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Die Grenzboten. Jg. 66, 1907, Erstes Vierteljahr.

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Kapital und Arbeit in den vereinigten Staaten

Eisenbahnwesen, im Wasserverkehr, in der Nachrichtenübermittlung, in der
Gewerbe- und Arbeitergesetzgebung, in der Kommunalpolitik und belegt seine
Darstellung mit dem erforderlichen statistischen und urkundlichen Material.
Was den Verkehr dieses kolossalen "Hortes der Freiheit" mit dem Auslande
betrifft, so charakterisieren ihn hinlänglich die zwei Bemerkungen, daß das
amerikanische Volk "die nur in Rußland vielleicht ihresgleichen sindenden un¬
glaublichen Zollplackereien an seinen Grenzen mit erstaunlichem Gleichmut"
ertrüge, und daß man zur Verschärfung des Einwanderungsgesetzes drängt,
das jetzt schon grausam wirkt, "uneingedenk des Umstandes, daß die Ver¬
einigten Staaten durch die Einwanderung groß geworden sind". Es erfüllt
sich eben an ihnen die Prophezeiung Hegels, der richtig gesagt hat, die
amerikanische Freiheit erkläre sich daraus, daß wenig Leute in einem großen
Lande einander nicht hindern und darum gar keinen Staat brauchen. Wachse
und verdichte sich dereinst die Bevölkerung, dann werde der Staat, werde
eine die Freiheit einschränkende Zwangsorganisation notwendig werden. Vor
dritthalb Jahren haben wir geschrieben: "Nur in der Bewegungsfreiheit und
in der Fülle natürlicher Güter, die das weite und reiche Nordamerika seineu
in der Mitte des vorigen Jahrhunderts noch spärlichen Bewohner bot, konnte
die lebens- und genußfreudige, durch ihren wilden animalischen Charakter den
noch in puritanischen Traditionen befangnen Sinn des Bruder Joncithnn be¬
leidigende Poesie Walt Whitmnns entstehn." Diese zu unserm Thema passende
Bemerkung mag es entschuldigen, daß wir an dieser Stelle ein sonst wenig
hierher passendes Buch ästhetischen Inhalts anzeigen: Der Jankee-Heiland.
Ein Beitrag zur modernen Religionsgeschichte von Eduard Bertz. (Dresden,
Carl Meißner, 1906.) Der Dichter der Grashalme ist nach seinem 1892 er¬
folgten Tode von amerikanischen wie von deutschen Phantasten als der
Repräsentant seines Volkes und als der Bringer der neuen "wissenschaftlichen"
Religion gepriesen worden, als der er sich selbst mit naiver Frechheit und
unverschämter Reklame dem Publikum empfohlen hatte. Wir teilen den
Standpunkt des Eduard Bertz uicht, der sich zum Monismus haeckelscher Art
bekennt, empfehlen aber sein Buch, das den neuen Religionsstifter gut
charakterisiert und vor seinen Verführungskünsten kräftig warnt.


Carl Ientsch


Kapital und Arbeit in den vereinigten Staaten

Eisenbahnwesen, im Wasserverkehr, in der Nachrichtenübermittlung, in der
Gewerbe- und Arbeitergesetzgebung, in der Kommunalpolitik und belegt seine
Darstellung mit dem erforderlichen statistischen und urkundlichen Material.
Was den Verkehr dieses kolossalen „Hortes der Freiheit" mit dem Auslande
betrifft, so charakterisieren ihn hinlänglich die zwei Bemerkungen, daß das
amerikanische Volk „die nur in Rußland vielleicht ihresgleichen sindenden un¬
glaublichen Zollplackereien an seinen Grenzen mit erstaunlichem Gleichmut"
ertrüge, und daß man zur Verschärfung des Einwanderungsgesetzes drängt,
das jetzt schon grausam wirkt, „uneingedenk des Umstandes, daß die Ver¬
einigten Staaten durch die Einwanderung groß geworden sind". Es erfüllt
sich eben an ihnen die Prophezeiung Hegels, der richtig gesagt hat, die
amerikanische Freiheit erkläre sich daraus, daß wenig Leute in einem großen
Lande einander nicht hindern und darum gar keinen Staat brauchen. Wachse
und verdichte sich dereinst die Bevölkerung, dann werde der Staat, werde
eine die Freiheit einschränkende Zwangsorganisation notwendig werden. Vor
dritthalb Jahren haben wir geschrieben: „Nur in der Bewegungsfreiheit und
in der Fülle natürlicher Güter, die das weite und reiche Nordamerika seineu
in der Mitte des vorigen Jahrhunderts noch spärlichen Bewohner bot, konnte
die lebens- und genußfreudige, durch ihren wilden animalischen Charakter den
noch in puritanischen Traditionen befangnen Sinn des Bruder Joncithnn be¬
leidigende Poesie Walt Whitmnns entstehn." Diese zu unserm Thema passende
Bemerkung mag es entschuldigen, daß wir an dieser Stelle ein sonst wenig
hierher passendes Buch ästhetischen Inhalts anzeigen: Der Jankee-Heiland.
Ein Beitrag zur modernen Religionsgeschichte von Eduard Bertz. (Dresden,
Carl Meißner, 1906.) Der Dichter der Grashalme ist nach seinem 1892 er¬
folgten Tode von amerikanischen wie von deutschen Phantasten als der
Repräsentant seines Volkes und als der Bringer der neuen „wissenschaftlichen"
Religion gepriesen worden, als der er sich selbst mit naiver Frechheit und
unverschämter Reklame dem Publikum empfohlen hatte. Wir teilen den
Standpunkt des Eduard Bertz uicht, der sich zum Monismus haeckelscher Art
bekennt, empfehlen aber sein Buch, das den neuen Religionsstifter gut
charakterisiert und vor seinen Verführungskünsten kräftig warnt.


Carl Ientsch


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[0475] Kapital und Arbeit in den vereinigten Staaten Eisenbahnwesen, im Wasserverkehr, in der Nachrichtenübermittlung, in der Gewerbe- und Arbeitergesetzgebung, in der Kommunalpolitik und belegt seine Darstellung mit dem erforderlichen statistischen und urkundlichen Material. Was den Verkehr dieses kolossalen „Hortes der Freiheit" mit dem Auslande betrifft, so charakterisieren ihn hinlänglich die zwei Bemerkungen, daß das amerikanische Volk „die nur in Rußland vielleicht ihresgleichen sindenden un¬ glaublichen Zollplackereien an seinen Grenzen mit erstaunlichem Gleichmut" ertrüge, und daß man zur Verschärfung des Einwanderungsgesetzes drängt, das jetzt schon grausam wirkt, „uneingedenk des Umstandes, daß die Ver¬ einigten Staaten durch die Einwanderung groß geworden sind". Es erfüllt sich eben an ihnen die Prophezeiung Hegels, der richtig gesagt hat, die amerikanische Freiheit erkläre sich daraus, daß wenig Leute in einem großen Lande einander nicht hindern und darum gar keinen Staat brauchen. Wachse und verdichte sich dereinst die Bevölkerung, dann werde der Staat, werde eine die Freiheit einschränkende Zwangsorganisation notwendig werden. Vor dritthalb Jahren haben wir geschrieben: „Nur in der Bewegungsfreiheit und in der Fülle natürlicher Güter, die das weite und reiche Nordamerika seineu in der Mitte des vorigen Jahrhunderts noch spärlichen Bewohner bot, konnte die lebens- und genußfreudige, durch ihren wilden animalischen Charakter den noch in puritanischen Traditionen befangnen Sinn des Bruder Joncithnn be¬ leidigende Poesie Walt Whitmnns entstehn." Diese zu unserm Thema passende Bemerkung mag es entschuldigen, daß wir an dieser Stelle ein sonst wenig hierher passendes Buch ästhetischen Inhalts anzeigen: Der Jankee-Heiland. Ein Beitrag zur modernen Religionsgeschichte von Eduard Bertz. (Dresden, Carl Meißner, 1906.) Der Dichter der Grashalme ist nach seinem 1892 er¬ folgten Tode von amerikanischen wie von deutschen Phantasten als der Repräsentant seines Volkes und als der Bringer der neuen „wissenschaftlichen" Religion gepriesen worden, als der er sich selbst mit naiver Frechheit und unverschämter Reklame dem Publikum empfohlen hatte. Wir teilen den Standpunkt des Eduard Bertz uicht, der sich zum Monismus haeckelscher Art bekennt, empfehlen aber sein Buch, das den neuen Religionsstifter gut charakterisiert und vor seinen Verführungskünsten kräftig warnt. Carl Ientsch

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 66, 1907, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341885_301253/475>, abgerufen am 30.06.2024.