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Die Grenzboten. Jg. 66, 1907, Erstes Vierteljahr.

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Russische Briefe

eines national empfindenden Volkes bleibt. Tatsächlich hat die Sozialdemo¬
kratie ihre führende Rolle unter den Polen ausgespielt, wenngleich man aus
den Vorgängen in Lodz und Warschau auf das Vorhandensein einer starken
sozialdemokratischen Organisation schließen muß. Der Wahlkampf spielt sich in
Polen vollständig auf nationaler Grundlage ab.

Die politischen Parteien, die sich befehden, sind folgende: 1. die Sozial¬
demokraten, 2. die Freisinnigen und 3. die Nationaldemokraten. Zu den Sozial¬
demokraten gehören die ?c>1skg, xg,re,ig, soviAl^stioMg, (?. ?. 8.), die polnisch¬
litauische Arbeiterpartei, der (jüdische) Bund. Eine rein marxistische Auffassung
vertritt einzig die polnisch-litauische Arbeiterpartei. Ihr Ideal ist der fort¬
währende Klassenkampf -- sie verleugnen jede nationale Regung, bekämpfen
nationale Forderungen als unsittlich, als kulturwidrig. Im jüdischen Bund
ist die nationale Regung offiziell als berechtigt anerkannt durch die mächtige
Gruppe der zionistischen Bundisten. Diese angeblichen Marxisten geben damit
zu, daß der Klassenkampf nicht ausreicht zur Hebung eines Volks, daß vielmehr
ein nationales Empfinden notwendig ist, um die ganze Masse des Volks zur
Selbstachtung zu erziehen. Im Königreich Polen spielt der sogenannte Reform¬
zionismus keine große Rolle unter den Juden. Die große Masse ist in einer
kulturfeindlichen Orthodoxie so verknöchert, daß selbst die alte Richtung des
Chassidim, die einen unfehlbaren Rabbi anerkennt, zahlreiche Anhänger hat.
Infolgedessen findet nur der messianische, tatenlos hoffende Zionismus Anklang.
Die Intelligenz -- Ärzte und Juristen -- gibt sich einem extremen Freisinn
hin, der seinen stärksten Ausdruck findet in einer unglaublichen Demoralisation
der Familie. Der polnische Jude ist im Gegensatz zum litauischen und russischen
ein minderwertiges, unpolitisches Geschöpf. Darum spielt auch der Bund eine
nur sehr geringe Rolle im Zartum. Um so größer ist die Bedeutung der ?. ?. 3.
Diese angeblich marxistische Partei vertritt den politischen Standpunkt, daß sich
das polnische Proletariat erst dann mit dem Proletariat der andern Völker
verbinden dürfe, wenn sich das polnische Sprachgebiet selbständig entwickeln
könne -- d. h. zu deutsch, wenn ein selbständiger polnischer Staat vorhanden
sein würde. Dieser polnische Staat müßte natürlich eine Republik sein. Diesen
Grundgedanken wird der deutsche Politiker bei den polnischen Abgeordneten
Oberschlesiens wiederfinden. Dieser Grundgedanke hat es möglich gemacht, daß
die katholische Geistlichkeit hüben und drüben mit den Vertretern der Richtung
Hand in Hand gehen konnte. Die nationale Unterströmung bei den polnischen
Sozialdemokraten macht es verständlich, warum sich ihr so weite Kreise zur
Verfügung stellen, und warum die polnische besitzende Gesellschaft, die gegen¬
wärtig scheinbar mit der russischen Regierung Hand in Hand arbeitet, nicht
gegen den Terrorismus der Partei auftritt, obwohl die Natioualdemokraten bei
jeder Gelegenheit beteuern, die Juden seien die Schuldigen. Meine Beobachtung
wird auch durch die auffällige Erscheinung beleuchtet, daß sich der Terrorismus
ebenso wie die Streiks ausschließlich gegen nichtpolnische Personen und Firmen


Russische Briefe

eines national empfindenden Volkes bleibt. Tatsächlich hat die Sozialdemo¬
kratie ihre führende Rolle unter den Polen ausgespielt, wenngleich man aus
den Vorgängen in Lodz und Warschau auf das Vorhandensein einer starken
sozialdemokratischen Organisation schließen muß. Der Wahlkampf spielt sich in
Polen vollständig auf nationaler Grundlage ab.

Die politischen Parteien, die sich befehden, sind folgende: 1. die Sozial¬
demokraten, 2. die Freisinnigen und 3. die Nationaldemokraten. Zu den Sozial¬
demokraten gehören die ?c>1skg, xg,re,ig, soviAl^stioMg, (?. ?. 8.), die polnisch¬
litauische Arbeiterpartei, der (jüdische) Bund. Eine rein marxistische Auffassung
vertritt einzig die polnisch-litauische Arbeiterpartei. Ihr Ideal ist der fort¬
währende Klassenkampf — sie verleugnen jede nationale Regung, bekämpfen
nationale Forderungen als unsittlich, als kulturwidrig. Im jüdischen Bund
ist die nationale Regung offiziell als berechtigt anerkannt durch die mächtige
Gruppe der zionistischen Bundisten. Diese angeblichen Marxisten geben damit
zu, daß der Klassenkampf nicht ausreicht zur Hebung eines Volks, daß vielmehr
ein nationales Empfinden notwendig ist, um die ganze Masse des Volks zur
Selbstachtung zu erziehen. Im Königreich Polen spielt der sogenannte Reform¬
zionismus keine große Rolle unter den Juden. Die große Masse ist in einer
kulturfeindlichen Orthodoxie so verknöchert, daß selbst die alte Richtung des
Chassidim, die einen unfehlbaren Rabbi anerkennt, zahlreiche Anhänger hat.
Infolgedessen findet nur der messianische, tatenlos hoffende Zionismus Anklang.
Die Intelligenz — Ärzte und Juristen — gibt sich einem extremen Freisinn
hin, der seinen stärksten Ausdruck findet in einer unglaublichen Demoralisation
der Familie. Der polnische Jude ist im Gegensatz zum litauischen und russischen
ein minderwertiges, unpolitisches Geschöpf. Darum spielt auch der Bund eine
nur sehr geringe Rolle im Zartum. Um so größer ist die Bedeutung der ?. ?. 3.
Diese angeblich marxistische Partei vertritt den politischen Standpunkt, daß sich
das polnische Proletariat erst dann mit dem Proletariat der andern Völker
verbinden dürfe, wenn sich das polnische Sprachgebiet selbständig entwickeln
könne — d. h. zu deutsch, wenn ein selbständiger polnischer Staat vorhanden
sein würde. Dieser polnische Staat müßte natürlich eine Republik sein. Diesen
Grundgedanken wird der deutsche Politiker bei den polnischen Abgeordneten
Oberschlesiens wiederfinden. Dieser Grundgedanke hat es möglich gemacht, daß
die katholische Geistlichkeit hüben und drüben mit den Vertretern der Richtung
Hand in Hand gehen konnte. Die nationale Unterströmung bei den polnischen
Sozialdemokraten macht es verständlich, warum sich ihr so weite Kreise zur
Verfügung stellen, und warum die polnische besitzende Gesellschaft, die gegen¬
wärtig scheinbar mit der russischen Regierung Hand in Hand arbeitet, nicht
gegen den Terrorismus der Partei auftritt, obwohl die Natioualdemokraten bei
jeder Gelegenheit beteuern, die Juden seien die Schuldigen. Meine Beobachtung
wird auch durch die auffällige Erscheinung beleuchtet, daß sich der Terrorismus
ebenso wie die Streiks ausschließlich gegen nichtpolnische Personen und Firmen


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[0556] Russische Briefe eines national empfindenden Volkes bleibt. Tatsächlich hat die Sozialdemo¬ kratie ihre führende Rolle unter den Polen ausgespielt, wenngleich man aus den Vorgängen in Lodz und Warschau auf das Vorhandensein einer starken sozialdemokratischen Organisation schließen muß. Der Wahlkampf spielt sich in Polen vollständig auf nationaler Grundlage ab. Die politischen Parteien, die sich befehden, sind folgende: 1. die Sozial¬ demokraten, 2. die Freisinnigen und 3. die Nationaldemokraten. Zu den Sozial¬ demokraten gehören die ?c>1skg, xg,re,ig, soviAl^stioMg, (?. ?. 8.), die polnisch¬ litauische Arbeiterpartei, der (jüdische) Bund. Eine rein marxistische Auffassung vertritt einzig die polnisch-litauische Arbeiterpartei. Ihr Ideal ist der fort¬ währende Klassenkampf — sie verleugnen jede nationale Regung, bekämpfen nationale Forderungen als unsittlich, als kulturwidrig. Im jüdischen Bund ist die nationale Regung offiziell als berechtigt anerkannt durch die mächtige Gruppe der zionistischen Bundisten. Diese angeblichen Marxisten geben damit zu, daß der Klassenkampf nicht ausreicht zur Hebung eines Volks, daß vielmehr ein nationales Empfinden notwendig ist, um die ganze Masse des Volks zur Selbstachtung zu erziehen. Im Königreich Polen spielt der sogenannte Reform¬ zionismus keine große Rolle unter den Juden. Die große Masse ist in einer kulturfeindlichen Orthodoxie so verknöchert, daß selbst die alte Richtung des Chassidim, die einen unfehlbaren Rabbi anerkennt, zahlreiche Anhänger hat. Infolgedessen findet nur der messianische, tatenlos hoffende Zionismus Anklang. Die Intelligenz — Ärzte und Juristen — gibt sich einem extremen Freisinn hin, der seinen stärksten Ausdruck findet in einer unglaublichen Demoralisation der Familie. Der polnische Jude ist im Gegensatz zum litauischen und russischen ein minderwertiges, unpolitisches Geschöpf. Darum spielt auch der Bund eine nur sehr geringe Rolle im Zartum. Um so größer ist die Bedeutung der ?. ?. 3. Diese angeblich marxistische Partei vertritt den politischen Standpunkt, daß sich das polnische Proletariat erst dann mit dem Proletariat der andern Völker verbinden dürfe, wenn sich das polnische Sprachgebiet selbständig entwickeln könne — d. h. zu deutsch, wenn ein selbständiger polnischer Staat vorhanden sein würde. Dieser polnische Staat müßte natürlich eine Republik sein. Diesen Grundgedanken wird der deutsche Politiker bei den polnischen Abgeordneten Oberschlesiens wiederfinden. Dieser Grundgedanke hat es möglich gemacht, daß die katholische Geistlichkeit hüben und drüben mit den Vertretern der Richtung Hand in Hand gehen konnte. Die nationale Unterströmung bei den polnischen Sozialdemokraten macht es verständlich, warum sich ihr so weite Kreise zur Verfügung stellen, und warum die polnische besitzende Gesellschaft, die gegen¬ wärtig scheinbar mit der russischen Regierung Hand in Hand arbeitet, nicht gegen den Terrorismus der Partei auftritt, obwohl die Natioualdemokraten bei jeder Gelegenheit beteuern, die Juden seien die Schuldigen. Meine Beobachtung wird auch durch die auffällige Erscheinung beleuchtet, daß sich der Terrorismus ebenso wie die Streiks ausschließlich gegen nichtpolnische Personen und Firmen

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 66, 1907, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341885_301253/556>, abgerufen am 04.07.2024.