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Die Grenzboten. Jg. 66, 1907, Erstes Vierteljahr.

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Kapital und Arbeit in den vereinigten Staaten

dieses Triebes hat das Menschengeschlecht den größten Teil der Erdoberfläche
besiedelt und kultiviert, sind unsre Vorfahren aus dem dichtbevölkerten Westen
unsers Vaterlands ostwärts vorgedrungen, haben sie das ostelbische Deutsch¬
land und das Deutschland an der mittlern Donau geschaffen; und dieser
natürliche Trieb ist wirksam geblieben bis in die sechziger Jahre des neun¬
zehnten Jahrhunderts, wo noch viele mittlere und größere deutsche Landwirte
Grundbesitz in den Slawenländern erworben haben. Wäre dieser Trieb auch
weiter wirksam geblieben, so würden die Deutschen, bloß durch ihren rationellen
Betrieb und ihre wirtschaftliche Überlegenheit, die Slawen aus ihrem Besitz
hinausarbeiten, ohne Lärm, ohne Entflammung des beiderseitigen nationalen
Fanatismus, ohne Aufwendungen des Staates. Seitdem der Naturtrieb in
jenen modernen verkehrt worden ist, hat diese natürliche Entwicklung ihr Ende
genommen, und wenn die Volksseele keine Wandlung im Sinne der "Rück-
ständigen" erfährt, so wird keine politische Kunst die Natur zu ersetzen ver¬
mögen. Will die Regierung Ansiedler an einen Ort ziehen, so muß sie dort
Gold und Diamanten eingraben und statt der Kirchen und Schulen Theater
und Tingeltangel bauen. Heut sind die Romanen, namentlich die Italiener,
die unter anderen Argentinien bevölkern, und die Slawen noch die einzigen
Menschen unsers Kulturkreises, die an ihrer Scholle kleben, und die Land¬
hunger verspüre"?. Entwurzelt man die vollends, so bleibt überall in der
Welt nur noch der plantagenmäßige Betrieb der Landwirtschaft übrig, und
es wird dann unter anderen die Frage entstehn, ob die Flache der dafür ge¬
eigneten Länder für den Nahrungsmittelbedarf der Menschheit hinreichen wird.
Um das Fleisch steht es jetzt schon schlimm. In Wien ist es noch teurer als
bei uns, und den amerikanischen Viehbestand verwüstet die rücksichtslose
kapitalistische Wirtschaft. Aus dem verhungernden Rußland ist natürlich erst
recht nichts zu holen.

Nur unter dem Schutze der Manchesterfreiheit, das heißt der Näuber-
freiheit, konnte der Kapitalismus die Herrschaft erringen. Der Nordamerikaner
hat natürlich auch das Ig-isss? tair" auf seine Fahne geschrieben, aber, meint
Sombart, doktrinär ist er in dieser Beziehung so wenig wie in irgendeiner
ändern. Nein wirklich nicht! Zwar daß er im Hochschutzzoll mit Nußland
wetteifert, muß noch nicht als eine Preisgebung des Grundsatzes angesehen
werden; eine große Nation kann die Verkehrsfreiheit im Innern wahren,
während sie sich vor Eingriffen des Auslands schützt. Aber eben im Innern
würde, wenn es den Gesetzen, die meist bloß auf dem Papier stehn, und dem
Willen des Volks nachginge, von dieser Freiheit so gut wie nichts übrig
bleiben. Dr.^ur. E.Herr legt das dar in dem (bei Gustav Fischer in Jena
1906 erschienenen) Buche: Der Zusammenbruch der Wirtschaftsfrciheit
und der Sieg des Staatssozialismus in den Vereinigten Staaten
von Amerika. Der Verfasser beschreibt den großen Wandel im Versicherungs¬
wesen, im Bankwesen, im Verkehr mit Nahrungs- und Genußmitteln, im


Kapital und Arbeit in den vereinigten Staaten

dieses Triebes hat das Menschengeschlecht den größten Teil der Erdoberfläche
besiedelt und kultiviert, sind unsre Vorfahren aus dem dichtbevölkerten Westen
unsers Vaterlands ostwärts vorgedrungen, haben sie das ostelbische Deutsch¬
land und das Deutschland an der mittlern Donau geschaffen; und dieser
natürliche Trieb ist wirksam geblieben bis in die sechziger Jahre des neun¬
zehnten Jahrhunderts, wo noch viele mittlere und größere deutsche Landwirte
Grundbesitz in den Slawenländern erworben haben. Wäre dieser Trieb auch
weiter wirksam geblieben, so würden die Deutschen, bloß durch ihren rationellen
Betrieb und ihre wirtschaftliche Überlegenheit, die Slawen aus ihrem Besitz
hinausarbeiten, ohne Lärm, ohne Entflammung des beiderseitigen nationalen
Fanatismus, ohne Aufwendungen des Staates. Seitdem der Naturtrieb in
jenen modernen verkehrt worden ist, hat diese natürliche Entwicklung ihr Ende
genommen, und wenn die Volksseele keine Wandlung im Sinne der „Rück-
ständigen" erfährt, so wird keine politische Kunst die Natur zu ersetzen ver¬
mögen. Will die Regierung Ansiedler an einen Ort ziehen, so muß sie dort
Gold und Diamanten eingraben und statt der Kirchen und Schulen Theater
und Tingeltangel bauen. Heut sind die Romanen, namentlich die Italiener,
die unter anderen Argentinien bevölkern, und die Slawen noch die einzigen
Menschen unsers Kulturkreises, die an ihrer Scholle kleben, und die Land¬
hunger verspüre»?. Entwurzelt man die vollends, so bleibt überall in der
Welt nur noch der plantagenmäßige Betrieb der Landwirtschaft übrig, und
es wird dann unter anderen die Frage entstehn, ob die Flache der dafür ge¬
eigneten Länder für den Nahrungsmittelbedarf der Menschheit hinreichen wird.
Um das Fleisch steht es jetzt schon schlimm. In Wien ist es noch teurer als
bei uns, und den amerikanischen Viehbestand verwüstet die rücksichtslose
kapitalistische Wirtschaft. Aus dem verhungernden Rußland ist natürlich erst
recht nichts zu holen.

Nur unter dem Schutze der Manchesterfreiheit, das heißt der Näuber-
freiheit, konnte der Kapitalismus die Herrschaft erringen. Der Nordamerikaner
hat natürlich auch das Ig-isss? tair« auf seine Fahne geschrieben, aber, meint
Sombart, doktrinär ist er in dieser Beziehung so wenig wie in irgendeiner
ändern. Nein wirklich nicht! Zwar daß er im Hochschutzzoll mit Nußland
wetteifert, muß noch nicht als eine Preisgebung des Grundsatzes angesehen
werden; eine große Nation kann die Verkehrsfreiheit im Innern wahren,
während sie sich vor Eingriffen des Auslands schützt. Aber eben im Innern
würde, wenn es den Gesetzen, die meist bloß auf dem Papier stehn, und dem
Willen des Volks nachginge, von dieser Freiheit so gut wie nichts übrig
bleiben. Dr.^ur. E.Herr legt das dar in dem (bei Gustav Fischer in Jena
1906 erschienenen) Buche: Der Zusammenbruch der Wirtschaftsfrciheit
und der Sieg des Staatssozialismus in den Vereinigten Staaten
von Amerika. Der Verfasser beschreibt den großen Wandel im Versicherungs¬
wesen, im Bankwesen, im Verkehr mit Nahrungs- und Genußmitteln, im


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[0474] Kapital und Arbeit in den vereinigten Staaten dieses Triebes hat das Menschengeschlecht den größten Teil der Erdoberfläche besiedelt und kultiviert, sind unsre Vorfahren aus dem dichtbevölkerten Westen unsers Vaterlands ostwärts vorgedrungen, haben sie das ostelbische Deutsch¬ land und das Deutschland an der mittlern Donau geschaffen; und dieser natürliche Trieb ist wirksam geblieben bis in die sechziger Jahre des neun¬ zehnten Jahrhunderts, wo noch viele mittlere und größere deutsche Landwirte Grundbesitz in den Slawenländern erworben haben. Wäre dieser Trieb auch weiter wirksam geblieben, so würden die Deutschen, bloß durch ihren rationellen Betrieb und ihre wirtschaftliche Überlegenheit, die Slawen aus ihrem Besitz hinausarbeiten, ohne Lärm, ohne Entflammung des beiderseitigen nationalen Fanatismus, ohne Aufwendungen des Staates. Seitdem der Naturtrieb in jenen modernen verkehrt worden ist, hat diese natürliche Entwicklung ihr Ende genommen, und wenn die Volksseele keine Wandlung im Sinne der „Rück- ständigen" erfährt, so wird keine politische Kunst die Natur zu ersetzen ver¬ mögen. Will die Regierung Ansiedler an einen Ort ziehen, so muß sie dort Gold und Diamanten eingraben und statt der Kirchen und Schulen Theater und Tingeltangel bauen. Heut sind die Romanen, namentlich die Italiener, die unter anderen Argentinien bevölkern, und die Slawen noch die einzigen Menschen unsers Kulturkreises, die an ihrer Scholle kleben, und die Land¬ hunger verspüre»?. Entwurzelt man die vollends, so bleibt überall in der Welt nur noch der plantagenmäßige Betrieb der Landwirtschaft übrig, und es wird dann unter anderen die Frage entstehn, ob die Flache der dafür ge¬ eigneten Länder für den Nahrungsmittelbedarf der Menschheit hinreichen wird. Um das Fleisch steht es jetzt schon schlimm. In Wien ist es noch teurer als bei uns, und den amerikanischen Viehbestand verwüstet die rücksichtslose kapitalistische Wirtschaft. Aus dem verhungernden Rußland ist natürlich erst recht nichts zu holen. Nur unter dem Schutze der Manchesterfreiheit, das heißt der Näuber- freiheit, konnte der Kapitalismus die Herrschaft erringen. Der Nordamerikaner hat natürlich auch das Ig-isss? tair« auf seine Fahne geschrieben, aber, meint Sombart, doktrinär ist er in dieser Beziehung so wenig wie in irgendeiner ändern. Nein wirklich nicht! Zwar daß er im Hochschutzzoll mit Nußland wetteifert, muß noch nicht als eine Preisgebung des Grundsatzes angesehen werden; eine große Nation kann die Verkehrsfreiheit im Innern wahren, während sie sich vor Eingriffen des Auslands schützt. Aber eben im Innern würde, wenn es den Gesetzen, die meist bloß auf dem Papier stehn, und dem Willen des Volks nachginge, von dieser Freiheit so gut wie nichts übrig bleiben. Dr.^ur. E.Herr legt das dar in dem (bei Gustav Fischer in Jena 1906 erschienenen) Buche: Der Zusammenbruch der Wirtschaftsfrciheit und der Sieg des Staatssozialismus in den Vereinigten Staaten von Amerika. Der Verfasser beschreibt den großen Wandel im Versicherungs¬ wesen, im Bankwesen, im Verkehr mit Nahrungs- und Genußmitteln, im

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 66, 1907, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341885_301253/474>, abgerufen am 02.07.2024.