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Die Grenzboten. Jg. 66, 1907, Zweites Vierteljahr.

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Lrnst Abbe

einder Arbeitzeit gemachte Erfahrung wiederholt sich überall und mit jed....
Arbeitermaterial ohne Unterschied der Nationalität bei der modernen Fabrik-
und Maschinenarbeit (nicht bei häuslicher, landwirtschaftlicher und Handwerks¬
arbeit). Deren Eigenheit ist die mit der Arbeitteilung gegebne Einförmigkeit.
Die Höhe ihrer Leistung hängt von der vorhandnen Kraft, diese aber davon
ab, ob die jeden Tag verbrauchte Kraft in der Erholungszeit durch Ruhe und
Ernährung vollständig wiederhergestellt wird. Der Krüfteverbrauch hat Ermüdung
zur Folge, aber zu dieser tragen außer der Quantität des Kräfteverbrauchs
noch zwei andre Umstände bei: das Tempo, indem rasche Arbeit mehr ermüdet
als gemächliche, und das Verweilen an einem bestimmten Ort in einer bestimmten
Körperhaltung. Wenn man einen Menschen nötigte, in derselben Körperhaltung
wie der Arbeiter an der Drehbank acht oder zehn Stunden zu stehen, so würde
er dadurch ermüden, auch wenn er dabei gar nicht arbeitete. Nun bleibt, an¬
genommen, daß der Arbeiter in acht Stunden dasselbe leistet wie in zehn, die
Quantität des Verbrauchs von Muskelkraft dieselbe. Das Tempo wird be¬
schleunigt, also die Ermüdung vergrößert, aber diese Vergrößerung wird auf¬
gewogen durch die Verminderung der dritten Ursache der Ermüdung, die Abbe
(in einer sehr interessanten rechnerischem Erörterung) dem Leergang der
Maschinen vergleicht. Und zugleich wird die Erholungszeit verlängert, also der
Kräfteersatz vervollständigt; daher kommt es, daß nicht bloß dasselbe, sondern
etwas mehr geleistet wird. Abbe erzählt bei dieser Gelegenheit, wie sem Vater
als Spinnmeister in Eisenach täglich vierzehn bis sechzehn Stunden ohne Unter¬
brechung, auch ohne Mittagpause arbeiten mußte. Er selbst hat dem Vater
täglich das Mittagessen gebracht, das dieser, an eine Maschine gelehnt oder
auf eine Kiste gekauert, aus dem Henkeltopf zu verzehren pflegte. Mit der
Verminderung der Arbeitzeit ^und der Vervollkommnung der Maschinerie, muß
man ergänzen! hat seitdem die Erhöhung der Leistung gleichen Schritt gehalten.
Selbstverständlich hat diese Erhöhung der Leistung durch Verminderung der
Arbeitzeit ihre Grenze. Die Erfahrung lehrt nun nach Abbe, daß bei neun
Stunden das Optimum noch nicht erreicht, bei acht Stunden noch nicht über¬
schritten ist. Arbeitzeit über dieses Optimum bedeute also Kmftverschwcnduug
durch Leergang der lebenden Maschine. Zu solcher Kraftverschwendung werde
der größte Teil der industriellen Bevölkerung genötigt, solange nicht wenigstens
die neunstündige Arbeitzeit gesetzlich festgelegt sei. Doch auf gesetzliche Regelung
sei keine Aussicht, weil unsre Sozialpolitiker immer noch von dem falschen
Beweggrunde der Nächstenliebe geleitet würden anstatt von der Rücksicht auf
die Erhaltung und Vermehrung der Volkskraft; Leute aber, die nnr zehn
Stunden arbeiten, seien kein Gegenstand des Mitleids mehr. Ratwnelle
Sozialpolitik, schreibt er an einer andern Stelle, atme durchaus meh Wohl¬
wollen und Menschenfreundlichkeit. Im Gegenteil: nach ihren unmittelbaren
Folgen für viele einzelne angesehen, trage sie durchweg das Gepräge des
Kalten, Harten, Rücksichtslosen.


Lrnst Abbe

einder Arbeitzeit gemachte Erfahrung wiederholt sich überall und mit jed....
Arbeitermaterial ohne Unterschied der Nationalität bei der modernen Fabrik-
und Maschinenarbeit (nicht bei häuslicher, landwirtschaftlicher und Handwerks¬
arbeit). Deren Eigenheit ist die mit der Arbeitteilung gegebne Einförmigkeit.
Die Höhe ihrer Leistung hängt von der vorhandnen Kraft, diese aber davon
ab, ob die jeden Tag verbrauchte Kraft in der Erholungszeit durch Ruhe und
Ernährung vollständig wiederhergestellt wird. Der Krüfteverbrauch hat Ermüdung
zur Folge, aber zu dieser tragen außer der Quantität des Kräfteverbrauchs
noch zwei andre Umstände bei: das Tempo, indem rasche Arbeit mehr ermüdet
als gemächliche, und das Verweilen an einem bestimmten Ort in einer bestimmten
Körperhaltung. Wenn man einen Menschen nötigte, in derselben Körperhaltung
wie der Arbeiter an der Drehbank acht oder zehn Stunden zu stehen, so würde
er dadurch ermüden, auch wenn er dabei gar nicht arbeitete. Nun bleibt, an¬
genommen, daß der Arbeiter in acht Stunden dasselbe leistet wie in zehn, die
Quantität des Verbrauchs von Muskelkraft dieselbe. Das Tempo wird be¬
schleunigt, also die Ermüdung vergrößert, aber diese Vergrößerung wird auf¬
gewogen durch die Verminderung der dritten Ursache der Ermüdung, die Abbe
(in einer sehr interessanten rechnerischem Erörterung) dem Leergang der
Maschinen vergleicht. Und zugleich wird die Erholungszeit verlängert, also der
Kräfteersatz vervollständigt; daher kommt es, daß nicht bloß dasselbe, sondern
etwas mehr geleistet wird. Abbe erzählt bei dieser Gelegenheit, wie sem Vater
als Spinnmeister in Eisenach täglich vierzehn bis sechzehn Stunden ohne Unter¬
brechung, auch ohne Mittagpause arbeiten mußte. Er selbst hat dem Vater
täglich das Mittagessen gebracht, das dieser, an eine Maschine gelehnt oder
auf eine Kiste gekauert, aus dem Henkeltopf zu verzehren pflegte. Mit der
Verminderung der Arbeitzeit ^und der Vervollkommnung der Maschinerie, muß
man ergänzen! hat seitdem die Erhöhung der Leistung gleichen Schritt gehalten.
Selbstverständlich hat diese Erhöhung der Leistung durch Verminderung der
Arbeitzeit ihre Grenze. Die Erfahrung lehrt nun nach Abbe, daß bei neun
Stunden das Optimum noch nicht erreicht, bei acht Stunden noch nicht über¬
schritten ist. Arbeitzeit über dieses Optimum bedeute also Kmftverschwcnduug
durch Leergang der lebenden Maschine. Zu solcher Kraftverschwendung werde
der größte Teil der industriellen Bevölkerung genötigt, solange nicht wenigstens
die neunstündige Arbeitzeit gesetzlich festgelegt sei. Doch auf gesetzliche Regelung
sei keine Aussicht, weil unsre Sozialpolitiker immer noch von dem falschen
Beweggrunde der Nächstenliebe geleitet würden anstatt von der Rücksicht auf
die Erhaltung und Vermehrung der Volkskraft; Leute aber, die nnr zehn
Stunden arbeiten, seien kein Gegenstand des Mitleids mehr. Ratwnelle
Sozialpolitik, schreibt er an einer andern Stelle, atme durchaus meh Wohl¬
wollen und Menschenfreundlichkeit. Im Gegenteil: nach ihren unmittelbaren
Folgen für viele einzelne angesehen, trage sie durchweg das Gepräge des
Kalten, Harten, Rücksichtslosen.


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[0521] Lrnst Abbe einder Arbeitzeit gemachte Erfahrung wiederholt sich überall und mit jed.... Arbeitermaterial ohne Unterschied der Nationalität bei der modernen Fabrik- und Maschinenarbeit (nicht bei häuslicher, landwirtschaftlicher und Handwerks¬ arbeit). Deren Eigenheit ist die mit der Arbeitteilung gegebne Einförmigkeit. Die Höhe ihrer Leistung hängt von der vorhandnen Kraft, diese aber davon ab, ob die jeden Tag verbrauchte Kraft in der Erholungszeit durch Ruhe und Ernährung vollständig wiederhergestellt wird. Der Krüfteverbrauch hat Ermüdung zur Folge, aber zu dieser tragen außer der Quantität des Kräfteverbrauchs noch zwei andre Umstände bei: das Tempo, indem rasche Arbeit mehr ermüdet als gemächliche, und das Verweilen an einem bestimmten Ort in einer bestimmten Körperhaltung. Wenn man einen Menschen nötigte, in derselben Körperhaltung wie der Arbeiter an der Drehbank acht oder zehn Stunden zu stehen, so würde er dadurch ermüden, auch wenn er dabei gar nicht arbeitete. Nun bleibt, an¬ genommen, daß der Arbeiter in acht Stunden dasselbe leistet wie in zehn, die Quantität des Verbrauchs von Muskelkraft dieselbe. Das Tempo wird be¬ schleunigt, also die Ermüdung vergrößert, aber diese Vergrößerung wird auf¬ gewogen durch die Verminderung der dritten Ursache der Ermüdung, die Abbe (in einer sehr interessanten rechnerischem Erörterung) dem Leergang der Maschinen vergleicht. Und zugleich wird die Erholungszeit verlängert, also der Kräfteersatz vervollständigt; daher kommt es, daß nicht bloß dasselbe, sondern etwas mehr geleistet wird. Abbe erzählt bei dieser Gelegenheit, wie sem Vater als Spinnmeister in Eisenach täglich vierzehn bis sechzehn Stunden ohne Unter¬ brechung, auch ohne Mittagpause arbeiten mußte. Er selbst hat dem Vater täglich das Mittagessen gebracht, das dieser, an eine Maschine gelehnt oder auf eine Kiste gekauert, aus dem Henkeltopf zu verzehren pflegte. Mit der Verminderung der Arbeitzeit ^und der Vervollkommnung der Maschinerie, muß man ergänzen! hat seitdem die Erhöhung der Leistung gleichen Schritt gehalten. Selbstverständlich hat diese Erhöhung der Leistung durch Verminderung der Arbeitzeit ihre Grenze. Die Erfahrung lehrt nun nach Abbe, daß bei neun Stunden das Optimum noch nicht erreicht, bei acht Stunden noch nicht über¬ schritten ist. Arbeitzeit über dieses Optimum bedeute also Kmftverschwcnduug durch Leergang der lebenden Maschine. Zu solcher Kraftverschwendung werde der größte Teil der industriellen Bevölkerung genötigt, solange nicht wenigstens die neunstündige Arbeitzeit gesetzlich festgelegt sei. Doch auf gesetzliche Regelung sei keine Aussicht, weil unsre Sozialpolitiker immer noch von dem falschen Beweggrunde der Nächstenliebe geleitet würden anstatt von der Rücksicht auf die Erhaltung und Vermehrung der Volkskraft; Leute aber, die nnr zehn Stunden arbeiten, seien kein Gegenstand des Mitleids mehr. Ratwnelle Sozialpolitik, schreibt er an einer andern Stelle, atme durchaus meh Wohl¬ wollen und Menschenfreundlichkeit. Im Gegenteil: nach ihren unmittelbaren Folgen für viele einzelne angesehen, trage sie durchweg das Gepräge des Kalten, Harten, Rücksichtslosen.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 66, 1907, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341885_301987/521>, abgerufen am 06.02.2025.