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Die Grenzboten. Jg. 66, 1907, Erstes Vierteljahr.

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Nettelbeck und Lucadou

dazwischenfuhr. Am nächsten Abend brach dann in der Kommandantur Feuer
aus, und Nettelbeck brachte dies "in bedenkliche Verbindung mit dem Par¬
lamentär", d, h, er sah darin ein verräterisches Zeichen für "nächtliche Über¬
rumpelung"! Voll von beängstigenden Gedanken revidierte er die Posten und
eilte zu später Stunde zum Kommandanten, der in der Post Quartier genommen
hatte. Dort wurde er von dem für ihn wenig gut gestimmten Kommandanten
wegen der vorgeschrittnen Stunde nicht mehr vorgelassen, und hierauf beruht
dann seine zornige Klage über die unerhörte Seelenruhe des schlafmützigen
Festungskommandanten, die durch Dichtung und Geschichtschreibung weiter
verbreitet worden ist.

So Nettelbeck. Dieser Schlußfolgerung gegenüber heißt es aber sogar in
den Lucadou wenig günstig beurteilenden Tagebüchern Schillscher Offiziere
(Berlin, Vereinsbuchhandlung, 1857, S. 60) um dieselbe Zeit: "Die Komman¬
danten, Oberst von Lucadou und Hauptmann von Waldenfels, brachten von
dieser Zeit an die Nächte fast immer auf dem Walle zu, und es wurden keine
Sicherheitsanstalten gegen den Feind versäumt"; der Herausgeber dieser Tage¬
bücher will (1857) gegen Nettelbecks Darstellung viele Zeugen aufstellen und
meint schließlich: "sollte es aber doch einmal geschehen sein, so wäre es einem
alten, schwächlichen Manne Wohl zu verzeihen und verdient nicht die scharfe
Rüge, mit welcher man ihn (Lucadou) in einigen öffentlichen Blättern behandelt
hat, dn in seiner Abwesenheit der sehr tätige zweite Kommandant seine Stelle
ersetzte."

In dem Brande der Kommandantur "etwas Vorbereitetes", ein verräte¬
risches Zeichen für eine "nächtliche Überrumpelung" zu sehen, wie dies bei
Nettelbeck geschieht, das muß von der geschichtlichen Kritik mit Berücksichtigung
des Gesamteindrucks Lucadvns selbstverständlich in das Gebiet kindlichen Fabelns
verwiesen werden; dem alten Brausekopf muß aber schon sehr sein patriotischer
Eifer zugute gerechnet werden, sonst müßte jeder unbefangne Leser ihn hier
stark der Sünde gegen das achte Gebot zeihen. Schlimm steht es nun aber
auch mit dem ganzen Bericht über den theatralischen Einzug des Parlamen¬
tärs. Der Dichter Heyse durfte ihn mit Vorteil benützen, der Geschichtsforscher
hat seine Bedenken, denn nach maßgebenden andern Quellen ist der Parla¬
mentär am 15. März nur bei den Vorposten erschienen, und der Vizekomman¬
dant von Waldenfels, dessen Abwesenheit Nettelbeck gerade anklagend hervor¬
hebt, hat ihn abgefertigt, um der aufgeregten Kolberger Bürgerschaft keinen
Grund zum Argwohn zu geben.*) Sollte die Phantasie des Alten bei der
vielleicht erst spät nach der Erinnerung im hohen Greisenalter geschehenen Auf¬
zeichnung hier so mitgespielt haben, so steht es mit der Glaubwürdigkeit des



Tagebuch des Schillschen Korps, Maß, Belagerung Kolbergs. Hiernach wurde am
15. März durch Viktoriaschießen die Schlacht bei Eulau in Kolberg gefeiert, und deshalb erschien
Nachmittags 4 Uhr ein Parlamentär bei den Vorposten, fragte nach der Ursache des Schießens
und verlangte die Übergabe. Nettelbeck erwähnt diese Feier sonderbarerweise nicht.
Nettelbeck und Lucadou

dazwischenfuhr. Am nächsten Abend brach dann in der Kommandantur Feuer
aus, und Nettelbeck brachte dies „in bedenkliche Verbindung mit dem Par¬
lamentär", d, h, er sah darin ein verräterisches Zeichen für „nächtliche Über¬
rumpelung"! Voll von beängstigenden Gedanken revidierte er die Posten und
eilte zu später Stunde zum Kommandanten, der in der Post Quartier genommen
hatte. Dort wurde er von dem für ihn wenig gut gestimmten Kommandanten
wegen der vorgeschrittnen Stunde nicht mehr vorgelassen, und hierauf beruht
dann seine zornige Klage über die unerhörte Seelenruhe des schlafmützigen
Festungskommandanten, die durch Dichtung und Geschichtschreibung weiter
verbreitet worden ist.

So Nettelbeck. Dieser Schlußfolgerung gegenüber heißt es aber sogar in
den Lucadou wenig günstig beurteilenden Tagebüchern Schillscher Offiziere
(Berlin, Vereinsbuchhandlung, 1857, S. 60) um dieselbe Zeit: „Die Komman¬
danten, Oberst von Lucadou und Hauptmann von Waldenfels, brachten von
dieser Zeit an die Nächte fast immer auf dem Walle zu, und es wurden keine
Sicherheitsanstalten gegen den Feind versäumt"; der Herausgeber dieser Tage¬
bücher will (1857) gegen Nettelbecks Darstellung viele Zeugen aufstellen und
meint schließlich: „sollte es aber doch einmal geschehen sein, so wäre es einem
alten, schwächlichen Manne Wohl zu verzeihen und verdient nicht die scharfe
Rüge, mit welcher man ihn (Lucadou) in einigen öffentlichen Blättern behandelt
hat, dn in seiner Abwesenheit der sehr tätige zweite Kommandant seine Stelle
ersetzte."

In dem Brande der Kommandantur „etwas Vorbereitetes", ein verräte¬
risches Zeichen für eine „nächtliche Überrumpelung" zu sehen, wie dies bei
Nettelbeck geschieht, das muß von der geschichtlichen Kritik mit Berücksichtigung
des Gesamteindrucks Lucadvns selbstverständlich in das Gebiet kindlichen Fabelns
verwiesen werden; dem alten Brausekopf muß aber schon sehr sein patriotischer
Eifer zugute gerechnet werden, sonst müßte jeder unbefangne Leser ihn hier
stark der Sünde gegen das achte Gebot zeihen. Schlimm steht es nun aber
auch mit dem ganzen Bericht über den theatralischen Einzug des Parlamen¬
tärs. Der Dichter Heyse durfte ihn mit Vorteil benützen, der Geschichtsforscher
hat seine Bedenken, denn nach maßgebenden andern Quellen ist der Parla¬
mentär am 15. März nur bei den Vorposten erschienen, und der Vizekomman¬
dant von Waldenfels, dessen Abwesenheit Nettelbeck gerade anklagend hervor¬
hebt, hat ihn abgefertigt, um der aufgeregten Kolberger Bürgerschaft keinen
Grund zum Argwohn zu geben.*) Sollte die Phantasie des Alten bei der
vielleicht erst spät nach der Erinnerung im hohen Greisenalter geschehenen Auf¬
zeichnung hier so mitgespielt haben, so steht es mit der Glaubwürdigkeit des



Tagebuch des Schillschen Korps, Maß, Belagerung Kolbergs. Hiernach wurde am
15. März durch Viktoriaschießen die Schlacht bei Eulau in Kolberg gefeiert, und deshalb erschien
Nachmittags 4 Uhr ein Parlamentär bei den Vorposten, fragte nach der Ursache des Schießens
und verlangte die Übergabe. Nettelbeck erwähnt diese Feier sonderbarerweise nicht.
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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 66, 1907, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341885_301253/518>, abgerufen am 24.07.2024.