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Die Grenzboten. Jg. 66, 1907, Zweites Vierteljahr.

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Die Selbständigkeitsbewegung in Indien

soweit sie in England für Indien ausgegeben werden, ferner muß es die
europäischen Truppen im Lande erhalten, sodann den wegen der hohen Be¬
soldungen sehr kostspieligen europäischen Verwaltungsapparat im Lande und
endlich die Pensionen der ehemaligen Staatsbeamten und Offiziere, die sehr
hohe Summen erreichen. Daran schließen sich die Gelder für die von England
aus geschehenden Lieferungen für den indischen Staat. Und nicht zu ver¬
gessen, die Zinsen für die Staatsschuld, die meist in England zur Auszahlung
gelangen. Die Gesamtsumme dieser Aufzählungen in England erreichte für
das Budget 1904/05 die Höhe von 350 Millionen Mark. Die indische
Staatsschuld betrug 1904 4200 Millionen Mark; sie ist im wesentlichen durch
Aufwendungen für produktive Zwecke entstanden.

Dieses indische Reich der englischen Krone ist eins der staunenswertesten
Staatsgebäude, die die Geschichte kennt. Mit dem makedonischer und dem
römischen hat es gemeinsam, daß ein einziger im Verhältnis zum Ganzen
kleiner Volksstamm die Gewalt in Händen hält. Doch das makedonische
dauerte nur wenige Jahre. Das römische Riesenreich war geographisch in
viele Teile zersplittert, die niemals gemeinsam handeln konnten. Das indische
ist nahezu ein einziger zusammenhängender Klotz, der allerdings in der Ge¬
schichte vorher niemals geeinigt gewesen ist. Erst die Engländer haben ihm ge¬
zeigt, daß man dieses große völkerwimmelnde Land auch zusammenfassen und
zu einer Einheit zusammenschweißen kann. Sollte Indien jemals eine poli¬
tische und national unabhängige Existenz führen, so wird es immer den Eng¬
ländern danken müssen, seine ersten Schritte auf dieser Bahn geleitet zusahen.
Das "Ziviäs et imxsrg. ist eine Lehre voll tiefster Einsicht. Indien fängt an,
sich ihr immer mehr zu entwinden. Sie wirkt noch, insofern die Engländer
die abhängigen Fürsten von der Masse des übrigen Volkes trennen, indem
sie ihnen ein gewisses Maß von Herrschaft lassen; auch insofern Hindus
und Mohammedaner in einem Gegensatz zueinander stehn. Überwältigend ist
aber der Strom der Entwicklung nach der andern Seite gewesen. Die
Einigung, nicht die Zersplitterung ist das Merkmal der Zeit.

Längst vor dem Siege der Japaner über die Russen war die Einsicht
der Inder, daß sie sich von einer Handvoll Menschen beherrschen ließen, im
Wachsen. Einmal zum Bewußtsein der Größe ihres Volkes gelangt, mußten
sie, das lag unabweisbar nahe, prüfen, ob ihre Untertänigkeit ihnen nützlich
sei, und ob sie ewig dauern müsse. Gelehrte, Patrioten standen aus und be¬
nutzten die englische Statistik, um agitatorisch darzutun, daß England ihr Volk
aufhenke, aussauge. Die soeben erwähnten regelmäßigen Rimessen nach Eng¬
land spielten eine Hauptrolle dabei, und natürlich beeilten sich die Hetzer nicht
sehr, ihren Zuhörern klar zu machen, was England ihnen für die 350 Millionen
leistet und geleistet hat, die alljährlich dorthin versandt werden. Man sagt
ihnen nur, daß jeder Inder alljährlich eine Rupie nach England schicken muß
dafür, daß er regiert wird. England ziehe unermeßlichen Gewinn aus dem


Die Selbständigkeitsbewegung in Indien

soweit sie in England für Indien ausgegeben werden, ferner muß es die
europäischen Truppen im Lande erhalten, sodann den wegen der hohen Be¬
soldungen sehr kostspieligen europäischen Verwaltungsapparat im Lande und
endlich die Pensionen der ehemaligen Staatsbeamten und Offiziere, die sehr
hohe Summen erreichen. Daran schließen sich die Gelder für die von England
aus geschehenden Lieferungen für den indischen Staat. Und nicht zu ver¬
gessen, die Zinsen für die Staatsschuld, die meist in England zur Auszahlung
gelangen. Die Gesamtsumme dieser Aufzählungen in England erreichte für
das Budget 1904/05 die Höhe von 350 Millionen Mark. Die indische
Staatsschuld betrug 1904 4200 Millionen Mark; sie ist im wesentlichen durch
Aufwendungen für produktive Zwecke entstanden.

Dieses indische Reich der englischen Krone ist eins der staunenswertesten
Staatsgebäude, die die Geschichte kennt. Mit dem makedonischer und dem
römischen hat es gemeinsam, daß ein einziger im Verhältnis zum Ganzen
kleiner Volksstamm die Gewalt in Händen hält. Doch das makedonische
dauerte nur wenige Jahre. Das römische Riesenreich war geographisch in
viele Teile zersplittert, die niemals gemeinsam handeln konnten. Das indische
ist nahezu ein einziger zusammenhängender Klotz, der allerdings in der Ge¬
schichte vorher niemals geeinigt gewesen ist. Erst die Engländer haben ihm ge¬
zeigt, daß man dieses große völkerwimmelnde Land auch zusammenfassen und
zu einer Einheit zusammenschweißen kann. Sollte Indien jemals eine poli¬
tische und national unabhängige Existenz führen, so wird es immer den Eng¬
ländern danken müssen, seine ersten Schritte auf dieser Bahn geleitet zusahen.
Das «Ziviäs et imxsrg. ist eine Lehre voll tiefster Einsicht. Indien fängt an,
sich ihr immer mehr zu entwinden. Sie wirkt noch, insofern die Engländer
die abhängigen Fürsten von der Masse des übrigen Volkes trennen, indem
sie ihnen ein gewisses Maß von Herrschaft lassen; auch insofern Hindus
und Mohammedaner in einem Gegensatz zueinander stehn. Überwältigend ist
aber der Strom der Entwicklung nach der andern Seite gewesen. Die
Einigung, nicht die Zersplitterung ist das Merkmal der Zeit.

Längst vor dem Siege der Japaner über die Russen war die Einsicht
der Inder, daß sie sich von einer Handvoll Menschen beherrschen ließen, im
Wachsen. Einmal zum Bewußtsein der Größe ihres Volkes gelangt, mußten
sie, das lag unabweisbar nahe, prüfen, ob ihre Untertänigkeit ihnen nützlich
sei, und ob sie ewig dauern müsse. Gelehrte, Patrioten standen aus und be¬
nutzten die englische Statistik, um agitatorisch darzutun, daß England ihr Volk
aufhenke, aussauge. Die soeben erwähnten regelmäßigen Rimessen nach Eng¬
land spielten eine Hauptrolle dabei, und natürlich beeilten sich die Hetzer nicht
sehr, ihren Zuhörern klar zu machen, was England ihnen für die 350 Millionen
leistet und geleistet hat, die alljährlich dorthin versandt werden. Man sagt
ihnen nur, daß jeder Inder alljährlich eine Rupie nach England schicken muß
dafür, daß er regiert wird. England ziehe unermeßlichen Gewinn aus dem


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[0498] Die Selbständigkeitsbewegung in Indien soweit sie in England für Indien ausgegeben werden, ferner muß es die europäischen Truppen im Lande erhalten, sodann den wegen der hohen Be¬ soldungen sehr kostspieligen europäischen Verwaltungsapparat im Lande und endlich die Pensionen der ehemaligen Staatsbeamten und Offiziere, die sehr hohe Summen erreichen. Daran schließen sich die Gelder für die von England aus geschehenden Lieferungen für den indischen Staat. Und nicht zu ver¬ gessen, die Zinsen für die Staatsschuld, die meist in England zur Auszahlung gelangen. Die Gesamtsumme dieser Aufzählungen in England erreichte für das Budget 1904/05 die Höhe von 350 Millionen Mark. Die indische Staatsschuld betrug 1904 4200 Millionen Mark; sie ist im wesentlichen durch Aufwendungen für produktive Zwecke entstanden. Dieses indische Reich der englischen Krone ist eins der staunenswertesten Staatsgebäude, die die Geschichte kennt. Mit dem makedonischer und dem römischen hat es gemeinsam, daß ein einziger im Verhältnis zum Ganzen kleiner Volksstamm die Gewalt in Händen hält. Doch das makedonische dauerte nur wenige Jahre. Das römische Riesenreich war geographisch in viele Teile zersplittert, die niemals gemeinsam handeln konnten. Das indische ist nahezu ein einziger zusammenhängender Klotz, der allerdings in der Ge¬ schichte vorher niemals geeinigt gewesen ist. Erst die Engländer haben ihm ge¬ zeigt, daß man dieses große völkerwimmelnde Land auch zusammenfassen und zu einer Einheit zusammenschweißen kann. Sollte Indien jemals eine poli¬ tische und national unabhängige Existenz führen, so wird es immer den Eng¬ ländern danken müssen, seine ersten Schritte auf dieser Bahn geleitet zusahen. Das «Ziviäs et imxsrg. ist eine Lehre voll tiefster Einsicht. Indien fängt an, sich ihr immer mehr zu entwinden. Sie wirkt noch, insofern die Engländer die abhängigen Fürsten von der Masse des übrigen Volkes trennen, indem sie ihnen ein gewisses Maß von Herrschaft lassen; auch insofern Hindus und Mohammedaner in einem Gegensatz zueinander stehn. Überwältigend ist aber der Strom der Entwicklung nach der andern Seite gewesen. Die Einigung, nicht die Zersplitterung ist das Merkmal der Zeit. Längst vor dem Siege der Japaner über die Russen war die Einsicht der Inder, daß sie sich von einer Handvoll Menschen beherrschen ließen, im Wachsen. Einmal zum Bewußtsein der Größe ihres Volkes gelangt, mußten sie, das lag unabweisbar nahe, prüfen, ob ihre Untertänigkeit ihnen nützlich sei, und ob sie ewig dauern müsse. Gelehrte, Patrioten standen aus und be¬ nutzten die englische Statistik, um agitatorisch darzutun, daß England ihr Volk aufhenke, aussauge. Die soeben erwähnten regelmäßigen Rimessen nach Eng¬ land spielten eine Hauptrolle dabei, und natürlich beeilten sich die Hetzer nicht sehr, ihren Zuhörern klar zu machen, was England ihnen für die 350 Millionen leistet und geleistet hat, die alljährlich dorthin versandt werden. Man sagt ihnen nur, daß jeder Inder alljährlich eine Rupie nach England schicken muß dafür, daß er regiert wird. England ziehe unermeßlichen Gewinn aus dem

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 66, 1907, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341885_301987/498>, abgerufen am 06.02.2025.