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Die Grenzboten. Jg. 66, 1907, Erstes Vierteljahr.

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Russische Briefe

Durch ihre geradezu unverständliche Taktik in den letzten zwei Jahren haben
sie sich zwischen zwei Stühle gesetzt. Ich habe schon früher auf die Gefahr hin¬
gewiesen -- und wurde infolgedessen der Deutschfeindlichkeit bezichtigt. Aber ent¬
scheide der Leser selbst! Bei den ersten Wahlen schlössen sie sich einer Organi¬
sation an, mit der sie einen Deutschenfeind wie Budilowitsch wählen mußten,
und bei der zweiten Wahl bleiben sie ihr tren, obgleich sie keine Aussicht hat,
auch nur einen deutschen Kandidaten in die Duma zu entsenden.*) Die Deutschen
in Nußland haben keine politischen Führer. Der letzte von ihnen, Paul
von Kügelgen, starb im Herbst 1904 -- ein kampferprobter Mann. Die Emi¬
granten, die Pobedonostzews Haß aus der Heimat vertrieb, haben in Deutsch¬
land und in Frankreich Unterkommen gefunden. Aber während auf den ersten
Alarm die russischen, polnischen, litauischen, jüdischen, lettischen Emigranten auf
ihre Posten in der Heimat zurückeilten, da blieben die Deutschen in der neuen
Heimat. Ich spreche hier nicht von Männern der Wissenschaft, wie Professor
Bergmann und Harnack, auf die die Nation stolz ist, die aber nicht mehr ihr
allein, sondern der gesamten Menschheit gehören -- ich meine auch nicht Kauf¬
leute, die jeder Politik fernstehn, sondern ich meine die Männer, die an der
innerrussischen Politik teilnehmen, die vom warmen Platz hinter dem Ofen die
Politik des Deutschtums in Rußland beeinflussen, ohne selbst in der Lage zu
sein, die Situation in jedem Augenblick zu überschauen. Vom Ausland aus
läßt sich die innerrussische Politik nicht leiten, ganz abgesehen davon, daß gerade
die hier gemeinte Tätigkeit es ist, die bei allen Russen den Glauben stärkt, die
deutsche Regierung beeinflusse die russische. Das Treiben der deutschen Emi¬
granten im Auslande vergrößert das Mißtrauen aller russischen Kreise gegen
die in Rußland lebende deutsche Gesellschaft und erschwert deren politische Lage
ganz außerordentlich. Wer dem Deutschtum in Rußland helfen will, muß sich
persönlich auf das Schlachtfeld nach Nußland begeben und sich vor Pulver und
Blei, vor Kasematten und Anfeindungen nicht fürchten, wie es Slawen und
Semiten getan haben, die gerade von den russischen Deutschen in Deutschland
immer als minderwertig geschildert werden. Man treibe keine Reklame für das
Deutschtum, sondern kämpfe dafür!

Im Norden des Westgebiets kämpft das Deutschtum -- ein führerloser
Haufen -- um seine Kultur und Existenz, im Süden, d. h. in Weißrußland, Litauen,
Polen und Wolhynien, kämpft das katholische Polentum in straffer Organisation
um den Nationalstaat. Ich möchte heute einiges von den Polen erzählen, nach¬
dem ich eben eine Zeit lang in ihrer Mitte zugebracht habe. Dort sieht man,
was ein Volk vermag, in dem sich alle Kreise ohne Ausnahme dessen bewußt
sind, was sie ihrer Nation schuldig sind. Alle die Spötter und Verächter des
nationalen Gedankens und der Kirche können sich in Polen davon überzeugen,
welche Gewalt der Idealismus über jeden Materialismus hat, und wie erbärm¬
lich hohl doch im Grunde genommen die Lehre von Marx gegenüber dem Wollen



Inzwischen ist in Kurland ein Jude gewählt worden!
Russische Briefe

Durch ihre geradezu unverständliche Taktik in den letzten zwei Jahren haben
sie sich zwischen zwei Stühle gesetzt. Ich habe schon früher auf die Gefahr hin¬
gewiesen — und wurde infolgedessen der Deutschfeindlichkeit bezichtigt. Aber ent¬
scheide der Leser selbst! Bei den ersten Wahlen schlössen sie sich einer Organi¬
sation an, mit der sie einen Deutschenfeind wie Budilowitsch wählen mußten,
und bei der zweiten Wahl bleiben sie ihr tren, obgleich sie keine Aussicht hat,
auch nur einen deutschen Kandidaten in die Duma zu entsenden.*) Die Deutschen
in Nußland haben keine politischen Führer. Der letzte von ihnen, Paul
von Kügelgen, starb im Herbst 1904 — ein kampferprobter Mann. Die Emi¬
granten, die Pobedonostzews Haß aus der Heimat vertrieb, haben in Deutsch¬
land und in Frankreich Unterkommen gefunden. Aber während auf den ersten
Alarm die russischen, polnischen, litauischen, jüdischen, lettischen Emigranten auf
ihre Posten in der Heimat zurückeilten, da blieben die Deutschen in der neuen
Heimat. Ich spreche hier nicht von Männern der Wissenschaft, wie Professor
Bergmann und Harnack, auf die die Nation stolz ist, die aber nicht mehr ihr
allein, sondern der gesamten Menschheit gehören — ich meine auch nicht Kauf¬
leute, die jeder Politik fernstehn, sondern ich meine die Männer, die an der
innerrussischen Politik teilnehmen, die vom warmen Platz hinter dem Ofen die
Politik des Deutschtums in Rußland beeinflussen, ohne selbst in der Lage zu
sein, die Situation in jedem Augenblick zu überschauen. Vom Ausland aus
läßt sich die innerrussische Politik nicht leiten, ganz abgesehen davon, daß gerade
die hier gemeinte Tätigkeit es ist, die bei allen Russen den Glauben stärkt, die
deutsche Regierung beeinflusse die russische. Das Treiben der deutschen Emi¬
granten im Auslande vergrößert das Mißtrauen aller russischen Kreise gegen
die in Rußland lebende deutsche Gesellschaft und erschwert deren politische Lage
ganz außerordentlich. Wer dem Deutschtum in Rußland helfen will, muß sich
persönlich auf das Schlachtfeld nach Nußland begeben und sich vor Pulver und
Blei, vor Kasematten und Anfeindungen nicht fürchten, wie es Slawen und
Semiten getan haben, die gerade von den russischen Deutschen in Deutschland
immer als minderwertig geschildert werden. Man treibe keine Reklame für das
Deutschtum, sondern kämpfe dafür!

Im Norden des Westgebiets kämpft das Deutschtum — ein führerloser
Haufen — um seine Kultur und Existenz, im Süden, d. h. in Weißrußland, Litauen,
Polen und Wolhynien, kämpft das katholische Polentum in straffer Organisation
um den Nationalstaat. Ich möchte heute einiges von den Polen erzählen, nach¬
dem ich eben eine Zeit lang in ihrer Mitte zugebracht habe. Dort sieht man,
was ein Volk vermag, in dem sich alle Kreise ohne Ausnahme dessen bewußt
sind, was sie ihrer Nation schuldig sind. Alle die Spötter und Verächter des
nationalen Gedankens und der Kirche können sich in Polen davon überzeugen,
welche Gewalt der Idealismus über jeden Materialismus hat, und wie erbärm¬
lich hohl doch im Grunde genommen die Lehre von Marx gegenüber dem Wollen



Inzwischen ist in Kurland ein Jude gewählt worden!
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[0555] Russische Briefe Durch ihre geradezu unverständliche Taktik in den letzten zwei Jahren haben sie sich zwischen zwei Stühle gesetzt. Ich habe schon früher auf die Gefahr hin¬ gewiesen — und wurde infolgedessen der Deutschfeindlichkeit bezichtigt. Aber ent¬ scheide der Leser selbst! Bei den ersten Wahlen schlössen sie sich einer Organi¬ sation an, mit der sie einen Deutschenfeind wie Budilowitsch wählen mußten, und bei der zweiten Wahl bleiben sie ihr tren, obgleich sie keine Aussicht hat, auch nur einen deutschen Kandidaten in die Duma zu entsenden.*) Die Deutschen in Nußland haben keine politischen Führer. Der letzte von ihnen, Paul von Kügelgen, starb im Herbst 1904 — ein kampferprobter Mann. Die Emi¬ granten, die Pobedonostzews Haß aus der Heimat vertrieb, haben in Deutsch¬ land und in Frankreich Unterkommen gefunden. Aber während auf den ersten Alarm die russischen, polnischen, litauischen, jüdischen, lettischen Emigranten auf ihre Posten in der Heimat zurückeilten, da blieben die Deutschen in der neuen Heimat. Ich spreche hier nicht von Männern der Wissenschaft, wie Professor Bergmann und Harnack, auf die die Nation stolz ist, die aber nicht mehr ihr allein, sondern der gesamten Menschheit gehören — ich meine auch nicht Kauf¬ leute, die jeder Politik fernstehn, sondern ich meine die Männer, die an der innerrussischen Politik teilnehmen, die vom warmen Platz hinter dem Ofen die Politik des Deutschtums in Rußland beeinflussen, ohne selbst in der Lage zu sein, die Situation in jedem Augenblick zu überschauen. Vom Ausland aus läßt sich die innerrussische Politik nicht leiten, ganz abgesehen davon, daß gerade die hier gemeinte Tätigkeit es ist, die bei allen Russen den Glauben stärkt, die deutsche Regierung beeinflusse die russische. Das Treiben der deutschen Emi¬ granten im Auslande vergrößert das Mißtrauen aller russischen Kreise gegen die in Rußland lebende deutsche Gesellschaft und erschwert deren politische Lage ganz außerordentlich. Wer dem Deutschtum in Rußland helfen will, muß sich persönlich auf das Schlachtfeld nach Nußland begeben und sich vor Pulver und Blei, vor Kasematten und Anfeindungen nicht fürchten, wie es Slawen und Semiten getan haben, die gerade von den russischen Deutschen in Deutschland immer als minderwertig geschildert werden. Man treibe keine Reklame für das Deutschtum, sondern kämpfe dafür! Im Norden des Westgebiets kämpft das Deutschtum — ein führerloser Haufen — um seine Kultur und Existenz, im Süden, d. h. in Weißrußland, Litauen, Polen und Wolhynien, kämpft das katholische Polentum in straffer Organisation um den Nationalstaat. Ich möchte heute einiges von den Polen erzählen, nach¬ dem ich eben eine Zeit lang in ihrer Mitte zugebracht habe. Dort sieht man, was ein Volk vermag, in dem sich alle Kreise ohne Ausnahme dessen bewußt sind, was sie ihrer Nation schuldig sind. Alle die Spötter und Verächter des nationalen Gedankens und der Kirche können sich in Polen davon überzeugen, welche Gewalt der Idealismus über jeden Materialismus hat, und wie erbärm¬ lich hohl doch im Grunde genommen die Lehre von Marx gegenüber dem Wollen Inzwischen ist in Kurland ein Jude gewählt worden!

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 66, 1907, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341885_301253/555>, abgerufen am 02.07.2024.