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Die Grenzboten. Jg. 66, 1907, Zweites Vierteljahr.

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Falsche Ideale

gelöst werden, sobald sich die Gegensätze herausgestellt haben. An Stelle der
Ehe wird die "freie Liebe" verlangt, unter der jedoch nicht die gänzliche Auf¬
hebung des Zusammenlebens von Mann und Weib verstanden wird, sondern
eine Ehe, die, ohne gesetzliche Pflichten aufzuerlegen, zu jeder Zeit gelöst werden
kann. Mit dieser "freien Liebe" verbunden findet sich oft die Franenemanzipcüion,
die der Frau neben der Führung des Hausstandes und der Erziehung der Kinder
auch noch einen Beruf aufbürdet. Bisher hat es als einen Fortschritt gegolten,
die menschliche Arbeit möglichst zu teilen, weil dadurch die Einzelleistung erhöht
wird. Im Laufe der Zeit hat man der Hausfrau, die früher Bäckerin, Spinnerin,
Weberin und Schneiderin in einer Person war, immer mehr Arbeit abgenommen
und das als einen Fortschritt gepriesen -- jetzt soll die Frau den Manu im
Erwerb der Mittel zum Unterhalt der Familie unterstützen und einem eignen
Beruf nachgehn! Auch bei der Behandlung des Dirnenproblems steht der Na¬
turalismus ganz im Bann seiner Theorien. Wie der Sozialismus betrachtet
er die Prostitution ausschließlich als eine Folge der gegenwärtigen wirtschaft¬
lichen Verhältnisse und beachtet nicht, daß sie zu allen Zeiten und bei allen
Völkern bestanden hat. Männer, die die Welt kennen, sind der Ansicht, daß
das Dirnentum seine Ursache hat in Faulheit, die bequemen Erwerb harter
Arbeit vorzieht, und Unwissenheit, die die Unschuld leicht zu Fall kommen läßt.
Die Fälle, wo äußere Verhältnisse die treibende Kraft waren, sind selten. Die
politischen Gedanken des Naturalismus sind ebenso unklar. Er wirbt Anhänger
für die Abrüstung und den Weltfrieden, während ein Krieg den andern ablöst.
Obgleich er der Ansicht huldigt, daß sich die Menschheit durch den Kampf uns
Dasein weiter entwickelt, verwirft er doch den Kampf der Völker, die auch als
Individuen zu betrachten sind.

Aus dieser kurzen Zusammenstellung ist ersichtlich, daß die naturalistischen
Ideen und Theorien Widersprüche und Unklarheiten enthalten und keineswegs
Ergebnisse der modernen Wissenschaft sind. Ebensowenig sind sie mit den Er¬
fahrungen des praktischen Lebens vereinbar. Sie haben etwas Unreifes an sich,
daß man unwillkürlich versucht ist, sich die Träger dieser Gedanken auf ihre
Persönlichkeit hin anzusehen. Dabei macht man die überraschende Entdeckung,
daß es Schriftsteller sind, die in ganz jungen Jahren, meist Anfang der Zwanziger,
ihre Gedanken der öffentlichen Beurteilung übergeben haben. Sieht man sich
ihre äußern Verhältnisse an, so erfährt man, daß sie kaum der Schule oder der
Universität entwachsen, ihre Existenz auf die Erträgnisse ihrer Federarbeit gestellt
haben. Nur wenige von unsern naturalistischen Schriftstellern haben einen
Beruf gehabt, in dem sie Welt und Menschen kennen lernen konnten. Den Ein¬
fluß der Berufsarbeit auf die Tätigkeit des Schriftstellers hat Gustav Frehtag
in einem Briefe an einen Studenten, der ihm 1883 eine Novelle zur Begut¬
achtung übersandt hatte, mit den Worten gekennzeichnet! "Erst müssen Sie durch
ernste Geistesarbeit und durch die Stellung, welche Ihnen eine solche unter den
Mitlebenden verschaffen kann, zum Manne reifen, und Sie müssen eine gewisse


Falsche Ideale

gelöst werden, sobald sich die Gegensätze herausgestellt haben. An Stelle der
Ehe wird die „freie Liebe" verlangt, unter der jedoch nicht die gänzliche Auf¬
hebung des Zusammenlebens von Mann und Weib verstanden wird, sondern
eine Ehe, die, ohne gesetzliche Pflichten aufzuerlegen, zu jeder Zeit gelöst werden
kann. Mit dieser „freien Liebe" verbunden findet sich oft die Franenemanzipcüion,
die der Frau neben der Führung des Hausstandes und der Erziehung der Kinder
auch noch einen Beruf aufbürdet. Bisher hat es als einen Fortschritt gegolten,
die menschliche Arbeit möglichst zu teilen, weil dadurch die Einzelleistung erhöht
wird. Im Laufe der Zeit hat man der Hausfrau, die früher Bäckerin, Spinnerin,
Weberin und Schneiderin in einer Person war, immer mehr Arbeit abgenommen
und das als einen Fortschritt gepriesen — jetzt soll die Frau den Manu im
Erwerb der Mittel zum Unterhalt der Familie unterstützen und einem eignen
Beruf nachgehn! Auch bei der Behandlung des Dirnenproblems steht der Na¬
turalismus ganz im Bann seiner Theorien. Wie der Sozialismus betrachtet
er die Prostitution ausschließlich als eine Folge der gegenwärtigen wirtschaft¬
lichen Verhältnisse und beachtet nicht, daß sie zu allen Zeiten und bei allen
Völkern bestanden hat. Männer, die die Welt kennen, sind der Ansicht, daß
das Dirnentum seine Ursache hat in Faulheit, die bequemen Erwerb harter
Arbeit vorzieht, und Unwissenheit, die die Unschuld leicht zu Fall kommen läßt.
Die Fälle, wo äußere Verhältnisse die treibende Kraft waren, sind selten. Die
politischen Gedanken des Naturalismus sind ebenso unklar. Er wirbt Anhänger
für die Abrüstung und den Weltfrieden, während ein Krieg den andern ablöst.
Obgleich er der Ansicht huldigt, daß sich die Menschheit durch den Kampf uns
Dasein weiter entwickelt, verwirft er doch den Kampf der Völker, die auch als
Individuen zu betrachten sind.

Aus dieser kurzen Zusammenstellung ist ersichtlich, daß die naturalistischen
Ideen und Theorien Widersprüche und Unklarheiten enthalten und keineswegs
Ergebnisse der modernen Wissenschaft sind. Ebensowenig sind sie mit den Er¬
fahrungen des praktischen Lebens vereinbar. Sie haben etwas Unreifes an sich,
daß man unwillkürlich versucht ist, sich die Träger dieser Gedanken auf ihre
Persönlichkeit hin anzusehen. Dabei macht man die überraschende Entdeckung,
daß es Schriftsteller sind, die in ganz jungen Jahren, meist Anfang der Zwanziger,
ihre Gedanken der öffentlichen Beurteilung übergeben haben. Sieht man sich
ihre äußern Verhältnisse an, so erfährt man, daß sie kaum der Schule oder der
Universität entwachsen, ihre Existenz auf die Erträgnisse ihrer Federarbeit gestellt
haben. Nur wenige von unsern naturalistischen Schriftstellern haben einen
Beruf gehabt, in dem sie Welt und Menschen kennen lernen konnten. Den Ein¬
fluß der Berufsarbeit auf die Tätigkeit des Schriftstellers hat Gustav Frehtag
in einem Briefe an einen Studenten, der ihm 1883 eine Novelle zur Begut¬
achtung übersandt hatte, mit den Worten gekennzeichnet! „Erst müssen Sie durch
ernste Geistesarbeit und durch die Stellung, welche Ihnen eine solche unter den
Mitlebenden verschaffen kann, zum Manne reifen, und Sie müssen eine gewisse


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[0084] Falsche Ideale gelöst werden, sobald sich die Gegensätze herausgestellt haben. An Stelle der Ehe wird die „freie Liebe" verlangt, unter der jedoch nicht die gänzliche Auf¬ hebung des Zusammenlebens von Mann und Weib verstanden wird, sondern eine Ehe, die, ohne gesetzliche Pflichten aufzuerlegen, zu jeder Zeit gelöst werden kann. Mit dieser „freien Liebe" verbunden findet sich oft die Franenemanzipcüion, die der Frau neben der Führung des Hausstandes und der Erziehung der Kinder auch noch einen Beruf aufbürdet. Bisher hat es als einen Fortschritt gegolten, die menschliche Arbeit möglichst zu teilen, weil dadurch die Einzelleistung erhöht wird. Im Laufe der Zeit hat man der Hausfrau, die früher Bäckerin, Spinnerin, Weberin und Schneiderin in einer Person war, immer mehr Arbeit abgenommen und das als einen Fortschritt gepriesen — jetzt soll die Frau den Manu im Erwerb der Mittel zum Unterhalt der Familie unterstützen und einem eignen Beruf nachgehn! Auch bei der Behandlung des Dirnenproblems steht der Na¬ turalismus ganz im Bann seiner Theorien. Wie der Sozialismus betrachtet er die Prostitution ausschließlich als eine Folge der gegenwärtigen wirtschaft¬ lichen Verhältnisse und beachtet nicht, daß sie zu allen Zeiten und bei allen Völkern bestanden hat. Männer, die die Welt kennen, sind der Ansicht, daß das Dirnentum seine Ursache hat in Faulheit, die bequemen Erwerb harter Arbeit vorzieht, und Unwissenheit, die die Unschuld leicht zu Fall kommen läßt. Die Fälle, wo äußere Verhältnisse die treibende Kraft waren, sind selten. Die politischen Gedanken des Naturalismus sind ebenso unklar. Er wirbt Anhänger für die Abrüstung und den Weltfrieden, während ein Krieg den andern ablöst. Obgleich er der Ansicht huldigt, daß sich die Menschheit durch den Kampf uns Dasein weiter entwickelt, verwirft er doch den Kampf der Völker, die auch als Individuen zu betrachten sind. Aus dieser kurzen Zusammenstellung ist ersichtlich, daß die naturalistischen Ideen und Theorien Widersprüche und Unklarheiten enthalten und keineswegs Ergebnisse der modernen Wissenschaft sind. Ebensowenig sind sie mit den Er¬ fahrungen des praktischen Lebens vereinbar. Sie haben etwas Unreifes an sich, daß man unwillkürlich versucht ist, sich die Träger dieser Gedanken auf ihre Persönlichkeit hin anzusehen. Dabei macht man die überraschende Entdeckung, daß es Schriftsteller sind, die in ganz jungen Jahren, meist Anfang der Zwanziger, ihre Gedanken der öffentlichen Beurteilung übergeben haben. Sieht man sich ihre äußern Verhältnisse an, so erfährt man, daß sie kaum der Schule oder der Universität entwachsen, ihre Existenz auf die Erträgnisse ihrer Federarbeit gestellt haben. Nur wenige von unsern naturalistischen Schriftstellern haben einen Beruf gehabt, in dem sie Welt und Menschen kennen lernen konnten. Den Ein¬ fluß der Berufsarbeit auf die Tätigkeit des Schriftstellers hat Gustav Frehtag in einem Briefe an einen Studenten, der ihm 1883 eine Novelle zur Begut¬ achtung übersandt hatte, mit den Worten gekennzeichnet! „Erst müssen Sie durch ernste Geistesarbeit und durch die Stellung, welche Ihnen eine solche unter den Mitlebenden verschaffen kann, zum Manne reifen, und Sie müssen eine gewisse

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 66, 1907, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341885_301987/84>, abgerufen am 06.02.2025.