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Die Grenzboten. Jg. 66, 1907, Erstes Vierteljahr.

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Russische Briefe

Antisemitismus oder die Gegnerschaft gegen die Fremdvölker halten den einen
oder den andern vom Anschluß an die konstitutionell-demokratische Partei ab.
Die gesamten Unterbeamten in allen Ncgierungsinstitutionen sind versteckt revo¬
lutionär. Wenn gegenwärtig nicht gestreikt oder sonst irgendwie oppositionell
aufgetreten wird, so geschieht es unter dem Druck materieller Verhältnisse.
Ebenso ist es mit den Dorfgeistlichen und Volksschullehrern. Auf Grund einer
nachgeprüften Angabe beträgt die Zahl der organisierten Weißen (niedern) Geist¬
lichen 3122 von etwa 60000. Dabei muß aber in Betracht gezogen werden,
daß sich die Gruppe allein innerhalb der ersten sechs Wochen von 1907 um
600 Personen geistlichen Standes vermehrte. Die Gruppe wird wahrscheinlich
gerade in den Wochen vor den Wahlen noch bedeutend gewachsen sein, da der
Heilige spröd den allgemein beliebten Prediger Georgi Petrow wegen seiner
Zugehörigkeit zur liberalen Sjemstwoorganisation gemaßregelt hat.

Ausschlaggebend für die Wahlen ist das bäuerliche Element. Über diesen
Teil der Gesellschaft kann nur gesagt werden, daß kein Mensch über seine
politische Stimmung unterrichtet ist. Im allgemeinen hat in den rein russischen
Gebieten und den von Mohammedanern bewohnten des Ostens die sozialrevo-
lutionüre Lehre tiefe Wurzeln geschlagen. Im Westen haben die Sozialrevolu¬
tionäre keinen bleibenden Einfluß auf die Massen -- dort spielen die Sozial¬
demokraten in den Städten und die verschiednen Nationalisten auf dem platten
Lande die größere Rolle. Diese beiden politischen Interessengebiete werden ge¬
trennt etwa durch die Linie Se. Petersburg-Kamenetz-Podolsk an der öster¬
reichischen Grenze.

In der Agrarfrage, die schließlich doch die Bauernschaft zur politischen
Stellungnahme veranlassen muß, tritt die gebildete Gesellschaft immer zahlreicher
dem die Verstaatlichung des Ackerlandes vorbereitenden Programm der Kadetten
bei -- neuerdings auch solche an sich konservative Männer wie Graf Heyden
und Schipow. Man hat den landwirtschaftlichen Großbetrieb recht verachten
gelernt, denn er war niemals in Nußland die Quelle ständischer Sittengesetze,
niemals das Fundament des Staats, wie bei den Völkern des Abendlandes,
sondern nur das Werkzeug zur Ausbeutung der Massen, wie die Fabrik der
Merkantilisten, die eine viel größere Rolle auf dem Lande spielt als in Deutsch¬
land. Die Jndustrialisierungspolitik der letzten fünfundzwanzig Jahre mit ihrem
schädlichen Gefolge von Spekulanten aus aller Herren Ländern, die Leichtigkeit,
mit der an den Börsen Geld verdient werden konnte, hat den Großgrundbesitzer
seine Scholle mißachten gelehrt. Da nun die Agrarfrage der Angelpunkt der
Situation ist, die Regierung aber auf eine Mehrheit aus Russen für ihr Agrar-
programm nicht rechnen kann, wird ihr nichts andres zu tun übrig bleiben, als
entweder vor dem politiktreibenden Teil der Gesellschaft zu kapitulieren oder
aber mit konstitutionellen Fremdvölkern -- Deutschen und Polen -- gegen eine
agrarsozialistische Mehrheit und eine antikvnstitutionelle Minderheit zu regieren.
Unter solchen allgemeinen Verhältnissen interessiert darum die Lage im West¬
gebiet besonders. Von den Deutschen ist leider nicht viel zu erwarten. Leider!


Russische Briefe

Antisemitismus oder die Gegnerschaft gegen die Fremdvölker halten den einen
oder den andern vom Anschluß an die konstitutionell-demokratische Partei ab.
Die gesamten Unterbeamten in allen Ncgierungsinstitutionen sind versteckt revo¬
lutionär. Wenn gegenwärtig nicht gestreikt oder sonst irgendwie oppositionell
aufgetreten wird, so geschieht es unter dem Druck materieller Verhältnisse.
Ebenso ist es mit den Dorfgeistlichen und Volksschullehrern. Auf Grund einer
nachgeprüften Angabe beträgt die Zahl der organisierten Weißen (niedern) Geist¬
lichen 3122 von etwa 60000. Dabei muß aber in Betracht gezogen werden,
daß sich die Gruppe allein innerhalb der ersten sechs Wochen von 1907 um
600 Personen geistlichen Standes vermehrte. Die Gruppe wird wahrscheinlich
gerade in den Wochen vor den Wahlen noch bedeutend gewachsen sein, da der
Heilige spröd den allgemein beliebten Prediger Georgi Petrow wegen seiner
Zugehörigkeit zur liberalen Sjemstwoorganisation gemaßregelt hat.

Ausschlaggebend für die Wahlen ist das bäuerliche Element. Über diesen
Teil der Gesellschaft kann nur gesagt werden, daß kein Mensch über seine
politische Stimmung unterrichtet ist. Im allgemeinen hat in den rein russischen
Gebieten und den von Mohammedanern bewohnten des Ostens die sozialrevo-
lutionüre Lehre tiefe Wurzeln geschlagen. Im Westen haben die Sozialrevolu¬
tionäre keinen bleibenden Einfluß auf die Massen — dort spielen die Sozial¬
demokraten in den Städten und die verschiednen Nationalisten auf dem platten
Lande die größere Rolle. Diese beiden politischen Interessengebiete werden ge¬
trennt etwa durch die Linie Se. Petersburg-Kamenetz-Podolsk an der öster¬
reichischen Grenze.

In der Agrarfrage, die schließlich doch die Bauernschaft zur politischen
Stellungnahme veranlassen muß, tritt die gebildete Gesellschaft immer zahlreicher
dem die Verstaatlichung des Ackerlandes vorbereitenden Programm der Kadetten
bei — neuerdings auch solche an sich konservative Männer wie Graf Heyden
und Schipow. Man hat den landwirtschaftlichen Großbetrieb recht verachten
gelernt, denn er war niemals in Nußland die Quelle ständischer Sittengesetze,
niemals das Fundament des Staats, wie bei den Völkern des Abendlandes,
sondern nur das Werkzeug zur Ausbeutung der Massen, wie die Fabrik der
Merkantilisten, die eine viel größere Rolle auf dem Lande spielt als in Deutsch¬
land. Die Jndustrialisierungspolitik der letzten fünfundzwanzig Jahre mit ihrem
schädlichen Gefolge von Spekulanten aus aller Herren Ländern, die Leichtigkeit,
mit der an den Börsen Geld verdient werden konnte, hat den Großgrundbesitzer
seine Scholle mißachten gelehrt. Da nun die Agrarfrage der Angelpunkt der
Situation ist, die Regierung aber auf eine Mehrheit aus Russen für ihr Agrar-
programm nicht rechnen kann, wird ihr nichts andres zu tun übrig bleiben, als
entweder vor dem politiktreibenden Teil der Gesellschaft zu kapitulieren oder
aber mit konstitutionellen Fremdvölkern — Deutschen und Polen — gegen eine
agrarsozialistische Mehrheit und eine antikvnstitutionelle Minderheit zu regieren.
Unter solchen allgemeinen Verhältnissen interessiert darum die Lage im West¬
gebiet besonders. Von den Deutschen ist leider nicht viel zu erwarten. Leider!


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[0554] Russische Briefe Antisemitismus oder die Gegnerschaft gegen die Fremdvölker halten den einen oder den andern vom Anschluß an die konstitutionell-demokratische Partei ab. Die gesamten Unterbeamten in allen Ncgierungsinstitutionen sind versteckt revo¬ lutionär. Wenn gegenwärtig nicht gestreikt oder sonst irgendwie oppositionell aufgetreten wird, so geschieht es unter dem Druck materieller Verhältnisse. Ebenso ist es mit den Dorfgeistlichen und Volksschullehrern. Auf Grund einer nachgeprüften Angabe beträgt die Zahl der organisierten Weißen (niedern) Geist¬ lichen 3122 von etwa 60000. Dabei muß aber in Betracht gezogen werden, daß sich die Gruppe allein innerhalb der ersten sechs Wochen von 1907 um 600 Personen geistlichen Standes vermehrte. Die Gruppe wird wahrscheinlich gerade in den Wochen vor den Wahlen noch bedeutend gewachsen sein, da der Heilige spröd den allgemein beliebten Prediger Georgi Petrow wegen seiner Zugehörigkeit zur liberalen Sjemstwoorganisation gemaßregelt hat. Ausschlaggebend für die Wahlen ist das bäuerliche Element. Über diesen Teil der Gesellschaft kann nur gesagt werden, daß kein Mensch über seine politische Stimmung unterrichtet ist. Im allgemeinen hat in den rein russischen Gebieten und den von Mohammedanern bewohnten des Ostens die sozialrevo- lutionüre Lehre tiefe Wurzeln geschlagen. Im Westen haben die Sozialrevolu¬ tionäre keinen bleibenden Einfluß auf die Massen — dort spielen die Sozial¬ demokraten in den Städten und die verschiednen Nationalisten auf dem platten Lande die größere Rolle. Diese beiden politischen Interessengebiete werden ge¬ trennt etwa durch die Linie Se. Petersburg-Kamenetz-Podolsk an der öster¬ reichischen Grenze. In der Agrarfrage, die schließlich doch die Bauernschaft zur politischen Stellungnahme veranlassen muß, tritt die gebildete Gesellschaft immer zahlreicher dem die Verstaatlichung des Ackerlandes vorbereitenden Programm der Kadetten bei — neuerdings auch solche an sich konservative Männer wie Graf Heyden und Schipow. Man hat den landwirtschaftlichen Großbetrieb recht verachten gelernt, denn er war niemals in Nußland die Quelle ständischer Sittengesetze, niemals das Fundament des Staats, wie bei den Völkern des Abendlandes, sondern nur das Werkzeug zur Ausbeutung der Massen, wie die Fabrik der Merkantilisten, die eine viel größere Rolle auf dem Lande spielt als in Deutsch¬ land. Die Jndustrialisierungspolitik der letzten fünfundzwanzig Jahre mit ihrem schädlichen Gefolge von Spekulanten aus aller Herren Ländern, die Leichtigkeit, mit der an den Börsen Geld verdient werden konnte, hat den Großgrundbesitzer seine Scholle mißachten gelehrt. Da nun die Agrarfrage der Angelpunkt der Situation ist, die Regierung aber auf eine Mehrheit aus Russen für ihr Agrar- programm nicht rechnen kann, wird ihr nichts andres zu tun übrig bleiben, als entweder vor dem politiktreibenden Teil der Gesellschaft zu kapitulieren oder aber mit konstitutionellen Fremdvölkern — Deutschen und Polen — gegen eine agrarsozialistische Mehrheit und eine antikvnstitutionelle Minderheit zu regieren. Unter solchen allgemeinen Verhältnissen interessiert darum die Lage im West¬ gebiet besonders. Von den Deutschen ist leider nicht viel zu erwarten. Leider!

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 66, 1907, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341885_301253/554>, abgerufen am 30.06.2024.