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Die Grenzboten. Jg. 66, 1907, Zweites Vierteljahr.

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Russische Briefe

politisch bezeichnet werden, da er dem ohnehin schwer kämpfenden Minister
Stolypin in den Rücken fiel. Allerdings hat die politisch reifere Minderheit
ihrer gegensätzlichen Meinung Ausdruck verliehen, auch sind in der Duma
gerade die besten unter den Konservativen von den Feinden Stolypins ab¬
gerückt, um Anschluß an die Partei der Rechtsordnung zu finden. Der un¬
günstige Eindruck auf die Bauern ist aber geblieben, und wie in einem
geheimnisvollen Ringe findet nun auch die Reaktion am Hofe wieder größern
Einfluß infolge des radikalen Auftretens der Bauern. Unter diesen Ver¬
hältnissen ist das Vorhandensein des Herrn von Schwanebach als Reichs¬
kontrolleur und des Herrn Wassiltschikow als Landwirtschaftsminister im
Kabinett eine nicht zu unterschätzende Gefahr für die konstitutionellen Pläne
Stolypins. Beide Herren sind Günstlinge der sehr einflußreichen und be¬
güterten Clique um das Haus des Grafen Scheremetjew und haben dadurch
Gelegenheit, auf den Zaren direkt und indirekt einzuwirken. Welchen Einfluß
die Leute haben, geht unter anderm aus der kürzlich erfolgten Ernennung des
Professors Pichno in den Neichsrat hervor. Herr Pichno ist Herausgeber
des in Kijew erscheinenden Kijewljanin, der einen scharfen Feldzug für die
sofortige Auflösung der Duma führt. Jetzt geht das ganze Streben der Leute
um Scheremetjew darauf hin, Stolypin zu stürzen und womöglich Durnowo
an seine Stelle zu setzen. Ein naheliegendes Mittel ist der Hinweis, daß
Herr Stolypin den Befehl zur Nichtanwendung der Todesstrafe gegeben hat,
obwohl der März wieder eine Steigerung der Opfer durch Mord auf 635
gebracht hat, obwohl auch in Kursk, Jekaterinoslaw, Tula, Tambow Agrar-
unruhen einen immer größern Umfang annehmen. Die reaktionäre Presse
unterstützt die Bemühungen der Petersburger Clique. Moskowskija Wjcdo-
mosti bringt täglich am Kopf in anderthalb Zentimeter hohen Buchstaben den
Satz: "Vor allen Dingen muß die Duma aufgelöst werden!" Aus
allen Teilen des Reiches treffen täglich Dutzende von Telegrammen und Ge¬
suchen beim Zaren, beim Ministerpräsidenten und in der Duma ein, die eine
sofortige Auflösung fordern. Wohin alle diese Verhältnisse führen müsse",
brauche ich nicht zu erläutern. Nachdem ich in frühern Briefen von der
Organisation der Agrarunruheu gesprochen habe, möchte ich heute nur darauf
hinweisen, daß mit einem geschlossenen Aufstand ganzer zusammen¬
hängender Gebiete in diesem Jahre noch nicht zu rechnen ist. Auch wenn
die Duma nicht vorzeitig aufgelöst werden sollte, wenn also eine größere
Anzahl von revolutionären Abgeordneten unter dem Schutz der Toga des
Volkstribunen in die Ferien und auf das platte Land gehn sollte, scheint mir
die Organisation der Sozialrevolutionäre nicht stark genug, als daß sie ganze
Gebiete auf die Beine bringen könnte. Am schlimmsten sieht es noch im süd¬
lichen und mittlern Wolgagebiet und in Bessarabien aus. Auf die Lage an
der Wolga wirken die Arbeiterverhältnisse in Baku, weil alle industriellen
Unternehmungen dort auf Naphthaheizung angewiesen sind. Ein größerer


Russische Briefe

politisch bezeichnet werden, da er dem ohnehin schwer kämpfenden Minister
Stolypin in den Rücken fiel. Allerdings hat die politisch reifere Minderheit
ihrer gegensätzlichen Meinung Ausdruck verliehen, auch sind in der Duma
gerade die besten unter den Konservativen von den Feinden Stolypins ab¬
gerückt, um Anschluß an die Partei der Rechtsordnung zu finden. Der un¬
günstige Eindruck auf die Bauern ist aber geblieben, und wie in einem
geheimnisvollen Ringe findet nun auch die Reaktion am Hofe wieder größern
Einfluß infolge des radikalen Auftretens der Bauern. Unter diesen Ver¬
hältnissen ist das Vorhandensein des Herrn von Schwanebach als Reichs¬
kontrolleur und des Herrn Wassiltschikow als Landwirtschaftsminister im
Kabinett eine nicht zu unterschätzende Gefahr für die konstitutionellen Pläne
Stolypins. Beide Herren sind Günstlinge der sehr einflußreichen und be¬
güterten Clique um das Haus des Grafen Scheremetjew und haben dadurch
Gelegenheit, auf den Zaren direkt und indirekt einzuwirken. Welchen Einfluß
die Leute haben, geht unter anderm aus der kürzlich erfolgten Ernennung des
Professors Pichno in den Neichsrat hervor. Herr Pichno ist Herausgeber
des in Kijew erscheinenden Kijewljanin, der einen scharfen Feldzug für die
sofortige Auflösung der Duma führt. Jetzt geht das ganze Streben der Leute
um Scheremetjew darauf hin, Stolypin zu stürzen und womöglich Durnowo
an seine Stelle zu setzen. Ein naheliegendes Mittel ist der Hinweis, daß
Herr Stolypin den Befehl zur Nichtanwendung der Todesstrafe gegeben hat,
obwohl der März wieder eine Steigerung der Opfer durch Mord auf 635
gebracht hat, obwohl auch in Kursk, Jekaterinoslaw, Tula, Tambow Agrar-
unruhen einen immer größern Umfang annehmen. Die reaktionäre Presse
unterstützt die Bemühungen der Petersburger Clique. Moskowskija Wjcdo-
mosti bringt täglich am Kopf in anderthalb Zentimeter hohen Buchstaben den
Satz: „Vor allen Dingen muß die Duma aufgelöst werden!" Aus
allen Teilen des Reiches treffen täglich Dutzende von Telegrammen und Ge¬
suchen beim Zaren, beim Ministerpräsidenten und in der Duma ein, die eine
sofortige Auflösung fordern. Wohin alle diese Verhältnisse führen müsse»,
brauche ich nicht zu erläutern. Nachdem ich in frühern Briefen von der
Organisation der Agrarunruheu gesprochen habe, möchte ich heute nur darauf
hinweisen, daß mit einem geschlossenen Aufstand ganzer zusammen¬
hängender Gebiete in diesem Jahre noch nicht zu rechnen ist. Auch wenn
die Duma nicht vorzeitig aufgelöst werden sollte, wenn also eine größere
Anzahl von revolutionären Abgeordneten unter dem Schutz der Toga des
Volkstribunen in die Ferien und auf das platte Land gehn sollte, scheint mir
die Organisation der Sozialrevolutionäre nicht stark genug, als daß sie ganze
Gebiete auf die Beine bringen könnte. Am schlimmsten sieht es noch im süd¬
lichen und mittlern Wolgagebiet und in Bessarabien aus. Auf die Lage an
der Wolga wirken die Arbeiterverhältnisse in Baku, weil alle industriellen
Unternehmungen dort auf Naphthaheizung angewiesen sind. Ein größerer


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[0280] Russische Briefe politisch bezeichnet werden, da er dem ohnehin schwer kämpfenden Minister Stolypin in den Rücken fiel. Allerdings hat die politisch reifere Minderheit ihrer gegensätzlichen Meinung Ausdruck verliehen, auch sind in der Duma gerade die besten unter den Konservativen von den Feinden Stolypins ab¬ gerückt, um Anschluß an die Partei der Rechtsordnung zu finden. Der un¬ günstige Eindruck auf die Bauern ist aber geblieben, und wie in einem geheimnisvollen Ringe findet nun auch die Reaktion am Hofe wieder größern Einfluß infolge des radikalen Auftretens der Bauern. Unter diesen Ver¬ hältnissen ist das Vorhandensein des Herrn von Schwanebach als Reichs¬ kontrolleur und des Herrn Wassiltschikow als Landwirtschaftsminister im Kabinett eine nicht zu unterschätzende Gefahr für die konstitutionellen Pläne Stolypins. Beide Herren sind Günstlinge der sehr einflußreichen und be¬ güterten Clique um das Haus des Grafen Scheremetjew und haben dadurch Gelegenheit, auf den Zaren direkt und indirekt einzuwirken. Welchen Einfluß die Leute haben, geht unter anderm aus der kürzlich erfolgten Ernennung des Professors Pichno in den Neichsrat hervor. Herr Pichno ist Herausgeber des in Kijew erscheinenden Kijewljanin, der einen scharfen Feldzug für die sofortige Auflösung der Duma führt. Jetzt geht das ganze Streben der Leute um Scheremetjew darauf hin, Stolypin zu stürzen und womöglich Durnowo an seine Stelle zu setzen. Ein naheliegendes Mittel ist der Hinweis, daß Herr Stolypin den Befehl zur Nichtanwendung der Todesstrafe gegeben hat, obwohl der März wieder eine Steigerung der Opfer durch Mord auf 635 gebracht hat, obwohl auch in Kursk, Jekaterinoslaw, Tula, Tambow Agrar- unruhen einen immer größern Umfang annehmen. Die reaktionäre Presse unterstützt die Bemühungen der Petersburger Clique. Moskowskija Wjcdo- mosti bringt täglich am Kopf in anderthalb Zentimeter hohen Buchstaben den Satz: „Vor allen Dingen muß die Duma aufgelöst werden!" Aus allen Teilen des Reiches treffen täglich Dutzende von Telegrammen und Ge¬ suchen beim Zaren, beim Ministerpräsidenten und in der Duma ein, die eine sofortige Auflösung fordern. Wohin alle diese Verhältnisse führen müsse», brauche ich nicht zu erläutern. Nachdem ich in frühern Briefen von der Organisation der Agrarunruheu gesprochen habe, möchte ich heute nur darauf hinweisen, daß mit einem geschlossenen Aufstand ganzer zusammen¬ hängender Gebiete in diesem Jahre noch nicht zu rechnen ist. Auch wenn die Duma nicht vorzeitig aufgelöst werden sollte, wenn also eine größere Anzahl von revolutionären Abgeordneten unter dem Schutz der Toga des Volkstribunen in die Ferien und auf das platte Land gehn sollte, scheint mir die Organisation der Sozialrevolutionäre nicht stark genug, als daß sie ganze Gebiete auf die Beine bringen könnte. Am schlimmsten sieht es noch im süd¬ lichen und mittlern Wolgagebiet und in Bessarabien aus. Auf die Lage an der Wolga wirken die Arbeiterverhältnisse in Baku, weil alle industriellen Unternehmungen dort auf Naphthaheizung angewiesen sind. Ein größerer

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 66, 1907, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341885_301987/280>, abgerufen am 06.02.2025.