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Die Grenzboten. Jg. 66, 1907, Erstes Vierteljahr.

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Zwei Veteranen

feinstes Sprachgefühl gebändigten Form führen sie ihr Leben. Und obwohl sie
vom "Festen und Klaren und Organischen" empfangen sind, geben diese Dich¬
tungen doch auch Stimmungen, die durch die bloße Erinnerung wieder herauf¬
beschworen werden. Wer der schönen Abigail gedenkt, von der in der
"Geisterstunde" erzählt wird, der fühlt noch einmal die Schauer des Kirchhofs
nach, und in der Rückbesinnung auf den "Verlorenen Sohn" treten mit den
Gestalten die Schwere, der Seelendruck, den die wissende Mutter trägt, wieder
zu uns.

Nun aber nehme man, so vorbereitet oder nicht, Heyses Lyrik zur Hand
und versuche hier dem eigensten Ton des Dichters nachzugehn. Wer nach den
landläufigen Anthologien, auch den besten, urteilt, kommt freilich nicht zum
Ziel. Aber wer die "Gedichte" genießt, der wird bezwungen werden von einer
Persönlichkeit, die im Schmerz zu menschlichem Adel von seltener Reinheit auf¬
steigt. Heyses Kindertotenlieder haben in unsrer Lyrik ihresgleichen nicht.
Herzblut strömt hinter dem klaren Gewände einer unübertrefflich sichern und
schönen Form, und wieder einmal lehrt ein Großer hier die Ethik des äußern
Stils, der dem innern Gehalt genau entsprechen muß.*) Und es sind ja nicht
die Kindertotenlieder allein, die Heyses Lyrik einen eignen Platz geben und sie
diesen Platz behaupten lassen, anch nachdem wir unleugbar an lyrischen Kleinodien
reicher geworden sind als je zuvor.

Auch bei Raabe und gerade bei Raabe entsprechen sich Form und Inhalt
ja, wie wir sahen, genau. Und da sich in der äußern Darstellung größere
Gegensätze schwer finden lassen werden als Raabe und Heyse, so wird ja wohl
auch das, was darin steckt, verschieden genug sein. Gewiß. Wie die Reinheit
und Zartheit der Heysischen Gestaltung jedem offen daliegt, so sind es auch
immer wieder Menschen von hoher Schönheit, von klarem Adel, die er uns ins
Heiligtum stellen will. Es sind in all seinen Meisterarbeiten (da er viel mehr
geschrieben hat, gab er auch mehr Sachen zweiten Ranges als Raabe) Menschen
von Fleisch und Blut. Aber es sind nicht die Menschen, die Raabe sich auf¬
sucht und in seine oft so barock aussehenden Gewänder kleidet. Heyse gibt uns
so oft holdselig klare Frauen, die noch, wenn sie sich verlieren, Grazie retten
und wahren -- Raabe sucht sich die Knubben und Knorren, die unscheinbar
aussehen und sich dann allgemach als Menschen mit einem festen Sinn, als
stille Helden eines geprüften Herzens entpuppen. Daß jeder sein Reich kennt
und ausfüllt, das gibt ihnen beiden das Recht, von uns zu fordern: meßt uns
gefälligst an unsern eignen Maßen. Und es legt uus die Pflicht auf, so zu
handeln. Wir dürfen nicht verlangen, daß Heyse etwa den Zwerg und den
Riesen in "Grenzen der Menschheit" in die Pracht Naabcscher Hnmore kleide --



Ich freue mich, in Eduard Engels "Geschichte der deutschen Literatur von den Anfangen bis
in die Gegenwart", die soeben bei G. Freytag in Leipzig und F, Tempsku in Wien erschienen
ist, Heyses selten gewürdigte Lyrik ganz besonders hervorgehoben zu finden.
Grenzboten 1 1907 62
Zwei Veteranen

feinstes Sprachgefühl gebändigten Form führen sie ihr Leben. Und obwohl sie
vom „Festen und Klaren und Organischen" empfangen sind, geben diese Dich¬
tungen doch auch Stimmungen, die durch die bloße Erinnerung wieder herauf¬
beschworen werden. Wer der schönen Abigail gedenkt, von der in der
„Geisterstunde" erzählt wird, der fühlt noch einmal die Schauer des Kirchhofs
nach, und in der Rückbesinnung auf den „Verlorenen Sohn" treten mit den
Gestalten die Schwere, der Seelendruck, den die wissende Mutter trägt, wieder
zu uns.

Nun aber nehme man, so vorbereitet oder nicht, Heyses Lyrik zur Hand
und versuche hier dem eigensten Ton des Dichters nachzugehn. Wer nach den
landläufigen Anthologien, auch den besten, urteilt, kommt freilich nicht zum
Ziel. Aber wer die „Gedichte" genießt, der wird bezwungen werden von einer
Persönlichkeit, die im Schmerz zu menschlichem Adel von seltener Reinheit auf¬
steigt. Heyses Kindertotenlieder haben in unsrer Lyrik ihresgleichen nicht.
Herzblut strömt hinter dem klaren Gewände einer unübertrefflich sichern und
schönen Form, und wieder einmal lehrt ein Großer hier die Ethik des äußern
Stils, der dem innern Gehalt genau entsprechen muß.*) Und es sind ja nicht
die Kindertotenlieder allein, die Heyses Lyrik einen eignen Platz geben und sie
diesen Platz behaupten lassen, anch nachdem wir unleugbar an lyrischen Kleinodien
reicher geworden sind als je zuvor.

Auch bei Raabe und gerade bei Raabe entsprechen sich Form und Inhalt
ja, wie wir sahen, genau. Und da sich in der äußern Darstellung größere
Gegensätze schwer finden lassen werden als Raabe und Heyse, so wird ja wohl
auch das, was darin steckt, verschieden genug sein. Gewiß. Wie die Reinheit
und Zartheit der Heysischen Gestaltung jedem offen daliegt, so sind es auch
immer wieder Menschen von hoher Schönheit, von klarem Adel, die er uns ins
Heiligtum stellen will. Es sind in all seinen Meisterarbeiten (da er viel mehr
geschrieben hat, gab er auch mehr Sachen zweiten Ranges als Raabe) Menschen
von Fleisch und Blut. Aber es sind nicht die Menschen, die Raabe sich auf¬
sucht und in seine oft so barock aussehenden Gewänder kleidet. Heyse gibt uns
so oft holdselig klare Frauen, die noch, wenn sie sich verlieren, Grazie retten
und wahren — Raabe sucht sich die Knubben und Knorren, die unscheinbar
aussehen und sich dann allgemach als Menschen mit einem festen Sinn, als
stille Helden eines geprüften Herzens entpuppen. Daß jeder sein Reich kennt
und ausfüllt, das gibt ihnen beiden das Recht, von uns zu fordern: meßt uns
gefälligst an unsern eignen Maßen. Und es legt uus die Pflicht auf, so zu
handeln. Wir dürfen nicht verlangen, daß Heyse etwa den Zwerg und den
Riesen in „Grenzen der Menschheit" in die Pracht Naabcscher Hnmore kleide —



Ich freue mich, in Eduard Engels „Geschichte der deutschen Literatur von den Anfangen bis
in die Gegenwart", die soeben bei G. Freytag in Leipzig und F, Tempsku in Wien erschienen
ist, Heyses selten gewürdigte Lyrik ganz besonders hervorgehoben zu finden.
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[0481] Zwei Veteranen feinstes Sprachgefühl gebändigten Form führen sie ihr Leben. Und obwohl sie vom „Festen und Klaren und Organischen" empfangen sind, geben diese Dich¬ tungen doch auch Stimmungen, die durch die bloße Erinnerung wieder herauf¬ beschworen werden. Wer der schönen Abigail gedenkt, von der in der „Geisterstunde" erzählt wird, der fühlt noch einmal die Schauer des Kirchhofs nach, und in der Rückbesinnung auf den „Verlorenen Sohn" treten mit den Gestalten die Schwere, der Seelendruck, den die wissende Mutter trägt, wieder zu uns. Nun aber nehme man, so vorbereitet oder nicht, Heyses Lyrik zur Hand und versuche hier dem eigensten Ton des Dichters nachzugehn. Wer nach den landläufigen Anthologien, auch den besten, urteilt, kommt freilich nicht zum Ziel. Aber wer die „Gedichte" genießt, der wird bezwungen werden von einer Persönlichkeit, die im Schmerz zu menschlichem Adel von seltener Reinheit auf¬ steigt. Heyses Kindertotenlieder haben in unsrer Lyrik ihresgleichen nicht. Herzblut strömt hinter dem klaren Gewände einer unübertrefflich sichern und schönen Form, und wieder einmal lehrt ein Großer hier die Ethik des äußern Stils, der dem innern Gehalt genau entsprechen muß.*) Und es sind ja nicht die Kindertotenlieder allein, die Heyses Lyrik einen eignen Platz geben und sie diesen Platz behaupten lassen, anch nachdem wir unleugbar an lyrischen Kleinodien reicher geworden sind als je zuvor. Auch bei Raabe und gerade bei Raabe entsprechen sich Form und Inhalt ja, wie wir sahen, genau. Und da sich in der äußern Darstellung größere Gegensätze schwer finden lassen werden als Raabe und Heyse, so wird ja wohl auch das, was darin steckt, verschieden genug sein. Gewiß. Wie die Reinheit und Zartheit der Heysischen Gestaltung jedem offen daliegt, so sind es auch immer wieder Menschen von hoher Schönheit, von klarem Adel, die er uns ins Heiligtum stellen will. Es sind in all seinen Meisterarbeiten (da er viel mehr geschrieben hat, gab er auch mehr Sachen zweiten Ranges als Raabe) Menschen von Fleisch und Blut. Aber es sind nicht die Menschen, die Raabe sich auf¬ sucht und in seine oft so barock aussehenden Gewänder kleidet. Heyse gibt uns so oft holdselig klare Frauen, die noch, wenn sie sich verlieren, Grazie retten und wahren — Raabe sucht sich die Knubben und Knorren, die unscheinbar aussehen und sich dann allgemach als Menschen mit einem festen Sinn, als stille Helden eines geprüften Herzens entpuppen. Daß jeder sein Reich kennt und ausfüllt, das gibt ihnen beiden das Recht, von uns zu fordern: meßt uns gefälligst an unsern eignen Maßen. Und es legt uus die Pflicht auf, so zu handeln. Wir dürfen nicht verlangen, daß Heyse etwa den Zwerg und den Riesen in „Grenzen der Menschheit" in die Pracht Naabcscher Hnmore kleide — Ich freue mich, in Eduard Engels „Geschichte der deutschen Literatur von den Anfangen bis in die Gegenwart", die soeben bei G. Freytag in Leipzig und F, Tempsku in Wien erschienen ist, Heyses selten gewürdigte Lyrik ganz besonders hervorgehoben zu finden. Grenzboten 1 1907 62

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 66, 1907, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341885_301253/481>, abgerufen am 04.07.2024.