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Die Grenzboten. Jg. 66, 1907, Erstes Vierteljahr.

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Das höhere Schulwesen in Europa

Bedürfnis noch nicht besteht." Und ganz zutreffend bemerkte der Abgeordnete
Rickert in der folgenden Sitzung, daß es viel zur Hebung der Volksschule bei¬
tragen würde, wenn man die Kinder aller Stunde in die Volksschule gehen
ließe, "und was in München möglich ist, wo der Sohn des Ministers neben
dem Sohne des Arbeiters auf derselben Bank in der Volksschule sitzt, warum
sollte das nicht in dem führenden Staate Deutschlands, in Preußen, auch mög¬
lich sein?" Wenn die sozialen Gegensätze und Standesunterschiede in Bayern
beim öffentlichen Verkehr nicht so scharf in die Erscheinung treten wie in Nord¬
deutschland, so findet dies seine Erklärung nicht bloß in der angeblichen demo-
kratischern Veranlagung des Süddeutschen, sondern es ist wohl eine Folge des
gemeinsamen Unterrichts der Jugend in der Volksschule. Jedenfalls sprechen die
Erfahrungen, die man in Bayern und auch im Königreiche Sachsen, wo man
keine Vorschulen für höhere Lehranstalten kennt, gesammelt hat, weit mehr für
die Abschaffung dieser besondern Elementarschule als irgendwelche Einwände,
die nur aus theoretischen Erwägungen dagegen erhoben werden. In einer Zeit,
in der wie in der Gegenwart der soziale Klassenkampf von gewisser Seite ge¬
flissentlich geschürt wird, sollte man alles beseitigen, was den Führern dieses
Kampfes Waffen in die Hand liefern könnte. Darum sollte sich in der Vorschul¬
frage ganz Deutschland auf den Standpunkt Bayerns und Sachsens stellen.

Vielleicht wird man auch im Deutschen Reiche später einmal zum skandi¬
navischen Einheitsschulprinzip übergehen. Zunächst scheint es, als ob sich die
Entwicklung des deutschen höhern Schulwesens in der Richtung des Neform-
schulgedankens vollziehen werde, wenn erst einmal die Gleichberechtigung aller
höhern Lehranstalten überall durchgeführt und die Realschule in die ihr ge¬
bührende Stellung der deutschen Bürgerschule eingerückt ist. Das Zweite läßt
sich aber nur durch allgemeine Einführung der auf dem Prinzip des gemein¬
samen lateinlosen Unterbaues beruhenden Reformschule erreichen, wenn man zu¬
gleich die Erwerbung von irgendwelchen Berechtigungen vor Ablegung der Reise-
Prüfung von allen neunstufigen höhern Lehranstalten ausschließt und die Er¬
langung der Berechtigung zum einjährig-freiwilligen Militärdienst sowohl wie
aller Berechtigungen zu den sogenannten subalternen Berufsarten mit dem
Reifezeugnis der sechsstufigen Realschule verbindet. Dann erst kann man er¬
reichen, daß die Schüler, deren Unfähigkeit zu wissenschaftlichen Studien sich
Während des Unterrichts auf der allen höhern Lehranstalten gemeinsamen Unter¬
stufe herausgestellt hat, oder die überhaupt nur die Absicht haben, die Be¬
rechtigung zum einjährig-freiwilligen Militärdienst zu erwerben, auf die sechs¬
stufige Realschule übergehn, um dort eine abgeschlossene bürgerliche Bildung zu
erlangen, wie sie die neunstufigen humanistischen Anstalten in Anbetracht ihres
auf das Endziel gerichteten Lehrplanes den aus der Untersekunda mit dem Be¬
rechtigungsscheine abgehenden "Einjährigen" nicht gewähren können.

Zur parlamentarischen Erörterung ist die Reformschulfrage zuletzt bei den
Etatsberatungen im preußischen Landtage gebracht worden. Im Abgeordneten¬
hause war es der freisinnige Abgeordnete Dr. Cassel, der sich gegen die Reform-


Das höhere Schulwesen in Europa

Bedürfnis noch nicht besteht." Und ganz zutreffend bemerkte der Abgeordnete
Rickert in der folgenden Sitzung, daß es viel zur Hebung der Volksschule bei¬
tragen würde, wenn man die Kinder aller Stunde in die Volksschule gehen
ließe, „und was in München möglich ist, wo der Sohn des Ministers neben
dem Sohne des Arbeiters auf derselben Bank in der Volksschule sitzt, warum
sollte das nicht in dem führenden Staate Deutschlands, in Preußen, auch mög¬
lich sein?" Wenn die sozialen Gegensätze und Standesunterschiede in Bayern
beim öffentlichen Verkehr nicht so scharf in die Erscheinung treten wie in Nord¬
deutschland, so findet dies seine Erklärung nicht bloß in der angeblichen demo-
kratischern Veranlagung des Süddeutschen, sondern es ist wohl eine Folge des
gemeinsamen Unterrichts der Jugend in der Volksschule. Jedenfalls sprechen die
Erfahrungen, die man in Bayern und auch im Königreiche Sachsen, wo man
keine Vorschulen für höhere Lehranstalten kennt, gesammelt hat, weit mehr für
die Abschaffung dieser besondern Elementarschule als irgendwelche Einwände,
die nur aus theoretischen Erwägungen dagegen erhoben werden. In einer Zeit,
in der wie in der Gegenwart der soziale Klassenkampf von gewisser Seite ge¬
flissentlich geschürt wird, sollte man alles beseitigen, was den Führern dieses
Kampfes Waffen in die Hand liefern könnte. Darum sollte sich in der Vorschul¬
frage ganz Deutschland auf den Standpunkt Bayerns und Sachsens stellen.

Vielleicht wird man auch im Deutschen Reiche später einmal zum skandi¬
navischen Einheitsschulprinzip übergehen. Zunächst scheint es, als ob sich die
Entwicklung des deutschen höhern Schulwesens in der Richtung des Neform-
schulgedankens vollziehen werde, wenn erst einmal die Gleichberechtigung aller
höhern Lehranstalten überall durchgeführt und die Realschule in die ihr ge¬
bührende Stellung der deutschen Bürgerschule eingerückt ist. Das Zweite läßt
sich aber nur durch allgemeine Einführung der auf dem Prinzip des gemein¬
samen lateinlosen Unterbaues beruhenden Reformschule erreichen, wenn man zu¬
gleich die Erwerbung von irgendwelchen Berechtigungen vor Ablegung der Reise-
Prüfung von allen neunstufigen höhern Lehranstalten ausschließt und die Er¬
langung der Berechtigung zum einjährig-freiwilligen Militärdienst sowohl wie
aller Berechtigungen zu den sogenannten subalternen Berufsarten mit dem
Reifezeugnis der sechsstufigen Realschule verbindet. Dann erst kann man er¬
reichen, daß die Schüler, deren Unfähigkeit zu wissenschaftlichen Studien sich
Während des Unterrichts auf der allen höhern Lehranstalten gemeinsamen Unter¬
stufe herausgestellt hat, oder die überhaupt nur die Absicht haben, die Be¬
rechtigung zum einjährig-freiwilligen Militärdienst zu erwerben, auf die sechs¬
stufige Realschule übergehn, um dort eine abgeschlossene bürgerliche Bildung zu
erlangen, wie sie die neunstufigen humanistischen Anstalten in Anbetracht ihres
auf das Endziel gerichteten Lehrplanes den aus der Untersekunda mit dem Be¬
rechtigungsscheine abgehenden „Einjährigen" nicht gewähren können.

Zur parlamentarischen Erörterung ist die Reformschulfrage zuletzt bei den
Etatsberatungen im preußischen Landtage gebracht worden. Im Abgeordneten¬
hause war es der freisinnige Abgeordnete Dr. Cassel, der sich gegen die Reform-


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[0635] Das höhere Schulwesen in Europa Bedürfnis noch nicht besteht." Und ganz zutreffend bemerkte der Abgeordnete Rickert in der folgenden Sitzung, daß es viel zur Hebung der Volksschule bei¬ tragen würde, wenn man die Kinder aller Stunde in die Volksschule gehen ließe, „und was in München möglich ist, wo der Sohn des Ministers neben dem Sohne des Arbeiters auf derselben Bank in der Volksschule sitzt, warum sollte das nicht in dem führenden Staate Deutschlands, in Preußen, auch mög¬ lich sein?" Wenn die sozialen Gegensätze und Standesunterschiede in Bayern beim öffentlichen Verkehr nicht so scharf in die Erscheinung treten wie in Nord¬ deutschland, so findet dies seine Erklärung nicht bloß in der angeblichen demo- kratischern Veranlagung des Süddeutschen, sondern es ist wohl eine Folge des gemeinsamen Unterrichts der Jugend in der Volksschule. Jedenfalls sprechen die Erfahrungen, die man in Bayern und auch im Königreiche Sachsen, wo man keine Vorschulen für höhere Lehranstalten kennt, gesammelt hat, weit mehr für die Abschaffung dieser besondern Elementarschule als irgendwelche Einwände, die nur aus theoretischen Erwägungen dagegen erhoben werden. In einer Zeit, in der wie in der Gegenwart der soziale Klassenkampf von gewisser Seite ge¬ flissentlich geschürt wird, sollte man alles beseitigen, was den Führern dieses Kampfes Waffen in die Hand liefern könnte. Darum sollte sich in der Vorschul¬ frage ganz Deutschland auf den Standpunkt Bayerns und Sachsens stellen. Vielleicht wird man auch im Deutschen Reiche später einmal zum skandi¬ navischen Einheitsschulprinzip übergehen. Zunächst scheint es, als ob sich die Entwicklung des deutschen höhern Schulwesens in der Richtung des Neform- schulgedankens vollziehen werde, wenn erst einmal die Gleichberechtigung aller höhern Lehranstalten überall durchgeführt und die Realschule in die ihr ge¬ bührende Stellung der deutschen Bürgerschule eingerückt ist. Das Zweite läßt sich aber nur durch allgemeine Einführung der auf dem Prinzip des gemein¬ samen lateinlosen Unterbaues beruhenden Reformschule erreichen, wenn man zu¬ gleich die Erwerbung von irgendwelchen Berechtigungen vor Ablegung der Reise- Prüfung von allen neunstufigen höhern Lehranstalten ausschließt und die Er¬ langung der Berechtigung zum einjährig-freiwilligen Militärdienst sowohl wie aller Berechtigungen zu den sogenannten subalternen Berufsarten mit dem Reifezeugnis der sechsstufigen Realschule verbindet. Dann erst kann man er¬ reichen, daß die Schüler, deren Unfähigkeit zu wissenschaftlichen Studien sich Während des Unterrichts auf der allen höhern Lehranstalten gemeinsamen Unter¬ stufe herausgestellt hat, oder die überhaupt nur die Absicht haben, die Be¬ rechtigung zum einjährig-freiwilligen Militärdienst zu erwerben, auf die sechs¬ stufige Realschule übergehn, um dort eine abgeschlossene bürgerliche Bildung zu erlangen, wie sie die neunstufigen humanistischen Anstalten in Anbetracht ihres auf das Endziel gerichteten Lehrplanes den aus der Untersekunda mit dem Be¬ rechtigungsscheine abgehenden „Einjährigen" nicht gewähren können. Zur parlamentarischen Erörterung ist die Reformschulfrage zuletzt bei den Etatsberatungen im preußischen Landtage gebracht worden. Im Abgeordneten¬ hause war es der freisinnige Abgeordnete Dr. Cassel, der sich gegen die Reform-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 66, 1907, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341885_301253/635>, abgerufen am 24.07.2024.