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Die Grenzboten. Jg. 66, 1907, Erstes Vierteljahr.

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schweigen einem Dichter und Künstler meistens weit mehr schadet als der
schärfste Tadel. Und woher weiß ?. Gietmcmn, daß solches Schweigen "keinen
erheblichen Ausfall für die geistige Bildung" bedeute, sintemal er doch rät,
just solche Werke totzuschweigen, die, wenn der Kritiker von ihnen spräche, für
vieles einzelne wenigstens sein Lob stark herausfordern würden? Glaubt
übrigens Gietmcmn wirklich, daß in einem Falle wie Jörn Abt das Schweigen
der katholischen Kritiker viel helfen würde? Das katholische Lescpublikum
lernt das Buch doch kennen und liest es -- kritiklos. Gerade in solchen
Fällen ist ein klares Urteil des katholischen Kritikers nötig; schweigt er da,
so fragt man ihn in Zukunft überhaupt nicht mehr. Gietmcmn würde das
vielleicht für gar kein Unglück halten, denn er meint, das Urteil darüber, ob
ein Buch sittliche Gefahren berge, dürfe nicht ausschließlich dem Laien über¬
lassen werden, da der Priester in erster Linie dazu berufen sei, dergleichen zu
entscheiden. Also auch hier wieder die geringschätzige Meinung vom Laien¬
stande und selbst seinem gebildetsten Teile. Als ob moralisches Empfinden,
soziales Verantwortlichkeitsgefühl, Urteilskraft in Beziehung auf die Zulässigkeit
von Szenen, die ein Gietmcmn für ganz unsittlich erklärt, in Werken der Unter¬
haltung oder der Kunst lediglich eine soisntm intusg. des Theologen wären!"

Unter den kunstkritischen Aufsätzen ist der interessanteste (im Januar¬
heft 1904): Bildende Künstler als Ästhetiker von Max Ettlinger. Es werden
die Ansichten von Anselm Feuerbach, Böcklin, Stauffer, Adolf Hildebrand und
Max Klinger mitgeteilt. In diesen und in andern Aufsätzen werden Böcklin,
Segcmtini und Defregger mit Begeisterung gepriesen; Mittels großes Verdienst
wird anerkannt; Klinger gegenüber verhält man sich ablehnend.

Die Literarische Warte (ebenfalls Monatsschrift) erscheint bei der Allge¬
meinen Verlagsgesellschaft in München*); ihr Leiter ist Anton Lvhr. Es liegen
mir die vollständigen Jahrgänge 1900 und 1901 vor und neun Heste aus den
Jahren 1904 und 1905. Deu Jahrgang 1901 eröffnet eine sinnige geschichts-
philosophische Betrachtung, in der der Reformation mit den Worten gedacht
wird: "Immer mehr bewußte und dreister werdende Unzufriedenheit wuchs
heran, und es kam die Reformation. Die Menschen hatten ja kein so zartes
religiöses Gewissen mehr, sie waren schlechte Diener der Kirche, die sie in
weltliche Verwaltung gezogen hatte. fDer richtige Gedanke ist unklar und
sprachlich schlecht ausgedrückt.! Und viele fielen ihr zu: Schlechte, die schlecht
sein wollten, aber noch mehr, die nur Hilfe suchten, und viele, die Raum haben
wollten für ihr geistiges Streben." Nachdem die Tatsache hervorgehoben worden
ist, daß die moderne Wissenschaft und die Technik einerseits die Gebildeten der
Religion entfremden, andrerseits den Bauernstand auflösen, der sie am treuesten
bewahrt, wird die Hoffnung auf eine Wendung mit dem Hinweis auf die
vielen Einzelnen begründet, die, nicht befriedigt von diesem modernen Leben,



Anmerkung der Redaktion: Die Zeitschrift hat mit Ende 1906 aufgehört zu erscheinen.

schweigen einem Dichter und Künstler meistens weit mehr schadet als der
schärfste Tadel. Und woher weiß ?. Gietmcmn, daß solches Schweigen »keinen
erheblichen Ausfall für die geistige Bildung« bedeute, sintemal er doch rät,
just solche Werke totzuschweigen, die, wenn der Kritiker von ihnen spräche, für
vieles einzelne wenigstens sein Lob stark herausfordern würden? Glaubt
übrigens Gietmcmn wirklich, daß in einem Falle wie Jörn Abt das Schweigen
der katholischen Kritiker viel helfen würde? Das katholische Lescpublikum
lernt das Buch doch kennen und liest es — kritiklos. Gerade in solchen
Fällen ist ein klares Urteil des katholischen Kritikers nötig; schweigt er da,
so fragt man ihn in Zukunft überhaupt nicht mehr. Gietmcmn würde das
vielleicht für gar kein Unglück halten, denn er meint, das Urteil darüber, ob
ein Buch sittliche Gefahren berge, dürfe nicht ausschließlich dem Laien über¬
lassen werden, da der Priester in erster Linie dazu berufen sei, dergleichen zu
entscheiden. Also auch hier wieder die geringschätzige Meinung vom Laien¬
stande und selbst seinem gebildetsten Teile. Als ob moralisches Empfinden,
soziales Verantwortlichkeitsgefühl, Urteilskraft in Beziehung auf die Zulässigkeit
von Szenen, die ein Gietmcmn für ganz unsittlich erklärt, in Werken der Unter¬
haltung oder der Kunst lediglich eine soisntm intusg. des Theologen wären!"

Unter den kunstkritischen Aufsätzen ist der interessanteste (im Januar¬
heft 1904): Bildende Künstler als Ästhetiker von Max Ettlinger. Es werden
die Ansichten von Anselm Feuerbach, Böcklin, Stauffer, Adolf Hildebrand und
Max Klinger mitgeteilt. In diesen und in andern Aufsätzen werden Böcklin,
Segcmtini und Defregger mit Begeisterung gepriesen; Mittels großes Verdienst
wird anerkannt; Klinger gegenüber verhält man sich ablehnend.

Die Literarische Warte (ebenfalls Monatsschrift) erscheint bei der Allge¬
meinen Verlagsgesellschaft in München*); ihr Leiter ist Anton Lvhr. Es liegen
mir die vollständigen Jahrgänge 1900 und 1901 vor und neun Heste aus den
Jahren 1904 und 1905. Deu Jahrgang 1901 eröffnet eine sinnige geschichts-
philosophische Betrachtung, in der der Reformation mit den Worten gedacht
wird: „Immer mehr bewußte und dreister werdende Unzufriedenheit wuchs
heran, und es kam die Reformation. Die Menschen hatten ja kein so zartes
religiöses Gewissen mehr, sie waren schlechte Diener der Kirche, die sie in
weltliche Verwaltung gezogen hatte. fDer richtige Gedanke ist unklar und
sprachlich schlecht ausgedrückt.! Und viele fielen ihr zu: Schlechte, die schlecht
sein wollten, aber noch mehr, die nur Hilfe suchten, und viele, die Raum haben
wollten für ihr geistiges Streben." Nachdem die Tatsache hervorgehoben worden
ist, daß die moderne Wissenschaft und die Technik einerseits die Gebildeten der
Religion entfremden, andrerseits den Bauernstand auflösen, der sie am treuesten
bewahrt, wird die Hoffnung auf eine Wendung mit dem Hinweis auf die
vielen Einzelnen begründet, die, nicht befriedigt von diesem modernen Leben,



Anmerkung der Redaktion: Die Zeitschrift hat mit Ende 1906 aufgehört zu erscheinen.
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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 66, 1907, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341885_301253/528>, abgerufen am 24.07.2024.