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Die Grenzboten. Jg. 66, 1907, Erstes Vierteljahr.

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Uatholische Belletristik und Publizistik

man die christlichen Gewerkvereine mit konfessionellen Fachvereinen zu sprengen.
(Die Personen, die das tun, werden nicht genannt; es sind einige Fanatiker
in Trier, hinter denen der Bischof Korum stecken dürfte, und einige in Berlin,
deren einer von Savigny heißt.) Sehr interessant sind zwei Artikel, deren einer
über Marie Heurtin berichtet, während der andre die Autobiographie von Helen
Keller rezensiert. Daß diese ein taubstummes und blindes Mädchen ist, an dem
Fräulein Sullivan ein Erziehungswunder vollbracht hat, weiß jedermann in
Deutschland. Dagegen hat vor dem Hochlandartikel noch niemand gewußt, daß
einer französischen Nonne ein noch größeres Wunder gelungen ist. Während
nämlich die Keller (gleich der ebenso bekannten Laura Bridgman) die beiden
höhern Sinne erst im zweiten Jahre verloren, demnach einige Gesichts- und
Gehörseindrücke, auch einige Übung der Sprachwerkzeuge in die Nacht ihres
Seelengefängnisses aufgenommen hat, ist Marie Heurtin, ein Kind armer Leute,
am 13. April 1885 taubstumm und blind geboren worden. Zehn Jahre alt,
wurde sie zu den Schwestern as 1a LaZWss in Larnay gebracht, die 250 Blinde
und Taubstumme verpflegen. In der ungewohnten Umgebung raste das un¬
glückliche Wesen anfangs wie ein wildes Tier. Aber die Schwester Marguerite
erfand eine Fingersprache, mit der sie ihrem Zögling das Verständnis der Außen¬
welt erschloß und Marie so weit brachte, daß sie eine gebildete und gesittete
Person wurde und 1899 die erste Kommunion empfangen konnte "mit voller
Einsicht in die Bedeutung des Aktes". In dem Artikel über die Autobiographie
der Keller wird bemerkt, es verursache Mißbehagen, wenn man darin seiten¬
lange Urteile über englische, deutsche, französische, altklassische Literatur, sogar
auch über bildende Kunst und Theater lese, "Urteile, die offenbar jeder hin¬
reichenden Erfahrungsgrundlage und Selbständigkeit entbehren und nur auf¬
geschnappte Phrasen wiedergeben. Es ist höchst bedauerlich, daß die wunderbaren
Erziehungserfolge der Fräulein Sullivan schließlich in eine solche oberflächliche
Scheinbildung ausmünden, die mit dem Wesen einer Taubstummblinden noch
unangenehmer kontrastiert als mit der Durchschnittsnatur eines vollsinnigen
Backfisches." In der geistigen Entwicklung solcher Taubstummblinden sieht der
Verfasser der beiden Artikel, Hubert Merker, eine glänzende Widerlegung des
Materialismus.

Gerade den vom Materialismus freiesten pflegt sich der Druck des Materiellen
am meisten bemerkbar zu machen. Die katholischen Verleger und Redaktionen
sind im allgemeinen nicht auf Rosen gebettet. Zwar geht es manchen protestantischen
auch nicht besser, dafür aber andern, den erfolgreichen, desto glänzender. Solche
Erfolge sind für die katholischen ausgeschlossen, weil die Bedingung: die in die
Hunderttausende gehende Abnehmerzahl, nicht beschafft werden kann. Die Folge
davon sind schlechte Honorare. Nach der Literarischen Warte kann es auch ein
begabter Novellist höchstens auf dreitausend Mark im Jahre bringen, womit
gesagt ist, daß man von Schriftstellern nicht leben kann, wenn man ausschlie߬
lich auf katholische Abnehmer seiner Geistesprodukte angewiesen ist. Natürlich


Uatholische Belletristik und Publizistik

man die christlichen Gewerkvereine mit konfessionellen Fachvereinen zu sprengen.
(Die Personen, die das tun, werden nicht genannt; es sind einige Fanatiker
in Trier, hinter denen der Bischof Korum stecken dürfte, und einige in Berlin,
deren einer von Savigny heißt.) Sehr interessant sind zwei Artikel, deren einer
über Marie Heurtin berichtet, während der andre die Autobiographie von Helen
Keller rezensiert. Daß diese ein taubstummes und blindes Mädchen ist, an dem
Fräulein Sullivan ein Erziehungswunder vollbracht hat, weiß jedermann in
Deutschland. Dagegen hat vor dem Hochlandartikel noch niemand gewußt, daß
einer französischen Nonne ein noch größeres Wunder gelungen ist. Während
nämlich die Keller (gleich der ebenso bekannten Laura Bridgman) die beiden
höhern Sinne erst im zweiten Jahre verloren, demnach einige Gesichts- und
Gehörseindrücke, auch einige Übung der Sprachwerkzeuge in die Nacht ihres
Seelengefängnisses aufgenommen hat, ist Marie Heurtin, ein Kind armer Leute,
am 13. April 1885 taubstumm und blind geboren worden. Zehn Jahre alt,
wurde sie zu den Schwestern as 1a LaZWss in Larnay gebracht, die 250 Blinde
und Taubstumme verpflegen. In der ungewohnten Umgebung raste das un¬
glückliche Wesen anfangs wie ein wildes Tier. Aber die Schwester Marguerite
erfand eine Fingersprache, mit der sie ihrem Zögling das Verständnis der Außen¬
welt erschloß und Marie so weit brachte, daß sie eine gebildete und gesittete
Person wurde und 1899 die erste Kommunion empfangen konnte „mit voller
Einsicht in die Bedeutung des Aktes". In dem Artikel über die Autobiographie
der Keller wird bemerkt, es verursache Mißbehagen, wenn man darin seiten¬
lange Urteile über englische, deutsche, französische, altklassische Literatur, sogar
auch über bildende Kunst und Theater lese, „Urteile, die offenbar jeder hin¬
reichenden Erfahrungsgrundlage und Selbständigkeit entbehren und nur auf¬
geschnappte Phrasen wiedergeben. Es ist höchst bedauerlich, daß die wunderbaren
Erziehungserfolge der Fräulein Sullivan schließlich in eine solche oberflächliche
Scheinbildung ausmünden, die mit dem Wesen einer Taubstummblinden noch
unangenehmer kontrastiert als mit der Durchschnittsnatur eines vollsinnigen
Backfisches." In der geistigen Entwicklung solcher Taubstummblinden sieht der
Verfasser der beiden Artikel, Hubert Merker, eine glänzende Widerlegung des
Materialismus.

Gerade den vom Materialismus freiesten pflegt sich der Druck des Materiellen
am meisten bemerkbar zu machen. Die katholischen Verleger und Redaktionen
sind im allgemeinen nicht auf Rosen gebettet. Zwar geht es manchen protestantischen
auch nicht besser, dafür aber andern, den erfolgreichen, desto glänzender. Solche
Erfolge sind für die katholischen ausgeschlossen, weil die Bedingung: die in die
Hunderttausende gehende Abnehmerzahl, nicht beschafft werden kann. Die Folge
davon sind schlechte Honorare. Nach der Literarischen Warte kann es auch ein
begabter Novellist höchstens auf dreitausend Mark im Jahre bringen, womit
gesagt ist, daß man von Schriftstellern nicht leben kann, wenn man ausschlie߬
lich auf katholische Abnehmer seiner Geistesprodukte angewiesen ist. Natürlich


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[0643] Uatholische Belletristik und Publizistik man die christlichen Gewerkvereine mit konfessionellen Fachvereinen zu sprengen. (Die Personen, die das tun, werden nicht genannt; es sind einige Fanatiker in Trier, hinter denen der Bischof Korum stecken dürfte, und einige in Berlin, deren einer von Savigny heißt.) Sehr interessant sind zwei Artikel, deren einer über Marie Heurtin berichtet, während der andre die Autobiographie von Helen Keller rezensiert. Daß diese ein taubstummes und blindes Mädchen ist, an dem Fräulein Sullivan ein Erziehungswunder vollbracht hat, weiß jedermann in Deutschland. Dagegen hat vor dem Hochlandartikel noch niemand gewußt, daß einer französischen Nonne ein noch größeres Wunder gelungen ist. Während nämlich die Keller (gleich der ebenso bekannten Laura Bridgman) die beiden höhern Sinne erst im zweiten Jahre verloren, demnach einige Gesichts- und Gehörseindrücke, auch einige Übung der Sprachwerkzeuge in die Nacht ihres Seelengefängnisses aufgenommen hat, ist Marie Heurtin, ein Kind armer Leute, am 13. April 1885 taubstumm und blind geboren worden. Zehn Jahre alt, wurde sie zu den Schwestern as 1a LaZWss in Larnay gebracht, die 250 Blinde und Taubstumme verpflegen. In der ungewohnten Umgebung raste das un¬ glückliche Wesen anfangs wie ein wildes Tier. Aber die Schwester Marguerite erfand eine Fingersprache, mit der sie ihrem Zögling das Verständnis der Außen¬ welt erschloß und Marie so weit brachte, daß sie eine gebildete und gesittete Person wurde und 1899 die erste Kommunion empfangen konnte „mit voller Einsicht in die Bedeutung des Aktes". In dem Artikel über die Autobiographie der Keller wird bemerkt, es verursache Mißbehagen, wenn man darin seiten¬ lange Urteile über englische, deutsche, französische, altklassische Literatur, sogar auch über bildende Kunst und Theater lese, „Urteile, die offenbar jeder hin¬ reichenden Erfahrungsgrundlage und Selbständigkeit entbehren und nur auf¬ geschnappte Phrasen wiedergeben. Es ist höchst bedauerlich, daß die wunderbaren Erziehungserfolge der Fräulein Sullivan schließlich in eine solche oberflächliche Scheinbildung ausmünden, die mit dem Wesen einer Taubstummblinden noch unangenehmer kontrastiert als mit der Durchschnittsnatur eines vollsinnigen Backfisches." In der geistigen Entwicklung solcher Taubstummblinden sieht der Verfasser der beiden Artikel, Hubert Merker, eine glänzende Widerlegung des Materialismus. Gerade den vom Materialismus freiesten pflegt sich der Druck des Materiellen am meisten bemerkbar zu machen. Die katholischen Verleger und Redaktionen sind im allgemeinen nicht auf Rosen gebettet. Zwar geht es manchen protestantischen auch nicht besser, dafür aber andern, den erfolgreichen, desto glänzender. Solche Erfolge sind für die katholischen ausgeschlossen, weil die Bedingung: die in die Hunderttausende gehende Abnehmerzahl, nicht beschafft werden kann. Die Folge davon sind schlechte Honorare. Nach der Literarischen Warte kann es auch ein begabter Novellist höchstens auf dreitausend Mark im Jahre bringen, womit gesagt ist, daß man von Schriftstellern nicht leben kann, wenn man ausschlie߬ lich auf katholische Abnehmer seiner Geistesprodukte angewiesen ist. Natürlich

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 66, 1907, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341885_301253/643>, abgerufen am 02.07.2024.