Die Grenzboten. Jg. 66, 1907, Zweites Vierteljahr.Falsche Ideale vom modernen Leben nichts in sich aufgenommen hat, Ihre Konflikte liegen In frühern Jahrhunderten waren fast alle Menschen unfrei und konnten Wir wollen aber nicht so einseitig sein wie die Naturalisten und ihre Un¬ Falsche Ideale vom modernen Leben nichts in sich aufgenommen hat, Ihre Konflikte liegen In frühern Jahrhunderten waren fast alle Menschen unfrei und konnten Wir wollen aber nicht so einseitig sein wie die Naturalisten und ihre Un¬ <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <pb facs="#f0086" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/302074"/> <fw type="header" place="top"> Falsche Ideale</fw><lb/> <p xml:id="ID_328" prev="#ID_327"> vom modernen Leben nichts in sich aufgenommen hat, Ihre Konflikte liegen<lb/> in dem Erfahrungskreise junger Mädchen, deren Ziel die Ehe ist, mit der ihre<lb/> Erzeugnisse gewöhnlich enden. Nur bei der täglichen Erwerbsarbeit lernt ein<lb/> Mensch den andern genau kennen, und wer hier Erfahrungen sammelt, vermag<lb/> auch die Kämpfe andrer Lebenskreise zu versteh», da sich der menschliche Charakter<lb/> in allen Ständen und Verhältnissen gleich bleibt. Der Mangel an Erfahrung<lb/> erklärt ferner die merkwürdige Erscheinung, daß der naturalistische Schriftsteller<lb/> historische Stoffe selten bearbeitet, trotzdem in zahlreichen Geschichtswerken und<lb/> Memoiren genügende Einzelheiten niedergelegt sind. Die abgeschlossene Lebens¬<lb/> weise verhindert den Schriftsteller, seinen eignen Charakter zu entwickeln. Die<lb/> Ausbildung seiner Willenskraft ist für ihn von großer Bedeutung, da sie ebenso<lb/> wie Gefühl, Phantasie und Verstand deutliche Spuren in seinen Werken hinter¬<lb/> läßt. Die naturalistische Lebensanschauung übersieht diese Kraft, die Hindernisse<lb/> zu beseitigen und widrige Verhältnisse umzugestalten vermag, und deshalb<lb/> herrschen in den Schriften der Modernen Schwachmut und Stumpfheit, die alles<lb/> über sich ergehn lassen.</p><lb/> <p xml:id="ID_329"> In frühern Jahrhunderten waren fast alle Menschen unfrei und konnten<lb/> sich mir durch freiwilligen Tod von dem steten Druck befreien. Heute genießen<lb/> wir in sozialer, sittlicher und politischer Beziehung eine größere Freiheit und<lb/> können uns fast jeder Unterdrückung entziehn, wenn wir einen festen Charakter<lb/> haben. Ist er indessen schwach, und werden wir uns des Druckes, der auf uns<lb/> lastet, bewußt, so entsteht in uns jene Stimmung, die wir Sentimentalität nennen.<lb/> Die Konflikte unsrer Naturalisten wie unsrer Familienblattschriftsteller werden<lb/> meist in dieser sentimentalen und rückständigen Weise gelöst. Was bedeutet für<lb/> uns die Verweigerung der elterlichen Zustimmung zur Ehe, da jeder Mündige<lb/> deren nicht mehr bedarf? Was sind in der heutigen Welt Ehekonflikte, die in<lb/> den meisten Ländern durch Scheidung gelöst werden können? Was sind für uus<lb/> religiöse Kämpfe, wo wir Gedankenfreiheit und Freiheit des Bekenntnisses haben?<lb/> Nur ein Schwächling weiß sich aus solchen Konflikten nicht herauszufinden und<lb/> verdient weder unser Mitgefühl noch unsre Teilnahme.</p><lb/> <p xml:id="ID_330" next="#ID_331"> Wir wollen aber nicht so einseitig sein wie die Naturalisten und ihre Un¬<lb/> klarheiten, Widersprüche und Schwächen nicht allein aus ihrem Milieu erklären.<lb/> Auch ihre Weltanschauung — also ein geistiges Moment — wirkt auf ihre<lb/> Schriften ein. Die Gebildeten huldigen vielfach dem Materialismus, in dem<lb/> sie die einzig wahre, wissenschaftliche Weltanschauung sehen. Wenn alles aus<lb/> Stoff besteht, und immaterielle Wesen nicht vorhanden sind, so ist die Theorie<lb/> von der Vererbung körperlicher Eigenschaften auch auf die geistigen auszudehnen.<lb/> Ist aber das Leben des Menschen mit dem Tode zu Ende, so muß jeder danach<lb/> streben, möglichst viele Güter auf dieser Welt zu erobern, damit er sein Glücks¬<lb/> bedürfnis befriedigen kann. Dieses Glück kann sich aber nur auf sinnliche Güter<lb/> erstrecken, da es andre nach Ansicht des Materialismus nicht gibt. Die Folge<lb/> dieser Weltanschauung ist ein Egoismus, der alles rücksichtslos niedertritt. Ihre</p><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0086]
Falsche Ideale
vom modernen Leben nichts in sich aufgenommen hat, Ihre Konflikte liegen
in dem Erfahrungskreise junger Mädchen, deren Ziel die Ehe ist, mit der ihre
Erzeugnisse gewöhnlich enden. Nur bei der täglichen Erwerbsarbeit lernt ein
Mensch den andern genau kennen, und wer hier Erfahrungen sammelt, vermag
auch die Kämpfe andrer Lebenskreise zu versteh», da sich der menschliche Charakter
in allen Ständen und Verhältnissen gleich bleibt. Der Mangel an Erfahrung
erklärt ferner die merkwürdige Erscheinung, daß der naturalistische Schriftsteller
historische Stoffe selten bearbeitet, trotzdem in zahlreichen Geschichtswerken und
Memoiren genügende Einzelheiten niedergelegt sind. Die abgeschlossene Lebens¬
weise verhindert den Schriftsteller, seinen eignen Charakter zu entwickeln. Die
Ausbildung seiner Willenskraft ist für ihn von großer Bedeutung, da sie ebenso
wie Gefühl, Phantasie und Verstand deutliche Spuren in seinen Werken hinter¬
läßt. Die naturalistische Lebensanschauung übersieht diese Kraft, die Hindernisse
zu beseitigen und widrige Verhältnisse umzugestalten vermag, und deshalb
herrschen in den Schriften der Modernen Schwachmut und Stumpfheit, die alles
über sich ergehn lassen.
In frühern Jahrhunderten waren fast alle Menschen unfrei und konnten
sich mir durch freiwilligen Tod von dem steten Druck befreien. Heute genießen
wir in sozialer, sittlicher und politischer Beziehung eine größere Freiheit und
können uns fast jeder Unterdrückung entziehn, wenn wir einen festen Charakter
haben. Ist er indessen schwach, und werden wir uns des Druckes, der auf uns
lastet, bewußt, so entsteht in uns jene Stimmung, die wir Sentimentalität nennen.
Die Konflikte unsrer Naturalisten wie unsrer Familienblattschriftsteller werden
meist in dieser sentimentalen und rückständigen Weise gelöst. Was bedeutet für
uns die Verweigerung der elterlichen Zustimmung zur Ehe, da jeder Mündige
deren nicht mehr bedarf? Was sind in der heutigen Welt Ehekonflikte, die in
den meisten Ländern durch Scheidung gelöst werden können? Was sind für uus
religiöse Kämpfe, wo wir Gedankenfreiheit und Freiheit des Bekenntnisses haben?
Nur ein Schwächling weiß sich aus solchen Konflikten nicht herauszufinden und
verdient weder unser Mitgefühl noch unsre Teilnahme.
Wir wollen aber nicht so einseitig sein wie die Naturalisten und ihre Un¬
klarheiten, Widersprüche und Schwächen nicht allein aus ihrem Milieu erklären.
Auch ihre Weltanschauung — also ein geistiges Moment — wirkt auf ihre
Schriften ein. Die Gebildeten huldigen vielfach dem Materialismus, in dem
sie die einzig wahre, wissenschaftliche Weltanschauung sehen. Wenn alles aus
Stoff besteht, und immaterielle Wesen nicht vorhanden sind, so ist die Theorie
von der Vererbung körperlicher Eigenschaften auch auf die geistigen auszudehnen.
Ist aber das Leben des Menschen mit dem Tode zu Ende, so muß jeder danach
streben, möglichst viele Güter auf dieser Welt zu erobern, damit er sein Glücks¬
bedürfnis befriedigen kann. Dieses Glück kann sich aber nur auf sinnliche Güter
erstrecken, da es andre nach Ansicht des Materialismus nicht gibt. Die Folge
dieser Weltanschauung ist ein Egoismus, der alles rücksichtslos niedertritt. Ihre
Informationen zum Werk
Download dieses Werks
XML (TEI P5) ·
HTML ·
Text Metadaten zum WerkTEI-Header · CMDI · Dublin Core Ansichten dieser Seite
FeedbackSie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden. Kommentar zur DTA-AusgabeDieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen … Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.
Weitere Informationen:Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur. Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (ꝛ): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja; Nachkorrektur erfolgte automatisch.
|
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden. Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des § 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
2007–2025 Deutsches Textarchiv, Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften.
Kontakt: redaktion(at)deutschestextarchiv.de. |