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Die Grenzboten. Jg. 66, 1907, Erstes Vierteljahr.

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katholische Belletristik und Publizistik

Wicklung. Hier fand der Mensch Goethe das konkrete kirchliche Christentum
als etwas von Faust beiseite Geschobnes vor; ihm zeigte sich ein sympathisches
Gesicht, das der Welt, dein irdischen Leben zugekehrt ist; und wie reich wurde
doch der Dichter Goethe durch das schier unerschöpfliche, von Jahrhunderten
gemehrte Erbe des eigentlichen Faust mit seiner voll dramatischen, anch
tragischen Lebenspoesie. Indem Goethe den Faust dichtete, wurde er mit einem
Schlage nicht nur der Erbe der deutschen Vergangenheit, sondern auch der
Anwärter der deutschen Zukunft. Denn die Faustsage wird von der Seelen¬
geschichte der Deutschen bis ans den heutigen Tag noch in Fluß erhalten. .. .
Das neunzehnte Jahrhundert hat sich auch fortwährend mit Faust beschäftigt;
die Faustliteratur zählt 2714 Nummern. So ist der Faust zum anerkannten
Höhepunkt der neuern deutschen Nationalliteratur geworden, zum Grundtypus
der modernen Poesie. Er ist zweifellos die Tragödie des modernen deutschen
Menschen." Vom Parzival sagt der Verfasser: "Wir erachten, es gibt kein
andres Lebensgedicht, das so präzis das Gedicht des wirklichen Zeitlebens
ist." Richard Wagner habe den Helden gefälscht, verdorben. "Das Fremde,
wovor Goethe immerfort die Deutschen warnt -- freilich, ohne sich selbst in
alleweg davor zu hüten --, schlich sich in die so urchristliche wie urdeutsche
Herrlichkeit ein, das Fremde in besonders giftiger Potenz: der Pessimismus
in fast buddhistischer Abartung." Wagners Charakter wird übrigens von
einem andern Mitarbeiter mit Berufung auf die 1904 in fünfter Auflage er¬
schienenen Tagebuchblätter und Briefe gegen übertriebne Anschuldigungen in
Schutz genommen: Wagner sei nicht der egoistische, ruhmes- und genußsüchtige
Mensch gewesen, als der er oft geschildert werde. Elfe Hasse führt in einer
geistreichen Abhandlung die heutige Nervosität auf das vorwiegende Verstandes-
leben, die "Bewußtscinshelligkeit" zurück. "Durch die Gewohnheit des Objek-
tivierens wird die Kraft des Empfindens geschwächt und die Sphäre des Un¬
bewußten unterwühlt; die Instinkte verflüchtigen sich, alles wird schwankend
und unsicher, Widersprüche bilden sich ans zwischen den verschiednen Seiten
unsers Wesens, und wir verfallen der Pein der Zerrissenheit. Denn immer
ist der bewußte Mensch in eine ängstlich oder gewissenhaft, argwöhnisch oder
eitel zuschauende und in eine fühlende und handelnde Person zerspalten. . . .
Dem Grade unsrer innern Zersetzung pflegt unsre Fähigkeit zur Kritik zu
entsprechen. Wir sind heute, viel mehr als mit dem Leben selbst, mit Kritik
über das Leben beschäftigt. . . . Über dem Kritisieren verlernt der Mensch
auch das Lieben." Die als glänzende Biographin bekannte Lady Blennerhasset
behandelt "Religiöse Probleme und moderne Romane". Der Versuch, das
christliche Bewußtsein dem Zeitgeschmack anzubequemen und aus dem noch ge¬
retteten Rest voll verloren gegangnen Überzeugungen gangbare Münze für
die Tagesliteratur zu prägen, sei recht eigentlich das Werk der Franzosen.
Chateaubriand habe den Typ Rene geschaffen, der in der Kunst fortlebe, und
habe der in diesem Typ verkörperten Romantik "das subtilere Gift moralischer
Korruption in das Blut geträufelt". Eine sorgfältige Analyse von Bourgets


katholische Belletristik und Publizistik

Wicklung. Hier fand der Mensch Goethe das konkrete kirchliche Christentum
als etwas von Faust beiseite Geschobnes vor; ihm zeigte sich ein sympathisches
Gesicht, das der Welt, dein irdischen Leben zugekehrt ist; und wie reich wurde
doch der Dichter Goethe durch das schier unerschöpfliche, von Jahrhunderten
gemehrte Erbe des eigentlichen Faust mit seiner voll dramatischen, anch
tragischen Lebenspoesie. Indem Goethe den Faust dichtete, wurde er mit einem
Schlage nicht nur der Erbe der deutschen Vergangenheit, sondern auch der
Anwärter der deutschen Zukunft. Denn die Faustsage wird von der Seelen¬
geschichte der Deutschen bis ans den heutigen Tag noch in Fluß erhalten. .. .
Das neunzehnte Jahrhundert hat sich auch fortwährend mit Faust beschäftigt;
die Faustliteratur zählt 2714 Nummern. So ist der Faust zum anerkannten
Höhepunkt der neuern deutschen Nationalliteratur geworden, zum Grundtypus
der modernen Poesie. Er ist zweifellos die Tragödie des modernen deutschen
Menschen." Vom Parzival sagt der Verfasser: „Wir erachten, es gibt kein
andres Lebensgedicht, das so präzis das Gedicht des wirklichen Zeitlebens
ist." Richard Wagner habe den Helden gefälscht, verdorben. „Das Fremde,
wovor Goethe immerfort die Deutschen warnt — freilich, ohne sich selbst in
alleweg davor zu hüten —, schlich sich in die so urchristliche wie urdeutsche
Herrlichkeit ein, das Fremde in besonders giftiger Potenz: der Pessimismus
in fast buddhistischer Abartung." Wagners Charakter wird übrigens von
einem andern Mitarbeiter mit Berufung auf die 1904 in fünfter Auflage er¬
schienenen Tagebuchblätter und Briefe gegen übertriebne Anschuldigungen in
Schutz genommen: Wagner sei nicht der egoistische, ruhmes- und genußsüchtige
Mensch gewesen, als der er oft geschildert werde. Elfe Hasse führt in einer
geistreichen Abhandlung die heutige Nervosität auf das vorwiegende Verstandes-
leben, die „Bewußtscinshelligkeit" zurück. „Durch die Gewohnheit des Objek-
tivierens wird die Kraft des Empfindens geschwächt und die Sphäre des Un¬
bewußten unterwühlt; die Instinkte verflüchtigen sich, alles wird schwankend
und unsicher, Widersprüche bilden sich ans zwischen den verschiednen Seiten
unsers Wesens, und wir verfallen der Pein der Zerrissenheit. Denn immer
ist der bewußte Mensch in eine ängstlich oder gewissenhaft, argwöhnisch oder
eitel zuschauende und in eine fühlende und handelnde Person zerspalten. . . .
Dem Grade unsrer innern Zersetzung pflegt unsre Fähigkeit zur Kritik zu
entsprechen. Wir sind heute, viel mehr als mit dem Leben selbst, mit Kritik
über das Leben beschäftigt. . . . Über dem Kritisieren verlernt der Mensch
auch das Lieben." Die als glänzende Biographin bekannte Lady Blennerhasset
behandelt „Religiöse Probleme und moderne Romane". Der Versuch, das
christliche Bewußtsein dem Zeitgeschmack anzubequemen und aus dem noch ge¬
retteten Rest voll verloren gegangnen Überzeugungen gangbare Münze für
die Tagesliteratur zu prägen, sei recht eigentlich das Werk der Franzosen.
Chateaubriand habe den Typ Rene geschaffen, der in der Kunst fortlebe, und
habe der in diesem Typ verkörperten Romantik „das subtilere Gift moralischer
Korruption in das Blut geträufelt". Eine sorgfältige Analyse von Bourgets


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[0526] katholische Belletristik und Publizistik Wicklung. Hier fand der Mensch Goethe das konkrete kirchliche Christentum als etwas von Faust beiseite Geschobnes vor; ihm zeigte sich ein sympathisches Gesicht, das der Welt, dein irdischen Leben zugekehrt ist; und wie reich wurde doch der Dichter Goethe durch das schier unerschöpfliche, von Jahrhunderten gemehrte Erbe des eigentlichen Faust mit seiner voll dramatischen, anch tragischen Lebenspoesie. Indem Goethe den Faust dichtete, wurde er mit einem Schlage nicht nur der Erbe der deutschen Vergangenheit, sondern auch der Anwärter der deutschen Zukunft. Denn die Faustsage wird von der Seelen¬ geschichte der Deutschen bis ans den heutigen Tag noch in Fluß erhalten. .. . Das neunzehnte Jahrhundert hat sich auch fortwährend mit Faust beschäftigt; die Faustliteratur zählt 2714 Nummern. So ist der Faust zum anerkannten Höhepunkt der neuern deutschen Nationalliteratur geworden, zum Grundtypus der modernen Poesie. Er ist zweifellos die Tragödie des modernen deutschen Menschen." Vom Parzival sagt der Verfasser: „Wir erachten, es gibt kein andres Lebensgedicht, das so präzis das Gedicht des wirklichen Zeitlebens ist." Richard Wagner habe den Helden gefälscht, verdorben. „Das Fremde, wovor Goethe immerfort die Deutschen warnt — freilich, ohne sich selbst in alleweg davor zu hüten —, schlich sich in die so urchristliche wie urdeutsche Herrlichkeit ein, das Fremde in besonders giftiger Potenz: der Pessimismus in fast buddhistischer Abartung." Wagners Charakter wird übrigens von einem andern Mitarbeiter mit Berufung auf die 1904 in fünfter Auflage er¬ schienenen Tagebuchblätter und Briefe gegen übertriebne Anschuldigungen in Schutz genommen: Wagner sei nicht der egoistische, ruhmes- und genußsüchtige Mensch gewesen, als der er oft geschildert werde. Elfe Hasse führt in einer geistreichen Abhandlung die heutige Nervosität auf das vorwiegende Verstandes- leben, die „Bewußtscinshelligkeit" zurück. „Durch die Gewohnheit des Objek- tivierens wird die Kraft des Empfindens geschwächt und die Sphäre des Un¬ bewußten unterwühlt; die Instinkte verflüchtigen sich, alles wird schwankend und unsicher, Widersprüche bilden sich ans zwischen den verschiednen Seiten unsers Wesens, und wir verfallen der Pein der Zerrissenheit. Denn immer ist der bewußte Mensch in eine ängstlich oder gewissenhaft, argwöhnisch oder eitel zuschauende und in eine fühlende und handelnde Person zerspalten. . . . Dem Grade unsrer innern Zersetzung pflegt unsre Fähigkeit zur Kritik zu entsprechen. Wir sind heute, viel mehr als mit dem Leben selbst, mit Kritik über das Leben beschäftigt. . . . Über dem Kritisieren verlernt der Mensch auch das Lieben." Die als glänzende Biographin bekannte Lady Blennerhasset behandelt „Religiöse Probleme und moderne Romane". Der Versuch, das christliche Bewußtsein dem Zeitgeschmack anzubequemen und aus dem noch ge¬ retteten Rest voll verloren gegangnen Überzeugungen gangbare Münze für die Tagesliteratur zu prägen, sei recht eigentlich das Werk der Franzosen. Chateaubriand habe den Typ Rene geschaffen, der in der Kunst fortlebe, und habe der in diesem Typ verkörperten Romantik „das subtilere Gift moralischer Korruption in das Blut geträufelt". Eine sorgfältige Analyse von Bourgets

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 66, 1907, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341885_301253/526>, abgerufen am 24.07.2024.