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Die Grenzboten. Jg. 66, 1907, Erstes Vierteljahr.

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Nettelbeck und Lucadou

Nettelbeckschen Berichts im einzelnen, so hoch er auch als Stimmungsgemülde
und Volksbuch anzuschlagen ist, doch recht schwach; jedenfalls ist er keine ge¬
nügende Quelle, Lucadou den Strick zu drehen.

Betrachten wir hiernach das andre gegen den Kommandanten häufig an¬
geführte Rencontre mit Nettelbeck. Am 5. April 1807, als nach Eintreffen des
Marschalls Mortier und seines vorpommerschen Korps die Granaten zahl¬
reicher in der Stadt einschlugen, erließ Lucadou den Befehl, die Hausdächer
mit Dünger zu belegen und das Straßenpflaster aufzureißen, damit die Ge¬
schosse unschädlich würden. Der Kommandant handelte dabei sicherlich nach
seinen Vorschriften. Nettelbeck aber hielt die Dächer für zu schwach und das
aufgerissene Pflaster für hinderlich beim Löschen einer Feuersbrunst. Er
sprach seine Meinung öffentlich auf dem Markte in höhnischem Tone gegen
den Kommandanten aus und erregte schon hierdurch dessen Zorn. Gerade
während dieses Vorgangs schlugen mehrere Granaten in den Häusern der Um¬
gegend ein, und eine explodierte etwa zwanzig oder dreißig Schritte von dem
Kreise der Bürger und der Offiziere. Bei dem Knall sah sich der Oberst mit
etwas verwirrten Blicken um und sprach besorgt die durch Nettelbecks Biographie
so bekannt gewordnen Worte: "Meine Herren, wenn das so fortgeht, so werden
wir doch noch müssen zu Kreuze kriechen!" Erregt zog Nettelbeck den Degen
aus der Scheide, richtete ihn gegen den Kommandanten mit den Worten: "Der
Erste, wer er auch sei, der das verdammte Wort wieder ausspricht, der stirbt
des Todes von meiner Hand!" Als er noch weiter in dem Tone redete, zog
ihn der anwesende Landrat Dcchlke von hinten zurück, denn auch Lucadou hatte
nach der Klinge gegriffen und wurde nur von dein Kaufmann Schröder ver¬
hindert, von dem Degen Gebrauch zu mache". Lucadou hielt einen Kriegsrat
ab und wollte Nettelbeck auf dem Glcicis erschießen lassen. Nur den be¬
ruhigenden Vorstellungen des Landrath Dcchlke gelang es, den beleidigten
Kommandanten zu beschwichtigen. Diese Geschichte berechtigt auch uach der
Nettelbeckschen Darstellung noch nicht dazu, den Kommandanten, wie dies
Nettelbeck an der Stelle tut, einen Feigling und eine Memme zu nennen.
Es spricht zunächst nur eine berechtigte Besorgnis in einer Zeit der Not, wo
auch stärkere Posten wankten, aus den Worten Lucadous. Außerdem ist aber
der Vorfall ein Beweis für den humanen, abgeklärten Charakter Lucadous,
der seine strenge Ansicht über Nettelbeck schließlich aufgab mit den Worten:
"Gut, gut! So mag der alte Bursche diesmal laufen. Hüt er sich nur, daß
ich ihn nicht wieder fasse!" Die mündliche Überlieferung in Kolberg sagt noch
heute, daß sich Offiziere und alte Kolberger häufig geäußert hätten, Nettelbeck
habe mehrfach verdient, standrechtlich erschossen zu werden.

Übrigens war Lucadou nicht der einzige Kommandant, der bei Nettelbeck
in Ungnade stand. Außer Gneisenau kommen alle übrigen ebenso schlecht weg.
Noch manche Sonderbarkeit wird aus den letzten Lebensjahren des bald weithin
bekannten Bürgers erzählt. Sein harter Kopf machte der Stadtverwaltung


Nettelbeck und Lucadou

Nettelbeckschen Berichts im einzelnen, so hoch er auch als Stimmungsgemülde
und Volksbuch anzuschlagen ist, doch recht schwach; jedenfalls ist er keine ge¬
nügende Quelle, Lucadou den Strick zu drehen.

Betrachten wir hiernach das andre gegen den Kommandanten häufig an¬
geführte Rencontre mit Nettelbeck. Am 5. April 1807, als nach Eintreffen des
Marschalls Mortier und seines vorpommerschen Korps die Granaten zahl¬
reicher in der Stadt einschlugen, erließ Lucadou den Befehl, die Hausdächer
mit Dünger zu belegen und das Straßenpflaster aufzureißen, damit die Ge¬
schosse unschädlich würden. Der Kommandant handelte dabei sicherlich nach
seinen Vorschriften. Nettelbeck aber hielt die Dächer für zu schwach und das
aufgerissene Pflaster für hinderlich beim Löschen einer Feuersbrunst. Er
sprach seine Meinung öffentlich auf dem Markte in höhnischem Tone gegen
den Kommandanten aus und erregte schon hierdurch dessen Zorn. Gerade
während dieses Vorgangs schlugen mehrere Granaten in den Häusern der Um¬
gegend ein, und eine explodierte etwa zwanzig oder dreißig Schritte von dem
Kreise der Bürger und der Offiziere. Bei dem Knall sah sich der Oberst mit
etwas verwirrten Blicken um und sprach besorgt die durch Nettelbecks Biographie
so bekannt gewordnen Worte: „Meine Herren, wenn das so fortgeht, so werden
wir doch noch müssen zu Kreuze kriechen!" Erregt zog Nettelbeck den Degen
aus der Scheide, richtete ihn gegen den Kommandanten mit den Worten: „Der
Erste, wer er auch sei, der das verdammte Wort wieder ausspricht, der stirbt
des Todes von meiner Hand!" Als er noch weiter in dem Tone redete, zog
ihn der anwesende Landrat Dcchlke von hinten zurück, denn auch Lucadou hatte
nach der Klinge gegriffen und wurde nur von dein Kaufmann Schröder ver¬
hindert, von dem Degen Gebrauch zu mache». Lucadou hielt einen Kriegsrat
ab und wollte Nettelbeck auf dem Glcicis erschießen lassen. Nur den be¬
ruhigenden Vorstellungen des Landrath Dcchlke gelang es, den beleidigten
Kommandanten zu beschwichtigen. Diese Geschichte berechtigt auch uach der
Nettelbeckschen Darstellung noch nicht dazu, den Kommandanten, wie dies
Nettelbeck an der Stelle tut, einen Feigling und eine Memme zu nennen.
Es spricht zunächst nur eine berechtigte Besorgnis in einer Zeit der Not, wo
auch stärkere Posten wankten, aus den Worten Lucadous. Außerdem ist aber
der Vorfall ein Beweis für den humanen, abgeklärten Charakter Lucadous,
der seine strenge Ansicht über Nettelbeck schließlich aufgab mit den Worten:
„Gut, gut! So mag der alte Bursche diesmal laufen. Hüt er sich nur, daß
ich ihn nicht wieder fasse!" Die mündliche Überlieferung in Kolberg sagt noch
heute, daß sich Offiziere und alte Kolberger häufig geäußert hätten, Nettelbeck
habe mehrfach verdient, standrechtlich erschossen zu werden.

Übrigens war Lucadou nicht der einzige Kommandant, der bei Nettelbeck
in Ungnade stand. Außer Gneisenau kommen alle übrigen ebenso schlecht weg.
Noch manche Sonderbarkeit wird aus den letzten Lebensjahren des bald weithin
bekannten Bürgers erzählt. Sein harter Kopf machte der Stadtverwaltung


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 66, 1907, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341885_301253/519>, abgerufen am 24.07.2024.