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Die Grenzboten. Jg. 66, 1907, Erstes Vierteljahr.

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Nettelbeck und Lucadou

gaben an den König, die die Mißachtung der Zwischenbehörden und das
überstarke Selbstgefühl zeigten, war der Alte überhaupt gar leicht bereit; er
rühmte sich dessen in seiner Unterhaltung mit Friedrich Wilhelm dein Dritten
am 21. August 1809 in Stargard selbst. Nicht immer gelang es wohlmeinenden
Männern wie dem Kriegsrat Wisselinck (Nettelbecks Lebensbeschreibung, heraus¬
gegeben von Haken III, 52, 76, 101) oder ein andresmal einigen einsichtigen
Offizieren, den rabiater Alten von solchen Eingaben abzuhalten. Aus Prozessen
wegen Ehrenschändung kam deshalb Nettelbeck gerade in den Jahren, die
seinen Ruhm begründeten, gar nicht heraus. Auch von einem der Komman¬
danten, die auf Gneisenau folgten, wurde er durch den Garnisonsauditenr
wegen Ehrenschündungen gegen Offiziere verhört. Nettelbeck selbst zieht die
Sache in seiner Lebensbeschreibung ins Lächerliche; in Wirklichkeit hat aber
Wohl hauptsächlich der hochherzige Gneisenau dafür gesorgt, daß ein gericht¬
liches Verfahren niedergeschlagen wurde. (Siehe auch Pertz I, 368.) Mag in
allen diesen Dingen das innere Recht zumeist auf seiten des warmherzigen
und weitschauenden patriotischen Bürgers gewesen sein, so ist es jedenfalls
sehr wunderbar, daß Nettelbeck auch nach den Akten des Bürgerbataillons, das
er selbst doch dem Konimandanten Lueadou gegenüber so hoch hebt, schlecht
beleumdet Wird. Er war -- gegenüber andern Darstellungen -- niemals Offizier,
sondern nur Unteroffizier dieses Bataillons und wurde 1779 sogar seiner
"bezeugten Widerspenstigkeit halber" nach den Akten des Bürgerbataillons auf
Antrag des Bürgermajors Deetz durch den Magistrat auf ein Vierteljahr
degradiert. Nettelbeck scheinen in seiner Lebensbeschreibung die vielen Händel,
die er zu erwähnen hat, aufzufallen, und er gibt sein temperamentvolles Wesen
freimütig zu; auch die panegyrische Schrift ans dem Jahre 1808 nennt den
sonst so hoch gepriesnen Bürger Nettelbeck unter Umständen "störrisch". Für
das Verhältnis zu Lncadon ist dieser Charakterzug aber höchst bedeutsam; er
erklärt die schlechte Beurteilung des Kommandanten hinlänglich.

Zwei Vorfülle sind es besonders, derentwegen nach dem Nettelbeckschen
Bericht über Lueadou der Stab gebrochen worden ist: die Behandlung eines
französischen Parlamentärs am 15. März 1807 und die historisch gewordnen
Worte Lueadous beim Platzen einer Granate: "So werden wir doch noch
müssen zu Kreuze kriechen."

Die erste Geschichte ist nach Nettelbecks Darstellung in Paul Heyses
Schauspiel drastisch behandelt und dadurch allgemein bekannt geworden: Vier¬
spännig mit Kutscher, Trompeter und zwei Nobelgardisten fuhr der französische
Offizier vor der Kommandantur vor, die Begleiter wurden von einem höchst
unzuverlässigen Unteroffizier vielleicht gar auf den Wällen spazieren geführt,
Lueadou verhandelte ohne den Vizekommcmdcmten bis nach zwei Uhr nachmittags
im geheimen, er komplimentierte dann den Franzosen höflich bis vor die Haustür;
hier duldete er eine Unterhaltung mit einem verdächtigen, pensionierten, ans-
bachischen Offizier, bis Nettelbeck, der vor dem Hause unwillig wartete,


Nettelbeck und Lucadou

gaben an den König, die die Mißachtung der Zwischenbehörden und das
überstarke Selbstgefühl zeigten, war der Alte überhaupt gar leicht bereit; er
rühmte sich dessen in seiner Unterhaltung mit Friedrich Wilhelm dein Dritten
am 21. August 1809 in Stargard selbst. Nicht immer gelang es wohlmeinenden
Männern wie dem Kriegsrat Wisselinck (Nettelbecks Lebensbeschreibung, heraus¬
gegeben von Haken III, 52, 76, 101) oder ein andresmal einigen einsichtigen
Offizieren, den rabiater Alten von solchen Eingaben abzuhalten. Aus Prozessen
wegen Ehrenschändung kam deshalb Nettelbeck gerade in den Jahren, die
seinen Ruhm begründeten, gar nicht heraus. Auch von einem der Komman¬
danten, die auf Gneisenau folgten, wurde er durch den Garnisonsauditenr
wegen Ehrenschündungen gegen Offiziere verhört. Nettelbeck selbst zieht die
Sache in seiner Lebensbeschreibung ins Lächerliche; in Wirklichkeit hat aber
Wohl hauptsächlich der hochherzige Gneisenau dafür gesorgt, daß ein gericht¬
liches Verfahren niedergeschlagen wurde. (Siehe auch Pertz I, 368.) Mag in
allen diesen Dingen das innere Recht zumeist auf seiten des warmherzigen
und weitschauenden patriotischen Bürgers gewesen sein, so ist es jedenfalls
sehr wunderbar, daß Nettelbeck auch nach den Akten des Bürgerbataillons, das
er selbst doch dem Konimandanten Lueadou gegenüber so hoch hebt, schlecht
beleumdet Wird. Er war — gegenüber andern Darstellungen — niemals Offizier,
sondern nur Unteroffizier dieses Bataillons und wurde 1779 sogar seiner
„bezeugten Widerspenstigkeit halber" nach den Akten des Bürgerbataillons auf
Antrag des Bürgermajors Deetz durch den Magistrat auf ein Vierteljahr
degradiert. Nettelbeck scheinen in seiner Lebensbeschreibung die vielen Händel,
die er zu erwähnen hat, aufzufallen, und er gibt sein temperamentvolles Wesen
freimütig zu; auch die panegyrische Schrift ans dem Jahre 1808 nennt den
sonst so hoch gepriesnen Bürger Nettelbeck unter Umständen „störrisch". Für
das Verhältnis zu Lncadon ist dieser Charakterzug aber höchst bedeutsam; er
erklärt die schlechte Beurteilung des Kommandanten hinlänglich.

Zwei Vorfülle sind es besonders, derentwegen nach dem Nettelbeckschen
Bericht über Lueadou der Stab gebrochen worden ist: die Behandlung eines
französischen Parlamentärs am 15. März 1807 und die historisch gewordnen
Worte Lueadous beim Platzen einer Granate: „So werden wir doch noch
müssen zu Kreuze kriechen."

Die erste Geschichte ist nach Nettelbecks Darstellung in Paul Heyses
Schauspiel drastisch behandelt und dadurch allgemein bekannt geworden: Vier¬
spännig mit Kutscher, Trompeter und zwei Nobelgardisten fuhr der französische
Offizier vor der Kommandantur vor, die Begleiter wurden von einem höchst
unzuverlässigen Unteroffizier vielleicht gar auf den Wällen spazieren geführt,
Lueadou verhandelte ohne den Vizekommcmdcmten bis nach zwei Uhr nachmittags
im geheimen, er komplimentierte dann den Franzosen höflich bis vor die Haustür;
hier duldete er eine Unterhaltung mit einem verdächtigen, pensionierten, ans-
bachischen Offizier, bis Nettelbeck, der vor dem Hause unwillig wartete,


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 66, 1907, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341885_301253/517>, abgerufen am 24.07.2024.