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Die Grenzboten. Jg. 66, 1907, Zweites Vierteljahr.

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Das russische Agrarxroblem

baldig zuungunsten der Demokratie zu verändern". Zwar die Erzreaktionäre,
die die Bauernnvt einfach leugnen, wie der Fürst Schtscherbatow, sind in der
Minderheit, aber die Bauern stehn dem gesamten Grundbesitzerstande mi߬
trauisch und zum Teil feindlich gegenüber. Vor allem fordern sie, daß die
Bauernabgeordneten im Semstwo die Mehrheit haben sollen. Eine solche
Mehrheit aber, meint Weber ohne Zweifel mit Recht, würde eine sehr radikale,
massiv egoistische Bauernpolitik treiben. "So stark zum Beispiel die Be¬
geisterung für die obligatorische Volksschule bei den Bauern ist, so wahr¬
scheinlich ist es, daß sie, sobald es sich um Leistungen handelte, ebenso ver¬
sagen würde wie bei allen übrigen Kultnrinteressen, denen die Semstwos heute
dienen; nicht wegen der vermeintlichen Dummheit der Bauern, sondern weil
die über alle Begriffe entsetzliche Lage ihrer Masse jeden Gedanken an fern
liegende Ziele, an Verbesserungen, die ihnen nicht jetzt und unmittelbar nützen,
völlig ausschließt."

Webers Darstellung bestätigt zwei Folgerungen, die in den Grenzboten
schon vor der russischen Revolution wiederholt, zum Beispiel im 4. Bande des
Jahrgangs 1900 Seite 457 und im 4. Bande des Jahrgangs 1902 Seite 297
aus Berichten über russische Zustände gezogen worden sind: daß die russischen
Regierungen ihrer Großmachtpolitik das Volk geopfert haben, und daß dieses
jetzt dein Manne gleiche, der sich an seinem eignen Schöpf ans dem Sumpfe
herausziehen soll. Die Regierungen, die seit Peter Nußland zu europäisieren
bemüht waren, haben immer nur an die Fassade und an die Kuppeln des
Staatsgebäudes gedacht, aber niemals an die Grundlage. Sie haben wohl
fleißig daran gearbeitet, Bauern und Gewerbetreibende als "Lastgemcinden"
zu organisieren, denen sie die Mittel für Diplomatie, Heer und Hofhaltung
auspressen konnten, aber wie es um die wirtschaftliche Lage und Tätigkeit
dieser Bauern und Gewerbetreibenden stand, danach fragten sie nicht. Die
russischen Bauern mühen sich vergebens nicht bloß in einem verhängnisvollen
Zirkel ab, sondern in mehreren. Weil sie keine Straßen und Schulen haben,
bleiben sie arm, und weil sie arm sind, können sie weder Straßen noch
Schulen bauen. Weil sie mittellos und unwissend sind, treiben sie eine elende
Ackerwirtschaft, und weil sie jämmerlich wirtschaften, bleiben sie mittellos und
unwissend und so fort. Das Heil könnte für sie nur von außen kommen.
Was den Bauer wohlhabend macht, das ist die Kundschaft der benachbarten
Stadt. Diese setzt ihn in den Stand, die Produkte eines starken Viehstandes zu
verwerte", Gemüse, Obst, Handelsgewächse zu bauen, die mehr bringen als
Getreide und Kartoffeln, und der Anbau mannigfacher Gewächse, der Frucht¬
wechsel, vermehrt nicht allein durch die Beseitigung der Bräche den Ertrag
der Gesamtfläche, sondern durch intensivere Kultur den jedes einzelnen Ackcr-
stücks und erlöst vou dem Unglück totalen Mißwuchses, weil niemals alle
Früchte zugleich mißraten. Das Wetter, das der einen Frucht schadet, fördert
eine andre. Den nordischen Völkern haben im Beginn ihrer Kulturentwicklung


Das russische Agrarxroblem

baldig zuungunsten der Demokratie zu verändern". Zwar die Erzreaktionäre,
die die Bauernnvt einfach leugnen, wie der Fürst Schtscherbatow, sind in der
Minderheit, aber die Bauern stehn dem gesamten Grundbesitzerstande mi߬
trauisch und zum Teil feindlich gegenüber. Vor allem fordern sie, daß die
Bauernabgeordneten im Semstwo die Mehrheit haben sollen. Eine solche
Mehrheit aber, meint Weber ohne Zweifel mit Recht, würde eine sehr radikale,
massiv egoistische Bauernpolitik treiben. „So stark zum Beispiel die Be¬
geisterung für die obligatorische Volksschule bei den Bauern ist, so wahr¬
scheinlich ist es, daß sie, sobald es sich um Leistungen handelte, ebenso ver¬
sagen würde wie bei allen übrigen Kultnrinteressen, denen die Semstwos heute
dienen; nicht wegen der vermeintlichen Dummheit der Bauern, sondern weil
die über alle Begriffe entsetzliche Lage ihrer Masse jeden Gedanken an fern
liegende Ziele, an Verbesserungen, die ihnen nicht jetzt und unmittelbar nützen,
völlig ausschließt."

Webers Darstellung bestätigt zwei Folgerungen, die in den Grenzboten
schon vor der russischen Revolution wiederholt, zum Beispiel im 4. Bande des
Jahrgangs 1900 Seite 457 und im 4. Bande des Jahrgangs 1902 Seite 297
aus Berichten über russische Zustände gezogen worden sind: daß die russischen
Regierungen ihrer Großmachtpolitik das Volk geopfert haben, und daß dieses
jetzt dein Manne gleiche, der sich an seinem eignen Schöpf ans dem Sumpfe
herausziehen soll. Die Regierungen, die seit Peter Nußland zu europäisieren
bemüht waren, haben immer nur an die Fassade und an die Kuppeln des
Staatsgebäudes gedacht, aber niemals an die Grundlage. Sie haben wohl
fleißig daran gearbeitet, Bauern und Gewerbetreibende als „Lastgemcinden"
zu organisieren, denen sie die Mittel für Diplomatie, Heer und Hofhaltung
auspressen konnten, aber wie es um die wirtschaftliche Lage und Tätigkeit
dieser Bauern und Gewerbetreibenden stand, danach fragten sie nicht. Die
russischen Bauern mühen sich vergebens nicht bloß in einem verhängnisvollen
Zirkel ab, sondern in mehreren. Weil sie keine Straßen und Schulen haben,
bleiben sie arm, und weil sie arm sind, können sie weder Straßen noch
Schulen bauen. Weil sie mittellos und unwissend sind, treiben sie eine elende
Ackerwirtschaft, und weil sie jämmerlich wirtschaften, bleiben sie mittellos und
unwissend und so fort. Das Heil könnte für sie nur von außen kommen.
Was den Bauer wohlhabend macht, das ist die Kundschaft der benachbarten
Stadt. Diese setzt ihn in den Stand, die Produkte eines starken Viehstandes zu
verwerte», Gemüse, Obst, Handelsgewächse zu bauen, die mehr bringen als
Getreide und Kartoffeln, und der Anbau mannigfacher Gewächse, der Frucht¬
wechsel, vermehrt nicht allein durch die Beseitigung der Bräche den Ertrag
der Gesamtfläche, sondern durch intensivere Kultur den jedes einzelnen Ackcr-
stücks und erlöst vou dem Unglück totalen Mißwuchses, weil niemals alle
Früchte zugleich mißraten. Das Wetter, das der einen Frucht schadet, fördert
eine andre. Den nordischen Völkern haben im Beginn ihrer Kulturentwicklung


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[0404] Das russische Agrarxroblem baldig zuungunsten der Demokratie zu verändern". Zwar die Erzreaktionäre, die die Bauernnvt einfach leugnen, wie der Fürst Schtscherbatow, sind in der Minderheit, aber die Bauern stehn dem gesamten Grundbesitzerstande mi߬ trauisch und zum Teil feindlich gegenüber. Vor allem fordern sie, daß die Bauernabgeordneten im Semstwo die Mehrheit haben sollen. Eine solche Mehrheit aber, meint Weber ohne Zweifel mit Recht, würde eine sehr radikale, massiv egoistische Bauernpolitik treiben. „So stark zum Beispiel die Be¬ geisterung für die obligatorische Volksschule bei den Bauern ist, so wahr¬ scheinlich ist es, daß sie, sobald es sich um Leistungen handelte, ebenso ver¬ sagen würde wie bei allen übrigen Kultnrinteressen, denen die Semstwos heute dienen; nicht wegen der vermeintlichen Dummheit der Bauern, sondern weil die über alle Begriffe entsetzliche Lage ihrer Masse jeden Gedanken an fern liegende Ziele, an Verbesserungen, die ihnen nicht jetzt und unmittelbar nützen, völlig ausschließt." Webers Darstellung bestätigt zwei Folgerungen, die in den Grenzboten schon vor der russischen Revolution wiederholt, zum Beispiel im 4. Bande des Jahrgangs 1900 Seite 457 und im 4. Bande des Jahrgangs 1902 Seite 297 aus Berichten über russische Zustände gezogen worden sind: daß die russischen Regierungen ihrer Großmachtpolitik das Volk geopfert haben, und daß dieses jetzt dein Manne gleiche, der sich an seinem eignen Schöpf ans dem Sumpfe herausziehen soll. Die Regierungen, die seit Peter Nußland zu europäisieren bemüht waren, haben immer nur an die Fassade und an die Kuppeln des Staatsgebäudes gedacht, aber niemals an die Grundlage. Sie haben wohl fleißig daran gearbeitet, Bauern und Gewerbetreibende als „Lastgemcinden" zu organisieren, denen sie die Mittel für Diplomatie, Heer und Hofhaltung auspressen konnten, aber wie es um die wirtschaftliche Lage und Tätigkeit dieser Bauern und Gewerbetreibenden stand, danach fragten sie nicht. Die russischen Bauern mühen sich vergebens nicht bloß in einem verhängnisvollen Zirkel ab, sondern in mehreren. Weil sie keine Straßen und Schulen haben, bleiben sie arm, und weil sie arm sind, können sie weder Straßen noch Schulen bauen. Weil sie mittellos und unwissend sind, treiben sie eine elende Ackerwirtschaft, und weil sie jämmerlich wirtschaften, bleiben sie mittellos und unwissend und so fort. Das Heil könnte für sie nur von außen kommen. Was den Bauer wohlhabend macht, das ist die Kundschaft der benachbarten Stadt. Diese setzt ihn in den Stand, die Produkte eines starken Viehstandes zu verwerte», Gemüse, Obst, Handelsgewächse zu bauen, die mehr bringen als Getreide und Kartoffeln, und der Anbau mannigfacher Gewächse, der Frucht¬ wechsel, vermehrt nicht allein durch die Beseitigung der Bräche den Ertrag der Gesamtfläche, sondern durch intensivere Kultur den jedes einzelnen Ackcr- stücks und erlöst vou dem Unglück totalen Mißwuchses, weil niemals alle Früchte zugleich mißraten. Das Wetter, das der einen Frucht schadet, fördert eine andre. Den nordischen Völkern haben im Beginn ihrer Kulturentwicklung

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 66, 1907, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341885_301987/404>, abgerufen am 06.02.2025.