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Die Grenzboten. Jg. 66, 1907, Drittes Vierteljahr.

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Anm Ursprung des Märchens

Das Leben des Naturmenschen beschränkt sich -- ganz allgemein genommen --
ans die Gewinnung des Lebensunterhalts aus der Natur, auf den Verkehr mit
den Stammesgenossen und den Nachbarstümmen (im freundlichen und im feind¬
lichen Sinne) und auf das Hinbringen der Zeit durch unterhaltende Tätigkeit.
Diese ganze Lebenstütigkeit der Wilden ist nun durchzogen und getragen von
der Beobachtung einer langen Kette traditioneller, auf religiösem Untergrund
beruhender Sitten und Bräuche, die seinem Leben erst den objektiven, vom
Willen und Belieben des Einzelnen unabhängigen Inhalt geben. Jagd, Siedlung,
Verkehr, Ackerbau, Krieg, ja die täglichen gewohnten Verrichtungen, mehr noch
die einzelnen Lebensphasen: Geburt, Namengebung, Weihen, Krankheit, Tod
geben in ihren eng umschriebnen Formen Bestandteile für die der Unterhaltung
gewidmeten Erzählungen des primitiven Meuscheu ab. Ohne diese auf aber¬
gläubischen Bräuchen beruhenden Tatsachen können wir uns eine reichere,
lebendigere Entfaltung des Untcrhaltungsbedürfnisses uicht denken. Eine weitere
Grundbedingung für die Entstehung des Märchens ist eine gewisse Differen¬
zierung der Masse, die den Stamm bildet. So finden wir ja auf untersten
Stufen schon mindestens eine formale Scheidung zwischen Ältern und Jüngern,
Mächtigern und Schwächer", Negierern und Regierten, vielleicht gehört auch schou
den frühesten Stufen der Entwicklung die Totemgliedernng an, die für die Er¬
zählungen der Wilden in bezug auf die Rolle, die die Tierwelt spielt, von be¬
sondrer Bedeutung ist.

Nach dieser allgemeinen Skizziernng des gesellschaftlichen Untergrundes,
auf dein das Märchen erwachsen ist, wenden wir uns zu der nicht minder wich¬
tigen Vorfrage: Wie steht es überhaupt mit dem Erzählungsbedürfnis des
Wilden? Unter den der Unterhaltung gewidmeten Lebensäußerungen des Natur¬
menschen spielt die Erzählung eine hervorragende Rolle. Zur Erzählung treibt
es ihn mit elementarem Zwang, er ist Erzähler aus Naturtrieb. Er erzählt
von seinen Erlebnissen, er fabuliert über die Entstehung der Erde, der Sonne, der
Sterne, über gewisse Bäume und Tiere, er zerbricht sich den Kopf über deu
Tod, und was herauskommt, ist immer eine Erzählung. Der Trieb zum Er¬
zählen zieht so ziemlich alles, was in seinen Gesichtskreis eintritt und irgend¬
welchen stofflichen Reiz hat, in seinen Bann. Der Mensch auf niedern Ent¬
wicklungsstufen scheut, um sein Erzählungsbedürfnis zu befriedigen, nicht vor
der Profanierung seiner höchsten göttlichen Mächte zurück, indem er eine Chronik
von Erzählungen um sie webt, die uicht immer mit ihren sonstigen religiösen
Empfindungen in Einklang stehn. So setzt die ganze geschichtliche und religiöse
Tradition, über die ein primitives, schriftloses Volk verfügt, diesen elementaren
Trieb zur Erzählung voraus. Selbstverständlich ist es immer nur das besonders
begabte Individuum, das tatsächlich erzählt, und es ist zu beachten, daß obwohl
fast überall Personen beiderlei Geschlechts an der Bewahrung und der Über¬
lieferung des traditionellen Erzählungsschatzes beteiligt sind, die Männer die
eigentlichen Erfinder sind. Für die Stoffwahl lind den allgemeinen Charakter


Grenzboten III 1907 4
Anm Ursprung des Märchens

Das Leben des Naturmenschen beschränkt sich — ganz allgemein genommen —
ans die Gewinnung des Lebensunterhalts aus der Natur, auf den Verkehr mit
den Stammesgenossen und den Nachbarstümmen (im freundlichen und im feind¬
lichen Sinne) und auf das Hinbringen der Zeit durch unterhaltende Tätigkeit.
Diese ganze Lebenstütigkeit der Wilden ist nun durchzogen und getragen von
der Beobachtung einer langen Kette traditioneller, auf religiösem Untergrund
beruhender Sitten und Bräuche, die seinem Leben erst den objektiven, vom
Willen und Belieben des Einzelnen unabhängigen Inhalt geben. Jagd, Siedlung,
Verkehr, Ackerbau, Krieg, ja die täglichen gewohnten Verrichtungen, mehr noch
die einzelnen Lebensphasen: Geburt, Namengebung, Weihen, Krankheit, Tod
geben in ihren eng umschriebnen Formen Bestandteile für die der Unterhaltung
gewidmeten Erzählungen des primitiven Meuscheu ab. Ohne diese auf aber¬
gläubischen Bräuchen beruhenden Tatsachen können wir uns eine reichere,
lebendigere Entfaltung des Untcrhaltungsbedürfnisses uicht denken. Eine weitere
Grundbedingung für die Entstehung des Märchens ist eine gewisse Differen¬
zierung der Masse, die den Stamm bildet. So finden wir ja auf untersten
Stufen schon mindestens eine formale Scheidung zwischen Ältern und Jüngern,
Mächtigern und Schwächer», Negierern und Regierten, vielleicht gehört auch schou
den frühesten Stufen der Entwicklung die Totemgliedernng an, die für die Er¬
zählungen der Wilden in bezug auf die Rolle, die die Tierwelt spielt, von be¬
sondrer Bedeutung ist.

Nach dieser allgemeinen Skizziernng des gesellschaftlichen Untergrundes,
auf dein das Märchen erwachsen ist, wenden wir uns zu der nicht minder wich¬
tigen Vorfrage: Wie steht es überhaupt mit dem Erzählungsbedürfnis des
Wilden? Unter den der Unterhaltung gewidmeten Lebensäußerungen des Natur¬
menschen spielt die Erzählung eine hervorragende Rolle. Zur Erzählung treibt
es ihn mit elementarem Zwang, er ist Erzähler aus Naturtrieb. Er erzählt
von seinen Erlebnissen, er fabuliert über die Entstehung der Erde, der Sonne, der
Sterne, über gewisse Bäume und Tiere, er zerbricht sich den Kopf über deu
Tod, und was herauskommt, ist immer eine Erzählung. Der Trieb zum Er¬
zählen zieht so ziemlich alles, was in seinen Gesichtskreis eintritt und irgend¬
welchen stofflichen Reiz hat, in seinen Bann. Der Mensch auf niedern Ent¬
wicklungsstufen scheut, um sein Erzählungsbedürfnis zu befriedigen, nicht vor
der Profanierung seiner höchsten göttlichen Mächte zurück, indem er eine Chronik
von Erzählungen um sie webt, die uicht immer mit ihren sonstigen religiösen
Empfindungen in Einklang stehn. So setzt die ganze geschichtliche und religiöse
Tradition, über die ein primitives, schriftloses Volk verfügt, diesen elementaren
Trieb zur Erzählung voraus. Selbstverständlich ist es immer nur das besonders
begabte Individuum, das tatsächlich erzählt, und es ist zu beachten, daß obwohl
fast überall Personen beiderlei Geschlechts an der Bewahrung und der Über¬
lieferung des traditionellen Erzählungsschatzes beteiligt sind, die Männer die
eigentlichen Erfinder sind. Für die Stoffwahl lind den allgemeinen Charakter


Grenzboten III 1907 4
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[0033] Anm Ursprung des Märchens Das Leben des Naturmenschen beschränkt sich — ganz allgemein genommen — ans die Gewinnung des Lebensunterhalts aus der Natur, auf den Verkehr mit den Stammesgenossen und den Nachbarstümmen (im freundlichen und im feind¬ lichen Sinne) und auf das Hinbringen der Zeit durch unterhaltende Tätigkeit. Diese ganze Lebenstütigkeit der Wilden ist nun durchzogen und getragen von der Beobachtung einer langen Kette traditioneller, auf religiösem Untergrund beruhender Sitten und Bräuche, die seinem Leben erst den objektiven, vom Willen und Belieben des Einzelnen unabhängigen Inhalt geben. Jagd, Siedlung, Verkehr, Ackerbau, Krieg, ja die täglichen gewohnten Verrichtungen, mehr noch die einzelnen Lebensphasen: Geburt, Namengebung, Weihen, Krankheit, Tod geben in ihren eng umschriebnen Formen Bestandteile für die der Unterhaltung gewidmeten Erzählungen des primitiven Meuscheu ab. Ohne diese auf aber¬ gläubischen Bräuchen beruhenden Tatsachen können wir uns eine reichere, lebendigere Entfaltung des Untcrhaltungsbedürfnisses uicht denken. Eine weitere Grundbedingung für die Entstehung des Märchens ist eine gewisse Differen¬ zierung der Masse, die den Stamm bildet. So finden wir ja auf untersten Stufen schon mindestens eine formale Scheidung zwischen Ältern und Jüngern, Mächtigern und Schwächer», Negierern und Regierten, vielleicht gehört auch schou den frühesten Stufen der Entwicklung die Totemgliedernng an, die für die Er¬ zählungen der Wilden in bezug auf die Rolle, die die Tierwelt spielt, von be¬ sondrer Bedeutung ist. Nach dieser allgemeinen Skizziernng des gesellschaftlichen Untergrundes, auf dein das Märchen erwachsen ist, wenden wir uns zu der nicht minder wich¬ tigen Vorfrage: Wie steht es überhaupt mit dem Erzählungsbedürfnis des Wilden? Unter den der Unterhaltung gewidmeten Lebensäußerungen des Natur¬ menschen spielt die Erzählung eine hervorragende Rolle. Zur Erzählung treibt es ihn mit elementarem Zwang, er ist Erzähler aus Naturtrieb. Er erzählt von seinen Erlebnissen, er fabuliert über die Entstehung der Erde, der Sonne, der Sterne, über gewisse Bäume und Tiere, er zerbricht sich den Kopf über deu Tod, und was herauskommt, ist immer eine Erzählung. Der Trieb zum Er¬ zählen zieht so ziemlich alles, was in seinen Gesichtskreis eintritt und irgend¬ welchen stofflichen Reiz hat, in seinen Bann. Der Mensch auf niedern Ent¬ wicklungsstufen scheut, um sein Erzählungsbedürfnis zu befriedigen, nicht vor der Profanierung seiner höchsten göttlichen Mächte zurück, indem er eine Chronik von Erzählungen um sie webt, die uicht immer mit ihren sonstigen religiösen Empfindungen in Einklang stehn. So setzt die ganze geschichtliche und religiöse Tradition, über die ein primitives, schriftloses Volk verfügt, diesen elementaren Trieb zur Erzählung voraus. Selbstverständlich ist es immer nur das besonders begabte Individuum, das tatsächlich erzählt, und es ist zu beachten, daß obwohl fast überall Personen beiderlei Geschlechts an der Bewahrung und der Über¬ lieferung des traditionellen Erzählungsschatzes beteiligt sind, die Männer die eigentlichen Erfinder sind. Für die Stoffwahl lind den allgemeinen Charakter Grenzboten III 1907 4

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 66, 1907, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341885_302701/33>, abgerufen am 12.12.2024.