Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 66, 1907, Erstes Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
Das höhere Schulwesen in Europa

Staaten, von der allgemeinen Volksschule erteilt wird, oder wie in Preußen
und in mehreren schon erwähnten deutschen Staaten sowie in Österreich, Frank¬
reich, Belgien, in besondern Vorschulen oder Vorbereitungsanstalten erteilt werden
kann. Ferner unterscheidet sich, mehr oder weniger ausgeprägt im einzelnen,
fast durchgängig die gymnasiale, den Unterricht in den alten Sprachen bevor¬
zugende Richtung von der realen Richtung, die den Schwerpunkt in den neu¬
sprachig-mathematisch-naturwissenschaftlichen Unterricht legt. Die Ziele sind
nicht überall gleich hoch gesteckt, und in einigen Ländern erscheint der Lehrplan
etwas sehr kompliziert und überladen; im allgemeinen wird aber eine mehr oder
weniger abgeschlossene Bildung, sei es für praktische Lebensberufe, sei es für
gelehrte Studien angestrebt. Insofern kann man sehr wohl von einem "kon¬
tinentalen europäischen Schulschema" reden.

Am besten entwickelt ist die Organisation des höhern Unterrichtswesens
zweifellos in den mitteleuropäischen germanischen Festlandstaaten und in den
nordischen Reichen. Das Prinzip der Einheitsschule, das eine organische Ge¬
staltung des gesamten öffentlichen Schulunterrichts anstrebt, suchen Schweden,
Norwegen und Dänemark folgerichtig durchzuführen. Im Deutschen Reiche haben
die auf Einführung der Einheitsschule gerichteten Reformbestrebungen bisher
keinen Erfolg gehabt, obwohl, in der Theorie wenigstens, die Einheitsschule,
die einen organischen Aufbau aller andern Schulformen auf der allgemeinen
Volksschule herstellen soll, vom pädagogischen, sozialen, wirtschaftlichen, kultur-
gemüßen und nationalen Standpunkt eine ideale Bedeutung zu haben scheint.
Überhaupt fehlt es noch an einer einheitlichen Gestaltung des höhern Schul¬
wesens im Deutschen Reiche, die preußischen Reformen scheinen jedoch immer
mehr vorbildlich zu werden. Eine Ausnahmestellung nimmt im Deutschen Reiche
eigentlich nur noch Bayern ein. Aber auch hier macht sich eine starke Bewegung
für eine Reform des höhern oder, wie es dort genannt wird, Mittelschulwesens
nach preußischem Vorbilde geltend, denn die nachteiligen Wirkungen der bay¬
rischen Sonderstellung auf diesem Gebiete werden immer deutlicher erkannt,
namentlich der Mangel an Oberrealschulen und an der in Preußen durchgeführten
Gleichberechtigung aller höhern Lehranstalten.*) Einen Vorzug hat aber unsers
Erachtens Bayern darin, daß es auf die sogenannten Vorschulen für den vor¬
bereitenden Elementarunterricht verzichtet und alle schulpflichtigen Kinder zu¬
nächst die allgemeine Volksschule besuchen läßt. "Es hat, wie der Kultus¬
minister Dr. Bosse in der Sitzung des preußischen Abgeordnetenhauses vom
27. Mai 1892 erklärte, seine großen Vorzüge, die Kinder zunächst in die all¬
gemeine Volksschule zu schicken, und seine sehr großen Nachteile, durch die Vor¬
schule schon die Kinder nach Ständen und in ihren Anschauungsweisen zu trennen,
zu Zeiten, wo dieselben dafür noch nicht reif sind, und wo dafür ein spezielles



Diese Bewegung hat den Erfolg gehabt, daß mit Beginn des Schuljahres 1907 die
vier bayrischen Industrieschulen in Oberrealschulen und zwei Gymnasien in Reformschulen um¬
gewandelt werden sollen.
Das höhere Schulwesen in Europa

Staaten, von der allgemeinen Volksschule erteilt wird, oder wie in Preußen
und in mehreren schon erwähnten deutschen Staaten sowie in Österreich, Frank¬
reich, Belgien, in besondern Vorschulen oder Vorbereitungsanstalten erteilt werden
kann. Ferner unterscheidet sich, mehr oder weniger ausgeprägt im einzelnen,
fast durchgängig die gymnasiale, den Unterricht in den alten Sprachen bevor¬
zugende Richtung von der realen Richtung, die den Schwerpunkt in den neu¬
sprachig-mathematisch-naturwissenschaftlichen Unterricht legt. Die Ziele sind
nicht überall gleich hoch gesteckt, und in einigen Ländern erscheint der Lehrplan
etwas sehr kompliziert und überladen; im allgemeinen wird aber eine mehr oder
weniger abgeschlossene Bildung, sei es für praktische Lebensberufe, sei es für
gelehrte Studien angestrebt. Insofern kann man sehr wohl von einem „kon¬
tinentalen europäischen Schulschema" reden.

Am besten entwickelt ist die Organisation des höhern Unterrichtswesens
zweifellos in den mitteleuropäischen germanischen Festlandstaaten und in den
nordischen Reichen. Das Prinzip der Einheitsschule, das eine organische Ge¬
staltung des gesamten öffentlichen Schulunterrichts anstrebt, suchen Schweden,
Norwegen und Dänemark folgerichtig durchzuführen. Im Deutschen Reiche haben
die auf Einführung der Einheitsschule gerichteten Reformbestrebungen bisher
keinen Erfolg gehabt, obwohl, in der Theorie wenigstens, die Einheitsschule,
die einen organischen Aufbau aller andern Schulformen auf der allgemeinen
Volksschule herstellen soll, vom pädagogischen, sozialen, wirtschaftlichen, kultur-
gemüßen und nationalen Standpunkt eine ideale Bedeutung zu haben scheint.
Überhaupt fehlt es noch an einer einheitlichen Gestaltung des höhern Schul¬
wesens im Deutschen Reiche, die preußischen Reformen scheinen jedoch immer
mehr vorbildlich zu werden. Eine Ausnahmestellung nimmt im Deutschen Reiche
eigentlich nur noch Bayern ein. Aber auch hier macht sich eine starke Bewegung
für eine Reform des höhern oder, wie es dort genannt wird, Mittelschulwesens
nach preußischem Vorbilde geltend, denn die nachteiligen Wirkungen der bay¬
rischen Sonderstellung auf diesem Gebiete werden immer deutlicher erkannt,
namentlich der Mangel an Oberrealschulen und an der in Preußen durchgeführten
Gleichberechtigung aller höhern Lehranstalten.*) Einen Vorzug hat aber unsers
Erachtens Bayern darin, daß es auf die sogenannten Vorschulen für den vor¬
bereitenden Elementarunterricht verzichtet und alle schulpflichtigen Kinder zu¬
nächst die allgemeine Volksschule besuchen läßt. „Es hat, wie der Kultus¬
minister Dr. Bosse in der Sitzung des preußischen Abgeordnetenhauses vom
27. Mai 1892 erklärte, seine großen Vorzüge, die Kinder zunächst in die all¬
gemeine Volksschule zu schicken, und seine sehr großen Nachteile, durch die Vor¬
schule schon die Kinder nach Ständen und in ihren Anschauungsweisen zu trennen,
zu Zeiten, wo dieselben dafür noch nicht reif sind, und wo dafür ein spezielles



Diese Bewegung hat den Erfolg gehabt, daß mit Beginn des Schuljahres 1907 die
vier bayrischen Industrieschulen in Oberrealschulen und zwei Gymnasien in Reformschulen um¬
gewandelt werden sollen.
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0634" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/301888"/>
          <fw type="header" place="top"> Das höhere Schulwesen in Europa</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_2325" prev="#ID_2324"> Staaten, von der allgemeinen Volksschule erteilt wird, oder wie in Preußen<lb/>
und in mehreren schon erwähnten deutschen Staaten sowie in Österreich, Frank¬<lb/>
reich, Belgien, in besondern Vorschulen oder Vorbereitungsanstalten erteilt werden<lb/>
kann. Ferner unterscheidet sich, mehr oder weniger ausgeprägt im einzelnen,<lb/>
fast durchgängig die gymnasiale, den Unterricht in den alten Sprachen bevor¬<lb/>
zugende Richtung von der realen Richtung, die den Schwerpunkt in den neu¬<lb/>
sprachig-mathematisch-naturwissenschaftlichen Unterricht legt. Die Ziele sind<lb/>
nicht überall gleich hoch gesteckt, und in einigen Ländern erscheint der Lehrplan<lb/>
etwas sehr kompliziert und überladen; im allgemeinen wird aber eine mehr oder<lb/>
weniger abgeschlossene Bildung, sei es für praktische Lebensberufe, sei es für<lb/>
gelehrte Studien angestrebt. Insofern kann man sehr wohl von einem &#x201E;kon¬<lb/>
tinentalen europäischen Schulschema" reden.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_2326" next="#ID_2327"> Am besten entwickelt ist die Organisation des höhern Unterrichtswesens<lb/>
zweifellos in den mitteleuropäischen germanischen Festlandstaaten und in den<lb/>
nordischen Reichen. Das Prinzip der Einheitsschule, das eine organische Ge¬<lb/>
staltung des gesamten öffentlichen Schulunterrichts anstrebt, suchen Schweden,<lb/>
Norwegen und Dänemark folgerichtig durchzuführen. Im Deutschen Reiche haben<lb/>
die auf Einführung der Einheitsschule gerichteten Reformbestrebungen bisher<lb/>
keinen Erfolg gehabt, obwohl, in der Theorie wenigstens, die Einheitsschule,<lb/>
die einen organischen Aufbau aller andern Schulformen auf der allgemeinen<lb/>
Volksschule herstellen soll, vom pädagogischen, sozialen, wirtschaftlichen, kultur-<lb/>
gemüßen und nationalen Standpunkt eine ideale Bedeutung zu haben scheint.<lb/>
Überhaupt fehlt es noch an einer einheitlichen Gestaltung des höhern Schul¬<lb/>
wesens im Deutschen Reiche, die preußischen Reformen scheinen jedoch immer<lb/>
mehr vorbildlich zu werden. Eine Ausnahmestellung nimmt im Deutschen Reiche<lb/>
eigentlich nur noch Bayern ein. Aber auch hier macht sich eine starke Bewegung<lb/>
für eine Reform des höhern oder, wie es dort genannt wird, Mittelschulwesens<lb/>
nach preußischem Vorbilde geltend, denn die nachteiligen Wirkungen der bay¬<lb/>
rischen Sonderstellung auf diesem Gebiete werden immer deutlicher erkannt,<lb/>
namentlich der Mangel an Oberrealschulen und an der in Preußen durchgeführten<lb/>
Gleichberechtigung aller höhern Lehranstalten.*) Einen Vorzug hat aber unsers<lb/>
Erachtens Bayern darin, daß es auf die sogenannten Vorschulen für den vor¬<lb/>
bereitenden Elementarunterricht verzichtet und alle schulpflichtigen Kinder zu¬<lb/>
nächst die allgemeine Volksschule besuchen läßt. &#x201E;Es hat, wie der Kultus¬<lb/>
minister Dr. Bosse in der Sitzung des preußischen Abgeordnetenhauses vom<lb/>
27. Mai 1892 erklärte, seine großen Vorzüge, die Kinder zunächst in die all¬<lb/>
gemeine Volksschule zu schicken, und seine sehr großen Nachteile, durch die Vor¬<lb/>
schule schon die Kinder nach Ständen und in ihren Anschauungsweisen zu trennen,<lb/>
zu Zeiten, wo dieselben dafür noch nicht reif sind, und wo dafür ein spezielles</p><lb/>
          <note xml:id="FID_78" place="foot"> Diese Bewegung hat den Erfolg gehabt, daß mit Beginn des Schuljahres 1907 die<lb/>
vier bayrischen Industrieschulen in Oberrealschulen und zwei Gymnasien in Reformschulen um¬<lb/>
gewandelt werden sollen.</note><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0634] Das höhere Schulwesen in Europa Staaten, von der allgemeinen Volksschule erteilt wird, oder wie in Preußen und in mehreren schon erwähnten deutschen Staaten sowie in Österreich, Frank¬ reich, Belgien, in besondern Vorschulen oder Vorbereitungsanstalten erteilt werden kann. Ferner unterscheidet sich, mehr oder weniger ausgeprägt im einzelnen, fast durchgängig die gymnasiale, den Unterricht in den alten Sprachen bevor¬ zugende Richtung von der realen Richtung, die den Schwerpunkt in den neu¬ sprachig-mathematisch-naturwissenschaftlichen Unterricht legt. Die Ziele sind nicht überall gleich hoch gesteckt, und in einigen Ländern erscheint der Lehrplan etwas sehr kompliziert und überladen; im allgemeinen wird aber eine mehr oder weniger abgeschlossene Bildung, sei es für praktische Lebensberufe, sei es für gelehrte Studien angestrebt. Insofern kann man sehr wohl von einem „kon¬ tinentalen europäischen Schulschema" reden. Am besten entwickelt ist die Organisation des höhern Unterrichtswesens zweifellos in den mitteleuropäischen germanischen Festlandstaaten und in den nordischen Reichen. Das Prinzip der Einheitsschule, das eine organische Ge¬ staltung des gesamten öffentlichen Schulunterrichts anstrebt, suchen Schweden, Norwegen und Dänemark folgerichtig durchzuführen. Im Deutschen Reiche haben die auf Einführung der Einheitsschule gerichteten Reformbestrebungen bisher keinen Erfolg gehabt, obwohl, in der Theorie wenigstens, die Einheitsschule, die einen organischen Aufbau aller andern Schulformen auf der allgemeinen Volksschule herstellen soll, vom pädagogischen, sozialen, wirtschaftlichen, kultur- gemüßen und nationalen Standpunkt eine ideale Bedeutung zu haben scheint. Überhaupt fehlt es noch an einer einheitlichen Gestaltung des höhern Schul¬ wesens im Deutschen Reiche, die preußischen Reformen scheinen jedoch immer mehr vorbildlich zu werden. Eine Ausnahmestellung nimmt im Deutschen Reiche eigentlich nur noch Bayern ein. Aber auch hier macht sich eine starke Bewegung für eine Reform des höhern oder, wie es dort genannt wird, Mittelschulwesens nach preußischem Vorbilde geltend, denn die nachteiligen Wirkungen der bay¬ rischen Sonderstellung auf diesem Gebiete werden immer deutlicher erkannt, namentlich der Mangel an Oberrealschulen und an der in Preußen durchgeführten Gleichberechtigung aller höhern Lehranstalten.*) Einen Vorzug hat aber unsers Erachtens Bayern darin, daß es auf die sogenannten Vorschulen für den vor¬ bereitenden Elementarunterricht verzichtet und alle schulpflichtigen Kinder zu¬ nächst die allgemeine Volksschule besuchen läßt. „Es hat, wie der Kultus¬ minister Dr. Bosse in der Sitzung des preußischen Abgeordnetenhauses vom 27. Mai 1892 erklärte, seine großen Vorzüge, die Kinder zunächst in die all¬ gemeine Volksschule zu schicken, und seine sehr großen Nachteile, durch die Vor¬ schule schon die Kinder nach Ständen und in ihren Anschauungsweisen zu trennen, zu Zeiten, wo dieselben dafür noch nicht reif sind, und wo dafür ein spezielles Diese Bewegung hat den Erfolg gehabt, daß mit Beginn des Schuljahres 1907 die vier bayrischen Industrieschulen in Oberrealschulen und zwei Gymnasien in Reformschulen um¬ gewandelt werden sollen.

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341885_301253
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341885_301253/634
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 66, 1907, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341885_301253/634>, abgerufen am 24.07.2024.