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Die Grenzboten. Jg. 66, 1907, Zweites Vierteljahr.

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Russische Briefe

Streik in Baku bringt in den nahe an der Wolga liegenden Gouverne¬
ments Astrachan, Dongebiet, Ssamam, Ssaratow, Persa, Ssimbirsk, Kasan
2180 Fabriken zum Stillstand und macht 115556 Arbeiter brotlos.*) Dabei
sind die Schiffahrtsgesellschaften, deren Dampfer alle mit Naphtha geheizt
werden, mit ihren nach Hunderttausenden zählenden Angestellten und Hafen¬
arbeitern nicht berücksichtigt. Die Regierung sucht durch Verlegung zahlreicher
technischer Truppenteile nach Baku den" schlimmsten vorzubeugen. In Bessarabien
wird die Lage besonders schwierig durch die mit der sozialrevolutionnren
Propaganda gleichlaufende der Antisemiten. Von beiden Seiten wird energisch
gearbeitet, während von Maßregeln der Regierung nichts zu sehen ist. Was
dort später geschehen wird, wissen die Götter.

Der traurige Bildungszustand der zweiten Duma findet seinen fühlbaren
Ausdruck in den Sitzungen der Kommissionen. Wie aus der Tagespresse schon
bekannt sein dürfte, hat die Armut an juristisch und volkswirtschaftlich durch¬
gebildeten Abgeordneten dazu geführt, daß die Kommissionen zu ihren Sitzungen
Sachverständige von außerhalb zugezogen haben. Herr Stolypin hat dagegen
Protestiert, weil er darin einen Versuch sieht, die Beziehungen der Duma zur
Gesellschaft enger zu gestalten, als es im Interesse der ruhigen Entwicklung
^egen kann. Über die Angelegenheit wird viel geschrieben, und sogar in
konservativen Kreisen finden sich Vertreter der Ansicht, die Kommissionen könnten
zu ihren Sitzungen Sachverständige hinzuziehn. Wenn es sich hier nur um
eine sachliche Arbeit handelte, würde ich auch dafür eintreten; aber die Re¬
gierung hat ja gerade die Mehrzahl der neu hinzugezognen Sachverständigen
von den Wahlen ausgeschlossen, um ihren Einfluß zu unterbinden. Es wäre
somit unlogisch, wenn sie durch ihre Zulassung als Sachverständige den Einfluß
wiederherstellte. Für uns ist wichtig, hier wieder einmal festzustellen, daß der
bon der Negierung eingeschlagne Weg falsch ist. Dagegen war aber die Re¬
gierung durchaus im Recht, als sie sich Enqueten der Duma über ihren Kopf
weg verbat, vielmehr forderte, daß alle Anfragen in der Provinz durch ihre
Vermittlung zu gehn hätten. Es hieße, eine Nebenregiernng aufziehn, wollte
die Exekutive gestatten, daß die Duma direkt mit den Organen der Selbst¬
verwaltung in dauernde Verbindung treten könnte. Die Duma hat das auch
unter der Führung der Kadetten eingesehen, sodaß der äußere Frieden nach
wie vor besteht. Auch die Verhandlungen in der Agrarfrage, die zweimal
wöchentlich im Plenum stattfinden, gehn verhältnismäßig friedlich dahin, wenn
wich die Revolutionäre von rechts und von links keine Gelegenheit versäumen,
einen Konflikt hervorzurufen, der zur Dumaauflösuug führen könnte. Das
Verdienst, daß alles bisher glatt abgelaufen ist, liegt bei den Kadetten.



S. A. W. Pogoshew, "Zahl und Zusammensetzung der Arbeiterbevölkerung
Rußlands", im Auftrage der Akademie der Wissenschaften, Se, Petersburg, 1906, Statistische
Anlagen, S. 23 bis 25.
Russische Briefe

Streik in Baku bringt in den nahe an der Wolga liegenden Gouverne¬
ments Astrachan, Dongebiet, Ssamam, Ssaratow, Persa, Ssimbirsk, Kasan
2180 Fabriken zum Stillstand und macht 115556 Arbeiter brotlos.*) Dabei
sind die Schiffahrtsgesellschaften, deren Dampfer alle mit Naphtha geheizt
werden, mit ihren nach Hunderttausenden zählenden Angestellten und Hafen¬
arbeitern nicht berücksichtigt. Die Regierung sucht durch Verlegung zahlreicher
technischer Truppenteile nach Baku den« schlimmsten vorzubeugen. In Bessarabien
wird die Lage besonders schwierig durch die mit der sozialrevolutionnren
Propaganda gleichlaufende der Antisemiten. Von beiden Seiten wird energisch
gearbeitet, während von Maßregeln der Regierung nichts zu sehen ist. Was
dort später geschehen wird, wissen die Götter.

Der traurige Bildungszustand der zweiten Duma findet seinen fühlbaren
Ausdruck in den Sitzungen der Kommissionen. Wie aus der Tagespresse schon
bekannt sein dürfte, hat die Armut an juristisch und volkswirtschaftlich durch¬
gebildeten Abgeordneten dazu geführt, daß die Kommissionen zu ihren Sitzungen
Sachverständige von außerhalb zugezogen haben. Herr Stolypin hat dagegen
Protestiert, weil er darin einen Versuch sieht, die Beziehungen der Duma zur
Gesellschaft enger zu gestalten, als es im Interesse der ruhigen Entwicklung
^egen kann. Über die Angelegenheit wird viel geschrieben, und sogar in
konservativen Kreisen finden sich Vertreter der Ansicht, die Kommissionen könnten
zu ihren Sitzungen Sachverständige hinzuziehn. Wenn es sich hier nur um
eine sachliche Arbeit handelte, würde ich auch dafür eintreten; aber die Re¬
gierung hat ja gerade die Mehrzahl der neu hinzugezognen Sachverständigen
von den Wahlen ausgeschlossen, um ihren Einfluß zu unterbinden. Es wäre
somit unlogisch, wenn sie durch ihre Zulassung als Sachverständige den Einfluß
wiederherstellte. Für uns ist wichtig, hier wieder einmal festzustellen, daß der
bon der Negierung eingeschlagne Weg falsch ist. Dagegen war aber die Re¬
gierung durchaus im Recht, als sie sich Enqueten der Duma über ihren Kopf
weg verbat, vielmehr forderte, daß alle Anfragen in der Provinz durch ihre
Vermittlung zu gehn hätten. Es hieße, eine Nebenregiernng aufziehn, wollte
die Exekutive gestatten, daß die Duma direkt mit den Organen der Selbst¬
verwaltung in dauernde Verbindung treten könnte. Die Duma hat das auch
unter der Führung der Kadetten eingesehen, sodaß der äußere Frieden nach
wie vor besteht. Auch die Verhandlungen in der Agrarfrage, die zweimal
wöchentlich im Plenum stattfinden, gehn verhältnismäßig friedlich dahin, wenn
wich die Revolutionäre von rechts und von links keine Gelegenheit versäumen,
einen Konflikt hervorzurufen, der zur Dumaauflösuug führen könnte. Das
Verdienst, daß alles bisher glatt abgelaufen ist, liegt bei den Kadetten.



S. A. W. Pogoshew, „Zahl und Zusammensetzung der Arbeiterbevölkerung
Rußlands", im Auftrage der Akademie der Wissenschaften, Se, Petersburg, 1906, Statistische
Anlagen, S. 23 bis 25.
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[0281] Russische Briefe Streik in Baku bringt in den nahe an der Wolga liegenden Gouverne¬ ments Astrachan, Dongebiet, Ssamam, Ssaratow, Persa, Ssimbirsk, Kasan 2180 Fabriken zum Stillstand und macht 115556 Arbeiter brotlos.*) Dabei sind die Schiffahrtsgesellschaften, deren Dampfer alle mit Naphtha geheizt werden, mit ihren nach Hunderttausenden zählenden Angestellten und Hafen¬ arbeitern nicht berücksichtigt. Die Regierung sucht durch Verlegung zahlreicher technischer Truppenteile nach Baku den« schlimmsten vorzubeugen. In Bessarabien wird die Lage besonders schwierig durch die mit der sozialrevolutionnren Propaganda gleichlaufende der Antisemiten. Von beiden Seiten wird energisch gearbeitet, während von Maßregeln der Regierung nichts zu sehen ist. Was dort später geschehen wird, wissen die Götter. Der traurige Bildungszustand der zweiten Duma findet seinen fühlbaren Ausdruck in den Sitzungen der Kommissionen. Wie aus der Tagespresse schon bekannt sein dürfte, hat die Armut an juristisch und volkswirtschaftlich durch¬ gebildeten Abgeordneten dazu geführt, daß die Kommissionen zu ihren Sitzungen Sachverständige von außerhalb zugezogen haben. Herr Stolypin hat dagegen Protestiert, weil er darin einen Versuch sieht, die Beziehungen der Duma zur Gesellschaft enger zu gestalten, als es im Interesse der ruhigen Entwicklung ^egen kann. Über die Angelegenheit wird viel geschrieben, und sogar in konservativen Kreisen finden sich Vertreter der Ansicht, die Kommissionen könnten zu ihren Sitzungen Sachverständige hinzuziehn. Wenn es sich hier nur um eine sachliche Arbeit handelte, würde ich auch dafür eintreten; aber die Re¬ gierung hat ja gerade die Mehrzahl der neu hinzugezognen Sachverständigen von den Wahlen ausgeschlossen, um ihren Einfluß zu unterbinden. Es wäre somit unlogisch, wenn sie durch ihre Zulassung als Sachverständige den Einfluß wiederherstellte. Für uns ist wichtig, hier wieder einmal festzustellen, daß der bon der Negierung eingeschlagne Weg falsch ist. Dagegen war aber die Re¬ gierung durchaus im Recht, als sie sich Enqueten der Duma über ihren Kopf weg verbat, vielmehr forderte, daß alle Anfragen in der Provinz durch ihre Vermittlung zu gehn hätten. Es hieße, eine Nebenregiernng aufziehn, wollte die Exekutive gestatten, daß die Duma direkt mit den Organen der Selbst¬ verwaltung in dauernde Verbindung treten könnte. Die Duma hat das auch unter der Führung der Kadetten eingesehen, sodaß der äußere Frieden nach wie vor besteht. Auch die Verhandlungen in der Agrarfrage, die zweimal wöchentlich im Plenum stattfinden, gehn verhältnismäßig friedlich dahin, wenn wich die Revolutionäre von rechts und von links keine Gelegenheit versäumen, einen Konflikt hervorzurufen, der zur Dumaauflösuug führen könnte. Das Verdienst, daß alles bisher glatt abgelaufen ist, liegt bei den Kadetten. S. A. W. Pogoshew, „Zahl und Zusammensetzung der Arbeiterbevölkerung Rußlands", im Auftrage der Akademie der Wissenschaften, Se, Petersburg, 1906, Statistische Anlagen, S. 23 bis 25.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 66, 1907, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341885_301987/281>, abgerufen am 06.02.2025.