugänglichen Zeit ausgebildete Märchen existiert haben, daß also der Ursprung und die erste Entwicklung dieser Erzählungen in die vorgeschicht¬ liche Zeit hineinreichen, in die kein Menschenauge einzudringen vermag. Da liegt es nun nahe, sich zu den Naturvölkern zu wenden und zu ver¬ suchen, ob man bei ihnen bessere Auskunft bekommt. Hier zeigt sich nun zu¬ nächst, daß das Märchen nicht eine den Europäern, oder allgemeiner gesprochen, den gebildeten Völkern eigentümliche Dichtungsart ist, sondern die neuere For¬ schung hat fast bei allen Wilden, deren traditionelle Überlieferungen zugänglich geworden sind, Märchen gefunden und aufgezeichnet. Dabei zeigte sich über¬ raschenderweise, daß diese Märchen durchweg dieselben charakteristischen Züge tragen wie die der zivilisierten Völker. Zum Teil beruht dieser Umstand offenbar auf direkter Übertragung durch die Europäer, so, wenn bei den Ein¬ wohnern Brasiliens dieselben Märchen erzählt werden wie in Spanien, zum Teil jedoch kann man es aus den Berichten von Entdeckern und Missionaren aus dem siebzehnten und dem achtzehnten Jahrhundert nachweisen, daß viele wilde Völker vor der ersten geschichtlichen Berührung mit Europäern schon Märchen hatten. Am wichtigsten für die Frage nach der Entstehung des Märchens sind natürlich solche Erzählungen, die unzweifelhaft einheimisch sind. Aber alle diese Materialien liefern uns keine direkte Auskunft über die Ent¬ stehung des Märchens, denn von keinem kann man feststellen, wie lange es bei dem betreffenden Volke erzählt worden ist, und welche Wandlungen es durchgemacht hat. Wir haben eben nur fertige Märchen vor uns, und wir verfügen über keinerlei Mittel, festzustellen, ob in irgendeinem Märchen eines auf niedriger Stufe stehenden Volkes eine Neuschöpfung vorliegt, die ein ge¬ wisses Analogon zu der Urschöpfung der europäischen Märchen bieten könnte. Wir können die Erzählungen der Naturvölker nicht weiter zurückverfolgen als etwa zwei oder höchstens drei Jahrhunderte. So ist auch hier das Material zu geringfügig, als daß es unmittelbaren Aufschluß über die Entstehung des Märchens bieten könnte; doch ist die Tatsache, daß das Marchenmaterial der wilden Völker eine so enge Verwandtschaft zeigt mit dein des internationalen Erzählungsschatzes, von nicht geringer Bedeutung für die Untersuchung über

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 66, 1907, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341885_302701/31>, abgerufen am 04.12.2024.