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Die Grenzboten. Jg. 66, 1907, Erstes Vierteljahr.

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Bernard Shaw als Dramatiker

krankt ist, eilt Anderson zu ihr und läßt Dick und Judith allein; endlich nach
den vielen Jahren des ziellosen Umherschweifens fühlt er hier das Glück des
häuslichen Friedens. Zwischen dem gottlosen und leichtsinnigen Teufelslehrling
und der jungen frommen Pfarrersfrau spinnen sich unmerkbar Sympathien,
die immer tiefer in ihre Seelen dringen. Man könnte sie, meint Dick zum
Entsetzen Judiths, für ein Ehepaar halten. Da wird die Tür aufgerissen,
englische Soldaten dringen ins Zimmer, der Führer redet Dick als Pfarrer
Anderson an und verhaftet ihn als Rebellen. Judith will den Irrtum auf¬
decken, aber Dick hindert sie daran; er zieht sich Andersons Rock an und will
sich die Handschellen anlegen lassen. Der Korporal rät ihm, von seiner Frau
Abschied zu nehmen; die gezwungne Art, wie das geschieht, macht den Korporal
stutzig; da überwindet sich Judith, wirft sich Dick um den Hals und küßt ihn --
dann bricht sie ohnmächtig zusammen, während Dick als der vermeintliche
Pfarrer abgeführt wird. Auch diese Szene ist von packender Gewalt. Als
Anderson erführe, was geschehen ist, und daß eigentlich er gehängt werden sollte,
zieht er den Pfarrersrock aus, verwandelt sich in einen brutalen Kriegsmann
und eilt auf die Seite der Rebellen nach Springtown, wiegelt die Stadt auf und
verlangt von den Engländern ein freies Geleit nach Websterbridge. Hier kommt er
gerade zur rechten Zeit an, um den durch ein Kriegsgericht zum Tode ver¬
urteilten Dick zu retten. Dieser letzte Akt mit den als Karikaturen gezeich¬
neten englischen Offizieren und der an ein mittelalterliches Spektakelstück er¬
innernden Hinrichtungsszene auf dem Marktplatz fällt gegen die ersten Akte
bedeutend ab. Daß er auf das englische Theaterpublikum keinen besonders
tiefen Eindruck machen konnte, ist erklärlich.

Die schärfsten Satiren und witzigsten Bemerkungen Shaws findet man
in seinen Dramen oft an den Stellen, wo man sie eigentlich nicht sucht,
nämlich in den szenischen Angaben und Winken für den Regisseur und den
Schauspieler. So sagt er in seiner historischen Komödie Oassar ana Olsoxatra
(übersetzt von S. Trebitsch, 1904) von der Szene: "Die Sterne und der
wolkenlose Himmel erhellten damals zwei bemerkenswerte Schäden aller
Kulturen: einen Palast und Soldaten. Der Palast, ein altes niedriges, ge¬
weihtes syrisches Gebäude, ist nicht so häßlich wie der Buckinghampnlast, und
die Offiziere im Hofe sind viel zivilisierter als moderne englische Offiziere.
Sie wären zum Beispiel unfähig, die Leiber ihrer toten Feinde zu sammeln,
um sie zu zerstückeln, wie es die Engländer unter Cromwell und mit dem
Mahdi getan haben." Oder bei den szenischen Angaben im zweiten Akt, wo
er die .Halle des Palastes in Alexandrien beschreibt: "Die Kultur von Todtenbaum
Court Road verhält sich zur ägyptischen Zivilisation, wie die gläserne Rosen¬
kranz- und tätowierte Zivilisation der Gesellschaftsinseln sich zu Tottenham
Court Road verhält." Das ganze Stück mutet einen an wie eine übermütige,
geistvolle Parodie auf die idealistischen Nömertragödien mit ihren konventionell¬
heroischen Gestalten und ihrem unwahren theatralischen Pathos. Shaws


Grenzboten I 1907 73
Bernard Shaw als Dramatiker

krankt ist, eilt Anderson zu ihr und läßt Dick und Judith allein; endlich nach
den vielen Jahren des ziellosen Umherschweifens fühlt er hier das Glück des
häuslichen Friedens. Zwischen dem gottlosen und leichtsinnigen Teufelslehrling
und der jungen frommen Pfarrersfrau spinnen sich unmerkbar Sympathien,
die immer tiefer in ihre Seelen dringen. Man könnte sie, meint Dick zum
Entsetzen Judiths, für ein Ehepaar halten. Da wird die Tür aufgerissen,
englische Soldaten dringen ins Zimmer, der Führer redet Dick als Pfarrer
Anderson an und verhaftet ihn als Rebellen. Judith will den Irrtum auf¬
decken, aber Dick hindert sie daran; er zieht sich Andersons Rock an und will
sich die Handschellen anlegen lassen. Der Korporal rät ihm, von seiner Frau
Abschied zu nehmen; die gezwungne Art, wie das geschieht, macht den Korporal
stutzig; da überwindet sich Judith, wirft sich Dick um den Hals und küßt ihn —
dann bricht sie ohnmächtig zusammen, während Dick als der vermeintliche
Pfarrer abgeführt wird. Auch diese Szene ist von packender Gewalt. Als
Anderson erführe, was geschehen ist, und daß eigentlich er gehängt werden sollte,
zieht er den Pfarrersrock aus, verwandelt sich in einen brutalen Kriegsmann
und eilt auf die Seite der Rebellen nach Springtown, wiegelt die Stadt auf und
verlangt von den Engländern ein freies Geleit nach Websterbridge. Hier kommt er
gerade zur rechten Zeit an, um den durch ein Kriegsgericht zum Tode ver¬
urteilten Dick zu retten. Dieser letzte Akt mit den als Karikaturen gezeich¬
neten englischen Offizieren und der an ein mittelalterliches Spektakelstück er¬
innernden Hinrichtungsszene auf dem Marktplatz fällt gegen die ersten Akte
bedeutend ab. Daß er auf das englische Theaterpublikum keinen besonders
tiefen Eindruck machen konnte, ist erklärlich.

Die schärfsten Satiren und witzigsten Bemerkungen Shaws findet man
in seinen Dramen oft an den Stellen, wo man sie eigentlich nicht sucht,
nämlich in den szenischen Angaben und Winken für den Regisseur und den
Schauspieler. So sagt er in seiner historischen Komödie Oassar ana Olsoxatra
(übersetzt von S. Trebitsch, 1904) von der Szene: „Die Sterne und der
wolkenlose Himmel erhellten damals zwei bemerkenswerte Schäden aller
Kulturen: einen Palast und Soldaten. Der Palast, ein altes niedriges, ge¬
weihtes syrisches Gebäude, ist nicht so häßlich wie der Buckinghampnlast, und
die Offiziere im Hofe sind viel zivilisierter als moderne englische Offiziere.
Sie wären zum Beispiel unfähig, die Leiber ihrer toten Feinde zu sammeln,
um sie zu zerstückeln, wie es die Engländer unter Cromwell und mit dem
Mahdi getan haben." Oder bei den szenischen Angaben im zweiten Akt, wo
er die .Halle des Palastes in Alexandrien beschreibt: „Die Kultur von Todtenbaum
Court Road verhält sich zur ägyptischen Zivilisation, wie die gläserne Rosen¬
kranz- und tätowierte Zivilisation der Gesellschaftsinseln sich zu Tottenham
Court Road verhält." Das ganze Stück mutet einen an wie eine übermütige,
geistvolle Parodie auf die idealistischen Nömertragödien mit ihren konventionell¬
heroischen Gestalten und ihrem unwahren theatralischen Pathos. Shaws


Grenzboten I 1907 73
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[0569] Bernard Shaw als Dramatiker krankt ist, eilt Anderson zu ihr und läßt Dick und Judith allein; endlich nach den vielen Jahren des ziellosen Umherschweifens fühlt er hier das Glück des häuslichen Friedens. Zwischen dem gottlosen und leichtsinnigen Teufelslehrling und der jungen frommen Pfarrersfrau spinnen sich unmerkbar Sympathien, die immer tiefer in ihre Seelen dringen. Man könnte sie, meint Dick zum Entsetzen Judiths, für ein Ehepaar halten. Da wird die Tür aufgerissen, englische Soldaten dringen ins Zimmer, der Führer redet Dick als Pfarrer Anderson an und verhaftet ihn als Rebellen. Judith will den Irrtum auf¬ decken, aber Dick hindert sie daran; er zieht sich Andersons Rock an und will sich die Handschellen anlegen lassen. Der Korporal rät ihm, von seiner Frau Abschied zu nehmen; die gezwungne Art, wie das geschieht, macht den Korporal stutzig; da überwindet sich Judith, wirft sich Dick um den Hals und küßt ihn — dann bricht sie ohnmächtig zusammen, während Dick als der vermeintliche Pfarrer abgeführt wird. Auch diese Szene ist von packender Gewalt. Als Anderson erführe, was geschehen ist, und daß eigentlich er gehängt werden sollte, zieht er den Pfarrersrock aus, verwandelt sich in einen brutalen Kriegsmann und eilt auf die Seite der Rebellen nach Springtown, wiegelt die Stadt auf und verlangt von den Engländern ein freies Geleit nach Websterbridge. Hier kommt er gerade zur rechten Zeit an, um den durch ein Kriegsgericht zum Tode ver¬ urteilten Dick zu retten. Dieser letzte Akt mit den als Karikaturen gezeich¬ neten englischen Offizieren und der an ein mittelalterliches Spektakelstück er¬ innernden Hinrichtungsszene auf dem Marktplatz fällt gegen die ersten Akte bedeutend ab. Daß er auf das englische Theaterpublikum keinen besonders tiefen Eindruck machen konnte, ist erklärlich. Die schärfsten Satiren und witzigsten Bemerkungen Shaws findet man in seinen Dramen oft an den Stellen, wo man sie eigentlich nicht sucht, nämlich in den szenischen Angaben und Winken für den Regisseur und den Schauspieler. So sagt er in seiner historischen Komödie Oassar ana Olsoxatra (übersetzt von S. Trebitsch, 1904) von der Szene: „Die Sterne und der wolkenlose Himmel erhellten damals zwei bemerkenswerte Schäden aller Kulturen: einen Palast und Soldaten. Der Palast, ein altes niedriges, ge¬ weihtes syrisches Gebäude, ist nicht so häßlich wie der Buckinghampnlast, und die Offiziere im Hofe sind viel zivilisierter als moderne englische Offiziere. Sie wären zum Beispiel unfähig, die Leiber ihrer toten Feinde zu sammeln, um sie zu zerstückeln, wie es die Engländer unter Cromwell und mit dem Mahdi getan haben." Oder bei den szenischen Angaben im zweiten Akt, wo er die .Halle des Palastes in Alexandrien beschreibt: „Die Kultur von Todtenbaum Court Road verhält sich zur ägyptischen Zivilisation, wie die gläserne Rosen¬ kranz- und tätowierte Zivilisation der Gesellschaftsinseln sich zu Tottenham Court Road verhält." Das ganze Stück mutet einen an wie eine übermütige, geistvolle Parodie auf die idealistischen Nömertragödien mit ihren konventionell¬ heroischen Gestalten und ihrem unwahren theatralischen Pathos. Shaws Grenzboten I 1907 73

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 66, 1907, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341885_301253/569>, abgerufen am 24.07.2024.