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Die Grenzboten. Jg. 66, 1907, Zweites Vierteljahr.

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Adolf Schmitchemier

keiner Pflicht und keinem Wunsche entzog, den er irgendwie erfüllen konnte,
das Leben gekostet hat. Mich hat immer gewundert, woher er die Zeit nahm,
um seine Erzählungen zu schreiben, da man stets den Eindruck in seinem
Hause hatte, seine Zeit sei so voll besetzt, daß es bei ihm auf eine Minuten-
rechuung ankomme, damit die Erfüllung einer Pflicht sich wenigstens an die
andre reihen könne. Von Erholungspausen gar nicht zu reden. Daß er bei
all der Überhäufung mit Amts- und freiwillig übernommnen Geschäften doch
schriftstellerisch tütig sein konnte, lag an zwei Dingen: einmal trug er seine
Stoffe so lange in sich, bis sie volles Leben und klare Gestaltung auch in der
äußern Linienführung gewonnen hatten, und ging dann erst ans Schreiben.
Wenn er aber zu schreiben anfing, dann machte ihm die Form nicht die aller¬
geringste Schwierigkeit. In tadellosem Stil schrieb er Seite um Seite, meist
ohne die allergeringste Korrektur, und die feinsten Stellen seiner Erzählungen,
namentlich Naturschilderungen von einer ganz unglaublichen Deutlichkeit und
Sicherheit, sind weder nach dem Notizbuch gefertigt -- ich glaube, er besaß
gar keins -- noch in mühsamer Feile erst vollkommen gemacht worden, sondern
hingeschrieben mit der innern Sicherheit eines dichterisch hellsehender Anges
und mit der absolut sichern Hand des gebornen Schriftstellers, der für jede
Stimmung des Herzens und der Natur den vollkommen deckenden Ausdruck
fand. Überhaupt war bei Schmitthenner der Dichter und Schriftsteller in
seltner Weise eins; nie hat der Dichter dem Schriftsteller Zugeständnisse ge¬
macht, aber auch nicht der Schriftsteller dem Dichter. Jenes darf nicht sein,
will sich der Dichter behaupten; dieses nicht, weil sonst der Dichter leicht
in das Uferlose der Phantasie oder gar der Phantastik gerät, eine Gefahr,
die gerade bei Schmitthenners reichem Innenleben und bei seiner Neigung
zum Romantischen nahe lag. Ich glaube auch nicht, daß Schmitthenners
Erzählungen technisch besser geworden wären, wenn er vorher sorgfältige
Skizzen gemacht oder sie nachher umgearbeitet hätte. Der einzigen Novelle, bei
der dieses der Fall war, seiner größten und einer der bedeutendsten, "Michel
Angelo", ist die wiederholte Umarbeitung künstlerisch betrachtet nicht zugute
gekommen. Der andre Grund, warum Schmitthenner neben seiner Überlastung
im Amte, das ja nicht bloß Predigt und Seelsorge in sich schloß, sondern
auch die Tätigkeit am theologischen Seminar der Hochschule, doch seine Er¬
zählungen schreiben konnte, lag darin, daß er jede freie halbe Stunde an
einer cingefangnen Erzählung weiter zu schreiben imstande war: so fest stand
innerlich alles fertig vor seinem geistigen Auge. In seinem Amte als Pfarrer
kam ihm neben der Leichtigkeit der Formgebung auch für seine Predigten,
die er wörtlich schrieb, sein ausgezeichnetes Gedächtnis zu Hilfe, das ihm
ermöglichte, in ganz unglaulich kurzer Zeit eine geschriebne Predigt wörtlich
auswendig zu lernen. Dabei waren seine Predigten Kunstwerke, einzelne
geradezu Dichtungen, allegorische Märchen, Novellen, dichterisches Nachschaffen
biblischer Situationen voll wunderbarer Anschaulichkeit. Andre Predigten


Adolf Schmitchemier

keiner Pflicht und keinem Wunsche entzog, den er irgendwie erfüllen konnte,
das Leben gekostet hat. Mich hat immer gewundert, woher er die Zeit nahm,
um seine Erzählungen zu schreiben, da man stets den Eindruck in seinem
Hause hatte, seine Zeit sei so voll besetzt, daß es bei ihm auf eine Minuten-
rechuung ankomme, damit die Erfüllung einer Pflicht sich wenigstens an die
andre reihen könne. Von Erholungspausen gar nicht zu reden. Daß er bei
all der Überhäufung mit Amts- und freiwillig übernommnen Geschäften doch
schriftstellerisch tütig sein konnte, lag an zwei Dingen: einmal trug er seine
Stoffe so lange in sich, bis sie volles Leben und klare Gestaltung auch in der
äußern Linienführung gewonnen hatten, und ging dann erst ans Schreiben.
Wenn er aber zu schreiben anfing, dann machte ihm die Form nicht die aller¬
geringste Schwierigkeit. In tadellosem Stil schrieb er Seite um Seite, meist
ohne die allergeringste Korrektur, und die feinsten Stellen seiner Erzählungen,
namentlich Naturschilderungen von einer ganz unglaublichen Deutlichkeit und
Sicherheit, sind weder nach dem Notizbuch gefertigt — ich glaube, er besaß
gar keins — noch in mühsamer Feile erst vollkommen gemacht worden, sondern
hingeschrieben mit der innern Sicherheit eines dichterisch hellsehender Anges
und mit der absolut sichern Hand des gebornen Schriftstellers, der für jede
Stimmung des Herzens und der Natur den vollkommen deckenden Ausdruck
fand. Überhaupt war bei Schmitthenner der Dichter und Schriftsteller in
seltner Weise eins; nie hat der Dichter dem Schriftsteller Zugeständnisse ge¬
macht, aber auch nicht der Schriftsteller dem Dichter. Jenes darf nicht sein,
will sich der Dichter behaupten; dieses nicht, weil sonst der Dichter leicht
in das Uferlose der Phantasie oder gar der Phantastik gerät, eine Gefahr,
die gerade bei Schmitthenners reichem Innenleben und bei seiner Neigung
zum Romantischen nahe lag. Ich glaube auch nicht, daß Schmitthenners
Erzählungen technisch besser geworden wären, wenn er vorher sorgfältige
Skizzen gemacht oder sie nachher umgearbeitet hätte. Der einzigen Novelle, bei
der dieses der Fall war, seiner größten und einer der bedeutendsten, „Michel
Angelo", ist die wiederholte Umarbeitung künstlerisch betrachtet nicht zugute
gekommen. Der andre Grund, warum Schmitthenner neben seiner Überlastung
im Amte, das ja nicht bloß Predigt und Seelsorge in sich schloß, sondern
auch die Tätigkeit am theologischen Seminar der Hochschule, doch seine Er¬
zählungen schreiben konnte, lag darin, daß er jede freie halbe Stunde an
einer cingefangnen Erzählung weiter zu schreiben imstande war: so fest stand
innerlich alles fertig vor seinem geistigen Auge. In seinem Amte als Pfarrer
kam ihm neben der Leichtigkeit der Formgebung auch für seine Predigten,
die er wörtlich schrieb, sein ausgezeichnetes Gedächtnis zu Hilfe, das ihm
ermöglichte, in ganz unglaulich kurzer Zeit eine geschriebne Predigt wörtlich
auswendig zu lernen. Dabei waren seine Predigten Kunstwerke, einzelne
geradezu Dichtungen, allegorische Märchen, Novellen, dichterisches Nachschaffen
biblischer Situationen voll wunderbarer Anschaulichkeit. Andre Predigten


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 66, 1907, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341885_301987/94>, abgerufen am 05.02.2025.