Die Grenzboten. Jg. 66, 1907, Zweites Vierteljahr.Falsche Ideale Herrschaft über das Leben gewinnen, ehe Sie volle Berechtigung erhalten, Nicht alle Berufe geben einen vollen Einblick in das Getriebe der Welt Außerdem hat der deutsche Schriftsteller bei unserm Kastengeist wenig Ge¬ Nach unsrer Ansicht fehlt es ihnen an Einbildungskraft keineswegs, wohl Alfred Freiherr von Berger, Über Drama und Theater. Leipzig, 1900. S, 40 ff.
Falsche Ideale Herrschaft über das Leben gewinnen, ehe Sie volle Berechtigung erhalten, Nicht alle Berufe geben einen vollen Einblick in das Getriebe der Welt Außerdem hat der deutsche Schriftsteller bei unserm Kastengeist wenig Ge¬ Nach unsrer Ansicht fehlt es ihnen an Einbildungskraft keineswegs, wohl Alfred Freiherr von Berger, Über Drama und Theater. Leipzig, 1900. S, 40 ff.
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Falsche Ideale
Herrschaft über das Leben gewinnen, ehe Sie volle Berechtigung erhalten,
Menschenschicksale künstlerisch zu idealisieren."
Nicht alle Berufe geben einen vollen Einblick in das Getriebe der Welt
und der Menschen. Die Berufe, die meist mit Kindern und Frauen in Be¬
rührung kommen, deren geistige Fähigkeiten wenig entwickelt und deren Er¬
fahrungen gering sind, verschaffen eine geringere Menschenkenntnis und Lebens¬
erfahrung als die, die mit Männern zu tun haben, die im praktischen Leben
gereift sind und sich die Bildung unsrer Zeit angeeignet haben. Daß zum Bei¬
spiel die Geistlichkeit mit weltlichen Dingen wenig vertraut ist, ersieht man ans
der Geschichte des Kirchenstaats, dessen Verwaltung die schlechteste aller Länder
war. Im allgemeinen herrscht in der Schriftstellerwelt eine tiefe Abneigung
gegen jeden Beruf, die so weit geht, daß sie jeden für einen Philister hält, der
sich nicht ausschließlich literarischen oder künstlerischen Arbeiten widmet. In¬
folgedessen stellen sich Fernstehende den Schriftsteller gewöhnlich als einen Mann
vor, der für jeden Beruf untauglich ist.
Außerdem hat der deutsche Schriftsteller bei unserm Kastengeist wenig Ge¬
legenheit, größere Interessenkreise kennen zu lernen. Während der französische
und der englische Schriftsteller, der einen Namen hat, zur „Gesellschaft" gehört,
bleibt der deutsche gewöhnlich höhern Ständen fern, wenn er nicht durch Geburt
oder Berufsstellung dazu gehört, oder erhält Einladungen nur von Leuten, die
sich den Schein geben wollen, als hätten sie eine gewisse Fühlung mit der
Literatur. Die Folge dieser Abgeschlossenheit ist, daß der Schriftsteller, der meist
aus nieder»? Schichten stammt, mir deren Leben und Ansichten beschreibt. Man
macht aus der Not eine Tugend, wenn man Dichtungen, in denen der Schrift¬
steller die Verhältnisse seiner engern Heimat zeichnet, „Heimatkunst" nennt.
Über diese Eigentümlichkeit unsrer Literatur urteilt ein Theaterdirektor") fol¬
gendermaßen: „Sehen wir, von seltnen Ausnahmen abgesehen, ans unsern Bühnen
etwas von der Menschheit großen Gegenständen? Außer mannigfaltigen Idyllen
des Elends meist gröbere oder feinere Herzenssachen mit einem mehr oder minder
süßen Müdel und geistige Entwicklnngsnöte eines jungen Menschen, der sich
mit mehr oder minder Recht für ein Genie hält." Der Verfasser macht dann
das moderne Miliendrama dafür verantwortlich, das nur die Bearbeitung des
Persönlich Erlebten gestatte, und meint, es sei Mangel an Phantasie bei unsern
Dichtern, die sich in andre Lebenslagen nicht zu versetzen verstünden.
Nach unsrer Ansicht fehlt es ihnen an Einbildungskraft keineswegs, wohl
aber an Erfahrung und Menschenkenntnis. Es geht ihnen wie den Frauen,
die ausschließlich in ihrer Familie und in Gesellschaft Verkehren und dort mir
die angenehme Oberfläche der Dinge kennen lernen. Das ist auch der Grund,
weshalb sich unsre Unterhaltungsliteratur, die zum größten Teil in den Händen
von Frauen liegt, noch immer in den alten ausgetretnen Bahnen bewegt und
Alfred Freiherr von Berger, Über Drama und Theater. Leipzig, 1900. S, 40 ff.
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