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Die Grenzboten. Jg. 66, 1907, Zweites Vierteljahr.

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Maßgebliches und Unmaßgebliches

Europa mächtig erregenden Eroberungskrieg begann -- den ersten Krieg zwischen
weißen, christlichen Völkern im dunkeln Weltteil --, und daß gerade die Macht,
auf deren Anregung die erste Haager Konferenz zusammengetreten war, Rußland,
die erste war, die einen großen Krieg zu führen hatte, der das ungeheure Reich
in seinen Grundfesten erschütterte. Seitdem ist das Mißtrauen gegen Friedens¬
konferenzen bedeutend verstärkt worden.

Eine andre Schätzung bekommt die Haager Konferenz, wenn man sie als das
nimmt, was sie nach Ausschaltung aller unklaren und gefährlichen Abrüstuugsideen
und Vorschläge zur Friedenserzwingung wirklich ist, nämlich eine Konferenz zum
Ausbau des Völkerrechts. In dieser Beziehung darf man von den Verhandlungen
günstige und nützliche Ergebnisse erwarten. Ob alle wichtigen Fragen, die zur
Erörterung stehn, zur Entscheidung gebracht werden können, steht freilich dahin.
Das gilt besonders von der Reform des Seekriegsrechts. Wer der Meinungs¬
austausch über die Fragen des Blockaderechts und über den Schutz des Privat¬
eigentums zur See wird sicherlich nicht ganz ohne Nutzen sein, und wenn auch nicht
die letzte Entscheidung, so doch eine sehr wünschenswerte Klärung herbeiführen.

Den formellen Vorsitz bei den soeben eröffneten Verhandlungen führt wiederum
Rußland durch seinen ersten Bevollmächtigten, Herrn von Nelidow. Von Rußland
gingen auch diesmal die Einladungen zur Konferenz aus, wie es ja schon im Jahre
1899 die Führung übernommen hatte, nachdem der Erlaß des Zaren von 1893
die erste Anregung gegeben hatte. Damals wußte man nicht recht, was man aus
der russischen Initiative machen und wie man sie deuten sollte. Jetzt liegen die
Verhältnisse in dieser Beziehung klarer und einfacher. Nußland hat die große, ge¬
waltsame Auseinandersetzung mit Japan hinter sich, sein Friedens- und Sammlungs¬
bedürfnis ist zweifellos aufrichtig, und es ist froh, daß die Delegierten der neuen
ostasintischen Großmacht, des Verbündeten Englands, im Haag erschienen sind, um
friedlich mit zu beraten. Die innern Zustände Rußlands geben der Welt noch
immer die schwierigsten Rätsel auf. Die Unfähigkeit der Reichsduma, positive Arbeit
zu leisten und die grundlegenden Voraussetzungen staatlicher Ordnung und gesetz¬
licher Reformarbeit zu respektieren, hat eine neue Verfassuugskrise heraufbeschworen,
die mit der abermaligen Auflösung der Duma geendet hat. Man wird diesen Ent¬
schluß der russischen Negierung durchaus verständlich finden müssen. Das Unglück für
Rußland besteht ja darin, daß auch in den revolutionären Kräften, die eben mit Mühe
und Not ausgereicht haben, das alte System zu stürzen oder es wenigstens zur Ent¬
gleisung zu bringen, nicht der geringste Ansatz zu einer positiven Fähigkeit zu entdecken
ist, ja nicht einmal die Kraft zum wirklichen Zerstören. Der noch vor zwei Jahren
-- allerdings nur im Munde Unkundiger -- so beliebte Vergleich der russischen
mit der großen französischen Revolution hinkt so stark auf beiden Beinen, daß selbst
die Krücken der lebhaftesten Einbildung ihm nicht mehr weiter helfen. Von einer
steigenden, gelegentlich fessellos tobenden Hochflut ungebändigter Volkskraft, die ihr
Recht fordert und im wilden Drang nach einer neuen Ordnung der Dinge neue
Persönlichkeiten ohne Wahl -- würdige und unwürdige, aber doch immer Persön¬
lichkeiten! -- an die Oberfläche trägt, ist in Rußland nicht die Rede. Das Rütteln
an der alten, halb erstarrten, halb verfaulten Staats- und Gesellschaftsordnung hat
gerade so viel barbarische Instinkte entfesselt, um das Vertrauen in die gesetzliche
Ordnung und eine ruhige Entwicklung zu erschüttern und jeden ehrlichen, guten
Willen abzuschrecken, aber weiter reicht diese revolutionäre Kraft nicht. Es wirkt
wie blutiger Hohn, daß die alte Polizeiwillkür und Beamtenkorruption nur gerade
so weit erschüttert ist, um den Raum für gelegentliche Putsche, Mordtaten, Raub¬
züge durch Banken und öffentliche Kassen und dergleichen frei zu machen. Es wäre
lächerlich, diese feigen und rohen Ausschreitungen niedrigster Sorte mit dem zügel¬
losen Toben der französischen Schreckensmänner von 1793 zu vergleichen, die bei


Maßgebliches und Unmaßgebliches

Europa mächtig erregenden Eroberungskrieg begann — den ersten Krieg zwischen
weißen, christlichen Völkern im dunkeln Weltteil —, und daß gerade die Macht,
auf deren Anregung die erste Haager Konferenz zusammengetreten war, Rußland,
die erste war, die einen großen Krieg zu führen hatte, der das ungeheure Reich
in seinen Grundfesten erschütterte. Seitdem ist das Mißtrauen gegen Friedens¬
konferenzen bedeutend verstärkt worden.

Eine andre Schätzung bekommt die Haager Konferenz, wenn man sie als das
nimmt, was sie nach Ausschaltung aller unklaren und gefährlichen Abrüstuugsideen
und Vorschläge zur Friedenserzwingung wirklich ist, nämlich eine Konferenz zum
Ausbau des Völkerrechts. In dieser Beziehung darf man von den Verhandlungen
günstige und nützliche Ergebnisse erwarten. Ob alle wichtigen Fragen, die zur
Erörterung stehn, zur Entscheidung gebracht werden können, steht freilich dahin.
Das gilt besonders von der Reform des Seekriegsrechts. Wer der Meinungs¬
austausch über die Fragen des Blockaderechts und über den Schutz des Privat¬
eigentums zur See wird sicherlich nicht ganz ohne Nutzen sein, und wenn auch nicht
die letzte Entscheidung, so doch eine sehr wünschenswerte Klärung herbeiführen.

Den formellen Vorsitz bei den soeben eröffneten Verhandlungen führt wiederum
Rußland durch seinen ersten Bevollmächtigten, Herrn von Nelidow. Von Rußland
gingen auch diesmal die Einladungen zur Konferenz aus, wie es ja schon im Jahre
1899 die Führung übernommen hatte, nachdem der Erlaß des Zaren von 1893
die erste Anregung gegeben hatte. Damals wußte man nicht recht, was man aus
der russischen Initiative machen und wie man sie deuten sollte. Jetzt liegen die
Verhältnisse in dieser Beziehung klarer und einfacher. Nußland hat die große, ge¬
waltsame Auseinandersetzung mit Japan hinter sich, sein Friedens- und Sammlungs¬
bedürfnis ist zweifellos aufrichtig, und es ist froh, daß die Delegierten der neuen
ostasintischen Großmacht, des Verbündeten Englands, im Haag erschienen sind, um
friedlich mit zu beraten. Die innern Zustände Rußlands geben der Welt noch
immer die schwierigsten Rätsel auf. Die Unfähigkeit der Reichsduma, positive Arbeit
zu leisten und die grundlegenden Voraussetzungen staatlicher Ordnung und gesetz¬
licher Reformarbeit zu respektieren, hat eine neue Verfassuugskrise heraufbeschworen,
die mit der abermaligen Auflösung der Duma geendet hat. Man wird diesen Ent¬
schluß der russischen Negierung durchaus verständlich finden müssen. Das Unglück für
Rußland besteht ja darin, daß auch in den revolutionären Kräften, die eben mit Mühe
und Not ausgereicht haben, das alte System zu stürzen oder es wenigstens zur Ent¬
gleisung zu bringen, nicht der geringste Ansatz zu einer positiven Fähigkeit zu entdecken
ist, ja nicht einmal die Kraft zum wirklichen Zerstören. Der noch vor zwei Jahren
— allerdings nur im Munde Unkundiger — so beliebte Vergleich der russischen
mit der großen französischen Revolution hinkt so stark auf beiden Beinen, daß selbst
die Krücken der lebhaftesten Einbildung ihm nicht mehr weiter helfen. Von einer
steigenden, gelegentlich fessellos tobenden Hochflut ungebändigter Volkskraft, die ihr
Recht fordert und im wilden Drang nach einer neuen Ordnung der Dinge neue
Persönlichkeiten ohne Wahl — würdige und unwürdige, aber doch immer Persön¬
lichkeiten! — an die Oberfläche trägt, ist in Rußland nicht die Rede. Das Rütteln
an der alten, halb erstarrten, halb verfaulten Staats- und Gesellschaftsordnung hat
gerade so viel barbarische Instinkte entfesselt, um das Vertrauen in die gesetzliche
Ordnung und eine ruhige Entwicklung zu erschüttern und jeden ehrlichen, guten
Willen abzuschrecken, aber weiter reicht diese revolutionäre Kraft nicht. Es wirkt
wie blutiger Hohn, daß die alte Polizeiwillkür und Beamtenkorruption nur gerade
so weit erschüttert ist, um den Raum für gelegentliche Putsche, Mordtaten, Raub¬
züge durch Banken und öffentliche Kassen und dergleichen frei zu machen. Es wäre
lächerlich, diese feigen und rohen Ausschreitungen niedrigster Sorte mit dem zügel¬
losen Toben der französischen Schreckensmänner von 1793 zu vergleichen, die bei


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[0646] Maßgebliches und Unmaßgebliches Europa mächtig erregenden Eroberungskrieg begann — den ersten Krieg zwischen weißen, christlichen Völkern im dunkeln Weltteil —, und daß gerade die Macht, auf deren Anregung die erste Haager Konferenz zusammengetreten war, Rußland, die erste war, die einen großen Krieg zu führen hatte, der das ungeheure Reich in seinen Grundfesten erschütterte. Seitdem ist das Mißtrauen gegen Friedens¬ konferenzen bedeutend verstärkt worden. Eine andre Schätzung bekommt die Haager Konferenz, wenn man sie als das nimmt, was sie nach Ausschaltung aller unklaren und gefährlichen Abrüstuugsideen und Vorschläge zur Friedenserzwingung wirklich ist, nämlich eine Konferenz zum Ausbau des Völkerrechts. In dieser Beziehung darf man von den Verhandlungen günstige und nützliche Ergebnisse erwarten. Ob alle wichtigen Fragen, die zur Erörterung stehn, zur Entscheidung gebracht werden können, steht freilich dahin. Das gilt besonders von der Reform des Seekriegsrechts. Wer der Meinungs¬ austausch über die Fragen des Blockaderechts und über den Schutz des Privat¬ eigentums zur See wird sicherlich nicht ganz ohne Nutzen sein, und wenn auch nicht die letzte Entscheidung, so doch eine sehr wünschenswerte Klärung herbeiführen. Den formellen Vorsitz bei den soeben eröffneten Verhandlungen führt wiederum Rußland durch seinen ersten Bevollmächtigten, Herrn von Nelidow. Von Rußland gingen auch diesmal die Einladungen zur Konferenz aus, wie es ja schon im Jahre 1899 die Führung übernommen hatte, nachdem der Erlaß des Zaren von 1893 die erste Anregung gegeben hatte. Damals wußte man nicht recht, was man aus der russischen Initiative machen und wie man sie deuten sollte. Jetzt liegen die Verhältnisse in dieser Beziehung klarer und einfacher. Nußland hat die große, ge¬ waltsame Auseinandersetzung mit Japan hinter sich, sein Friedens- und Sammlungs¬ bedürfnis ist zweifellos aufrichtig, und es ist froh, daß die Delegierten der neuen ostasintischen Großmacht, des Verbündeten Englands, im Haag erschienen sind, um friedlich mit zu beraten. Die innern Zustände Rußlands geben der Welt noch immer die schwierigsten Rätsel auf. Die Unfähigkeit der Reichsduma, positive Arbeit zu leisten und die grundlegenden Voraussetzungen staatlicher Ordnung und gesetz¬ licher Reformarbeit zu respektieren, hat eine neue Verfassuugskrise heraufbeschworen, die mit der abermaligen Auflösung der Duma geendet hat. Man wird diesen Ent¬ schluß der russischen Negierung durchaus verständlich finden müssen. Das Unglück für Rußland besteht ja darin, daß auch in den revolutionären Kräften, die eben mit Mühe und Not ausgereicht haben, das alte System zu stürzen oder es wenigstens zur Ent¬ gleisung zu bringen, nicht der geringste Ansatz zu einer positiven Fähigkeit zu entdecken ist, ja nicht einmal die Kraft zum wirklichen Zerstören. Der noch vor zwei Jahren — allerdings nur im Munde Unkundiger — so beliebte Vergleich der russischen mit der großen französischen Revolution hinkt so stark auf beiden Beinen, daß selbst die Krücken der lebhaftesten Einbildung ihm nicht mehr weiter helfen. Von einer steigenden, gelegentlich fessellos tobenden Hochflut ungebändigter Volkskraft, die ihr Recht fordert und im wilden Drang nach einer neuen Ordnung der Dinge neue Persönlichkeiten ohne Wahl — würdige und unwürdige, aber doch immer Persön¬ lichkeiten! — an die Oberfläche trägt, ist in Rußland nicht die Rede. Das Rütteln an der alten, halb erstarrten, halb verfaulten Staats- und Gesellschaftsordnung hat gerade so viel barbarische Instinkte entfesselt, um das Vertrauen in die gesetzliche Ordnung und eine ruhige Entwicklung zu erschüttern und jeden ehrlichen, guten Willen abzuschrecken, aber weiter reicht diese revolutionäre Kraft nicht. Es wirkt wie blutiger Hohn, daß die alte Polizeiwillkür und Beamtenkorruption nur gerade so weit erschüttert ist, um den Raum für gelegentliche Putsche, Mordtaten, Raub¬ züge durch Banken und öffentliche Kassen und dergleichen frei zu machen. Es wäre lächerlich, diese feigen und rohen Ausschreitungen niedrigster Sorte mit dem zügel¬ losen Toben der französischen Schreckensmänner von 1793 zu vergleichen, die bei

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 66, 1907, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341885_301987/646>, abgerufen am 06.02.2025.