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Die Grenzboten. Jg. 66, 1907, Erstes Vierteljahr.

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Zwei Veteranen

in der Apotheke zum Wilden Mann im Harz daheim gewesen ist, der sehnt sich
zurück. Es ist, als ob umgekehrt Hebbels Kritik eine Ouvertüre gewesen sei:
"es muß auch zu Gestalten kommen". Es ist zu Gestalten gekommen. Niemand
bei Raabe, ob er vielleicht auch einen symbolischen Namen führe, ist eine bloße
Abstraktion, die Kleider trägt. Vom Bürgermeister Seneca zu Wanza an der
Wipper bis zum Welten Andres und der Witwe Mungo im Vogelsang --
Menschen!

Da liegt denn auch die Antwort auf die Frage, warum die moderne Be¬
wegung bei dem gesunden und besonders bei dem seines Deutschtums sich ernst
und verantwortungsvoll bewußten Teil der ganzen Generation in eine Art
Schilderhebung Naabes mündete. Alles, was man so lange suchte, ein wahres,
unverkritzeltes Bild des deutschen Meuschen mit seineu großen Gaben und auch
mit seinen großen und kleinen Fehlern: hier war es. Und hier gab es einer
aus der Quelle, die wie ein Wunderwasser nichts herunterwäscht, was nur den
Sonntagsstaat beeinträchtigt, die aber alles fortwischt, was die Seele vor Gott
nicht halten kann. Diese Quelle heißt Humor. Es war der große Humor,
der den Witz nicht scheut, aber nicht im Witz verpufft und endet. Das jüngste
Deutschland hatte ihn so wenig finden können wie seinerzeit das junge. Zuerst
bei Fontane und Keller, dann bei Raabe hatte es ihn gefunden. Dasselbe
Geschlecht, das nach dem Jungen Deutschland (das, wie Treitschke boshaft sagt,
wie incus g, non luoonäo so genannt wurde) von den Zeitgenossen mißver¬
standen oder nicht gehört, die große Kunst des poetischen Realismus schuf,
konnte jetzt, nach vierzig Jahren, noch mit Kraft und Leben eine ganz neue
Generation bezwingen. Daß uns Henrik Ibsen am Ende zu Friedrich Hebbel
führte, und wir uun erst recht die "Nibelungen" und "Herodes und Marianne"
als nationales Erbgut antreten, daß uns Raabe gewissermaßen noch einmal
geschenkt wurde und heute sich beobachte es immer wieder) auf viele wie eine
neue große Entdeckung wirkt -- das sind Zeichen einer Lebenskraft, die wohl
auch den neuesten Schotten oder Russen überdauern wird, mit dem die Helden
der Sensation uns vermutlich bald bedenken werden. .....

Vor Übertreibungen wollen wir uns freilich hüten. Noch ist Raabe dem
deutschen Volke lange nicht genug bekannt, wenn er auch nach seinem eignen Aus¬
druck "das allervornehmste Publikum, was das deutsche Volk gegenwärtig aufzu¬
weisen hat", zu den Liebhabern seiner besten Bücher zählt. Nicht nur die ewig
Morgigen, deren Gier nach neuen, möglichst nach ausländischen Sensationen ich oben
anrührte, mögen ihn nicht -- das soll uns gleich sein. Auch unter den andern,
die ihn lieben könnten, sind ihm längst nicht alle gewonnen. Er ist beileibe
nicht nur für die Stillen im Lande. Er hat nach Adolf Sterns gutem Wort
"eigne Maßstäbe für das deutsche Leben", und zwar, wie ich hinzusetzen möchte,
für das ganze deutsche Leben. Wie er die Vergangenheit so oft farbig wieder
belebt hat, ist er der Gegenwart Führer und weist noch lange in die Zukunft
hinein. Ist die liebste Heimat seiner Gestalten am Harz und am Solling, so


Zwei Veteranen

in der Apotheke zum Wilden Mann im Harz daheim gewesen ist, der sehnt sich
zurück. Es ist, als ob umgekehrt Hebbels Kritik eine Ouvertüre gewesen sei:
„es muß auch zu Gestalten kommen". Es ist zu Gestalten gekommen. Niemand
bei Raabe, ob er vielleicht auch einen symbolischen Namen führe, ist eine bloße
Abstraktion, die Kleider trägt. Vom Bürgermeister Seneca zu Wanza an der
Wipper bis zum Welten Andres und der Witwe Mungo im Vogelsang —
Menschen!

Da liegt denn auch die Antwort auf die Frage, warum die moderne Be¬
wegung bei dem gesunden und besonders bei dem seines Deutschtums sich ernst
und verantwortungsvoll bewußten Teil der ganzen Generation in eine Art
Schilderhebung Naabes mündete. Alles, was man so lange suchte, ein wahres,
unverkritzeltes Bild des deutschen Meuschen mit seineu großen Gaben und auch
mit seinen großen und kleinen Fehlern: hier war es. Und hier gab es einer
aus der Quelle, die wie ein Wunderwasser nichts herunterwäscht, was nur den
Sonntagsstaat beeinträchtigt, die aber alles fortwischt, was die Seele vor Gott
nicht halten kann. Diese Quelle heißt Humor. Es war der große Humor,
der den Witz nicht scheut, aber nicht im Witz verpufft und endet. Das jüngste
Deutschland hatte ihn so wenig finden können wie seinerzeit das junge. Zuerst
bei Fontane und Keller, dann bei Raabe hatte es ihn gefunden. Dasselbe
Geschlecht, das nach dem Jungen Deutschland (das, wie Treitschke boshaft sagt,
wie incus g, non luoonäo so genannt wurde) von den Zeitgenossen mißver¬
standen oder nicht gehört, die große Kunst des poetischen Realismus schuf,
konnte jetzt, nach vierzig Jahren, noch mit Kraft und Leben eine ganz neue
Generation bezwingen. Daß uns Henrik Ibsen am Ende zu Friedrich Hebbel
führte, und wir uun erst recht die „Nibelungen" und „Herodes und Marianne"
als nationales Erbgut antreten, daß uns Raabe gewissermaßen noch einmal
geschenkt wurde und heute sich beobachte es immer wieder) auf viele wie eine
neue große Entdeckung wirkt — das sind Zeichen einer Lebenskraft, die wohl
auch den neuesten Schotten oder Russen überdauern wird, mit dem die Helden
der Sensation uns vermutlich bald bedenken werden. .....

Vor Übertreibungen wollen wir uns freilich hüten. Noch ist Raabe dem
deutschen Volke lange nicht genug bekannt, wenn er auch nach seinem eignen Aus¬
druck „das allervornehmste Publikum, was das deutsche Volk gegenwärtig aufzu¬
weisen hat", zu den Liebhabern seiner besten Bücher zählt. Nicht nur die ewig
Morgigen, deren Gier nach neuen, möglichst nach ausländischen Sensationen ich oben
anrührte, mögen ihn nicht — das soll uns gleich sein. Auch unter den andern,
die ihn lieben könnten, sind ihm längst nicht alle gewonnen. Er ist beileibe
nicht nur für die Stillen im Lande. Er hat nach Adolf Sterns gutem Wort
„eigne Maßstäbe für das deutsche Leben", und zwar, wie ich hinzusetzen möchte,
für das ganze deutsche Leben. Wie er die Vergangenheit so oft farbig wieder
belebt hat, ist er der Gegenwart Führer und weist noch lange in die Zukunft
hinein. Ist die liebste Heimat seiner Gestalten am Harz und am Solling, so


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[0479] Zwei Veteranen in der Apotheke zum Wilden Mann im Harz daheim gewesen ist, der sehnt sich zurück. Es ist, als ob umgekehrt Hebbels Kritik eine Ouvertüre gewesen sei: „es muß auch zu Gestalten kommen". Es ist zu Gestalten gekommen. Niemand bei Raabe, ob er vielleicht auch einen symbolischen Namen führe, ist eine bloße Abstraktion, die Kleider trägt. Vom Bürgermeister Seneca zu Wanza an der Wipper bis zum Welten Andres und der Witwe Mungo im Vogelsang — Menschen! Da liegt denn auch die Antwort auf die Frage, warum die moderne Be¬ wegung bei dem gesunden und besonders bei dem seines Deutschtums sich ernst und verantwortungsvoll bewußten Teil der ganzen Generation in eine Art Schilderhebung Naabes mündete. Alles, was man so lange suchte, ein wahres, unverkritzeltes Bild des deutschen Meuschen mit seineu großen Gaben und auch mit seinen großen und kleinen Fehlern: hier war es. Und hier gab es einer aus der Quelle, die wie ein Wunderwasser nichts herunterwäscht, was nur den Sonntagsstaat beeinträchtigt, die aber alles fortwischt, was die Seele vor Gott nicht halten kann. Diese Quelle heißt Humor. Es war der große Humor, der den Witz nicht scheut, aber nicht im Witz verpufft und endet. Das jüngste Deutschland hatte ihn so wenig finden können wie seinerzeit das junge. Zuerst bei Fontane und Keller, dann bei Raabe hatte es ihn gefunden. Dasselbe Geschlecht, das nach dem Jungen Deutschland (das, wie Treitschke boshaft sagt, wie incus g, non luoonäo so genannt wurde) von den Zeitgenossen mißver¬ standen oder nicht gehört, die große Kunst des poetischen Realismus schuf, konnte jetzt, nach vierzig Jahren, noch mit Kraft und Leben eine ganz neue Generation bezwingen. Daß uns Henrik Ibsen am Ende zu Friedrich Hebbel führte, und wir uun erst recht die „Nibelungen" und „Herodes und Marianne" als nationales Erbgut antreten, daß uns Raabe gewissermaßen noch einmal geschenkt wurde und heute sich beobachte es immer wieder) auf viele wie eine neue große Entdeckung wirkt — das sind Zeichen einer Lebenskraft, die wohl auch den neuesten Schotten oder Russen überdauern wird, mit dem die Helden der Sensation uns vermutlich bald bedenken werden. ..... Vor Übertreibungen wollen wir uns freilich hüten. Noch ist Raabe dem deutschen Volke lange nicht genug bekannt, wenn er auch nach seinem eignen Aus¬ druck „das allervornehmste Publikum, was das deutsche Volk gegenwärtig aufzu¬ weisen hat", zu den Liebhabern seiner besten Bücher zählt. Nicht nur die ewig Morgigen, deren Gier nach neuen, möglichst nach ausländischen Sensationen ich oben anrührte, mögen ihn nicht — das soll uns gleich sein. Auch unter den andern, die ihn lieben könnten, sind ihm längst nicht alle gewonnen. Er ist beileibe nicht nur für die Stillen im Lande. Er hat nach Adolf Sterns gutem Wort „eigne Maßstäbe für das deutsche Leben", und zwar, wie ich hinzusetzen möchte, für das ganze deutsche Leben. Wie er die Vergangenheit so oft farbig wieder belebt hat, ist er der Gegenwart Führer und weist noch lange in die Zukunft hinein. Ist die liebste Heimat seiner Gestalten am Harz und am Solling, so

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 66, 1907, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341885_301253/479>, abgerufen am 04.07.2024.