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Die Grenzboten. Jg. 66, 1907, Erstes Vierteljahr.

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Das höhere Schulwesen in Europa

der zweite Zyklus umfaßt vier Gruppen: eine lateinisch-griechische, eine lateinisch-
neusprachige, eine lateinisch-mathematisch-naturwissenschaftliche und eine neu¬
sprachig-mathematisch-naturwissenschaftliche. Die erste Gruppe entspricht etwa
dem deutschen Gymnasium, die zweite und die dritte Gruppe dem deutschen
Realgymnasium und die vierte Gruppe den deutschen Real- und Oberrealschulen.
Die drei ersten Gruppen haben einen gemeinsamen zweistufigen Unterbau.

In Portugal umfassen die Lyzeen genannten höhern Schulen einen fünf¬
stufigen allgemeinen Kursus und einen zweistufigen Komplementärkursus, den
aber nur die sogenannten Zentrallyzeen in Lissabon, Coimbra und Oporto haben,
während sich die sogenannten Nationallyzeen auf den allgemeinen Kursus be¬
schränken. In Spanien wird der höhere Schulunterricht in den sogenannten
Instiwtos genera1k8 tsonioo8 erteilt. Für die "allgemeinen Studien auf den
Grad des Bakkalaureus" ist seit 1903 ein sechsjähriger Kursus vorgeschrieben.
Das spanische Bakkalaureatsexamen entspricht aber keineswegs der Reifeprüfung der
neunstufigen höhern Lehranstalten Deutschlands. Italien hat achtstufige höhere
Schulen, deren fünf untere Stufen das Gymnasium bilden, während die drei obern
Stufen Lyzeum genannt werden, in dessen beiden obersten Klassen eine Gabelung
durch Wegfall der Mathematik auf der einen, des Griechischen auf der andern Seite
eintritt. In Griechenland bildet die dreistufige "hellenische Schule" das Binde¬
glied zwischen der Elementarschule und dem vierstufigen Gymnasium, das aber
mit dem deutschen Gymnasium nicht in Vergleich zu stellen ist. Die Türkei
hat in ihrem Schulwesen das Prinzip der Einheitsschule in drei Stufen. Ele¬
mentarschule (Jbtiadieh), Mittelschule (Nüschdieh) und höhere Schule (Jdadieh),
verwirklicht. Die Elementarschule und die Mittelschule sind dreiklassig. Die
Mittelschule ist in der Regel mit der vierklassigen höhern Schule verbunden.
Die Türkei kennt keine gesetzliche Schulpflicht, im allgemeinen setzen aber die
Spezialstudien dienenden Lehranstalten den Besuch der Rüschdieh und der Jdadieh
voraus. Solche Spezialschulen sind die für die höhere Verwaltungslaufbahn
vorbereitende Müldieh in Stambul, die Rechtsschule, die Medizinschule, die Kunst¬
akademie, die Handelsschule, die Maschineningenieurschule, die Ziviltierarztschule
und die Ackerbauschule.

In England ist das Schulwesen nicht einheitlich organisiert, und man
unterscheidet nicht einmal genau zwischen Volksschulen. Mittelschulen und Hoch¬
schulen. Allgemein giltige Lehrpläne mit bestimmter Abgrenzung und Verteilung
des Lehrstoffes auf verschiedne Stufen wie in den europäischen Festlandstaaten
sind nicht vorhanden. "Die englischen Schulen passen also ganz und gar nicht
in das kontinentale Schema", bemerkt Professor Dr. Horn zutreffend, und er
hat deshalb mit Recht auf die Mitteilung eines Stundenplans verzichtet.

Bei allen Abweichungen im einzelnen hat doch die Organisation des höhern
Schulwesens im festländischen Europa gewisse Grundzüge gemein. Der höhere
Unterricht setzt überall einen vorbereitenden Elementarunterricht voraus, der ent¬
weder, wie in Bayern, Baden, Hessen, Sachsen und einigen andern deutschen


Grenzboten I 1907 81
Das höhere Schulwesen in Europa

der zweite Zyklus umfaßt vier Gruppen: eine lateinisch-griechische, eine lateinisch-
neusprachige, eine lateinisch-mathematisch-naturwissenschaftliche und eine neu¬
sprachig-mathematisch-naturwissenschaftliche. Die erste Gruppe entspricht etwa
dem deutschen Gymnasium, die zweite und die dritte Gruppe dem deutschen
Realgymnasium und die vierte Gruppe den deutschen Real- und Oberrealschulen.
Die drei ersten Gruppen haben einen gemeinsamen zweistufigen Unterbau.

In Portugal umfassen die Lyzeen genannten höhern Schulen einen fünf¬
stufigen allgemeinen Kursus und einen zweistufigen Komplementärkursus, den
aber nur die sogenannten Zentrallyzeen in Lissabon, Coimbra und Oporto haben,
während sich die sogenannten Nationallyzeen auf den allgemeinen Kursus be¬
schränken. In Spanien wird der höhere Schulunterricht in den sogenannten
Instiwtos genera1k8 tsonioo8 erteilt. Für die „allgemeinen Studien auf den
Grad des Bakkalaureus" ist seit 1903 ein sechsjähriger Kursus vorgeschrieben.
Das spanische Bakkalaureatsexamen entspricht aber keineswegs der Reifeprüfung der
neunstufigen höhern Lehranstalten Deutschlands. Italien hat achtstufige höhere
Schulen, deren fünf untere Stufen das Gymnasium bilden, während die drei obern
Stufen Lyzeum genannt werden, in dessen beiden obersten Klassen eine Gabelung
durch Wegfall der Mathematik auf der einen, des Griechischen auf der andern Seite
eintritt. In Griechenland bildet die dreistufige „hellenische Schule" das Binde¬
glied zwischen der Elementarschule und dem vierstufigen Gymnasium, das aber
mit dem deutschen Gymnasium nicht in Vergleich zu stellen ist. Die Türkei
hat in ihrem Schulwesen das Prinzip der Einheitsschule in drei Stufen. Ele¬
mentarschule (Jbtiadieh), Mittelschule (Nüschdieh) und höhere Schule (Jdadieh),
verwirklicht. Die Elementarschule und die Mittelschule sind dreiklassig. Die
Mittelschule ist in der Regel mit der vierklassigen höhern Schule verbunden.
Die Türkei kennt keine gesetzliche Schulpflicht, im allgemeinen setzen aber die
Spezialstudien dienenden Lehranstalten den Besuch der Rüschdieh und der Jdadieh
voraus. Solche Spezialschulen sind die für die höhere Verwaltungslaufbahn
vorbereitende Müldieh in Stambul, die Rechtsschule, die Medizinschule, die Kunst¬
akademie, die Handelsschule, die Maschineningenieurschule, die Ziviltierarztschule
und die Ackerbauschule.

In England ist das Schulwesen nicht einheitlich organisiert, und man
unterscheidet nicht einmal genau zwischen Volksschulen. Mittelschulen und Hoch¬
schulen. Allgemein giltige Lehrpläne mit bestimmter Abgrenzung und Verteilung
des Lehrstoffes auf verschiedne Stufen wie in den europäischen Festlandstaaten
sind nicht vorhanden. „Die englischen Schulen passen also ganz und gar nicht
in das kontinentale Schema", bemerkt Professor Dr. Horn zutreffend, und er
hat deshalb mit Recht auf die Mitteilung eines Stundenplans verzichtet.

Bei allen Abweichungen im einzelnen hat doch die Organisation des höhern
Schulwesens im festländischen Europa gewisse Grundzüge gemein. Der höhere
Unterricht setzt überall einen vorbereitenden Elementarunterricht voraus, der ent¬
weder, wie in Bayern, Baden, Hessen, Sachsen und einigen andern deutschen


Grenzboten I 1907 81
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[0633] Das höhere Schulwesen in Europa der zweite Zyklus umfaßt vier Gruppen: eine lateinisch-griechische, eine lateinisch- neusprachige, eine lateinisch-mathematisch-naturwissenschaftliche und eine neu¬ sprachig-mathematisch-naturwissenschaftliche. Die erste Gruppe entspricht etwa dem deutschen Gymnasium, die zweite und die dritte Gruppe dem deutschen Realgymnasium und die vierte Gruppe den deutschen Real- und Oberrealschulen. Die drei ersten Gruppen haben einen gemeinsamen zweistufigen Unterbau. In Portugal umfassen die Lyzeen genannten höhern Schulen einen fünf¬ stufigen allgemeinen Kursus und einen zweistufigen Komplementärkursus, den aber nur die sogenannten Zentrallyzeen in Lissabon, Coimbra und Oporto haben, während sich die sogenannten Nationallyzeen auf den allgemeinen Kursus be¬ schränken. In Spanien wird der höhere Schulunterricht in den sogenannten Instiwtos genera1k8 tsonioo8 erteilt. Für die „allgemeinen Studien auf den Grad des Bakkalaureus" ist seit 1903 ein sechsjähriger Kursus vorgeschrieben. Das spanische Bakkalaureatsexamen entspricht aber keineswegs der Reifeprüfung der neunstufigen höhern Lehranstalten Deutschlands. Italien hat achtstufige höhere Schulen, deren fünf untere Stufen das Gymnasium bilden, während die drei obern Stufen Lyzeum genannt werden, in dessen beiden obersten Klassen eine Gabelung durch Wegfall der Mathematik auf der einen, des Griechischen auf der andern Seite eintritt. In Griechenland bildet die dreistufige „hellenische Schule" das Binde¬ glied zwischen der Elementarschule und dem vierstufigen Gymnasium, das aber mit dem deutschen Gymnasium nicht in Vergleich zu stellen ist. Die Türkei hat in ihrem Schulwesen das Prinzip der Einheitsschule in drei Stufen. Ele¬ mentarschule (Jbtiadieh), Mittelschule (Nüschdieh) und höhere Schule (Jdadieh), verwirklicht. Die Elementarschule und die Mittelschule sind dreiklassig. Die Mittelschule ist in der Regel mit der vierklassigen höhern Schule verbunden. Die Türkei kennt keine gesetzliche Schulpflicht, im allgemeinen setzen aber die Spezialstudien dienenden Lehranstalten den Besuch der Rüschdieh und der Jdadieh voraus. Solche Spezialschulen sind die für die höhere Verwaltungslaufbahn vorbereitende Müldieh in Stambul, die Rechtsschule, die Medizinschule, die Kunst¬ akademie, die Handelsschule, die Maschineningenieurschule, die Ziviltierarztschule und die Ackerbauschule. In England ist das Schulwesen nicht einheitlich organisiert, und man unterscheidet nicht einmal genau zwischen Volksschulen. Mittelschulen und Hoch¬ schulen. Allgemein giltige Lehrpläne mit bestimmter Abgrenzung und Verteilung des Lehrstoffes auf verschiedne Stufen wie in den europäischen Festlandstaaten sind nicht vorhanden. „Die englischen Schulen passen also ganz und gar nicht in das kontinentale Schema", bemerkt Professor Dr. Horn zutreffend, und er hat deshalb mit Recht auf die Mitteilung eines Stundenplans verzichtet. Bei allen Abweichungen im einzelnen hat doch die Organisation des höhern Schulwesens im festländischen Europa gewisse Grundzüge gemein. Der höhere Unterricht setzt überall einen vorbereitenden Elementarunterricht voraus, der ent¬ weder, wie in Bayern, Baden, Hessen, Sachsen und einigen andern deutschen Grenzboten I 1907 81

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 66, 1907, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341885_301253/633>, abgerufen am 24.07.2024.