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Die Grenzboten. Jg. 66, 1907, Erstes Vierteljahr.

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Kapital und Arbeit in den vereinigten Staaten

Schuhwichse. Erwischt ihn dabei der Pleitegeier, so macht er es wie der
amerikanische Goldonkel in einem Roman von Zobeltitz, er verarbeitet den
Rest seiner Schuhwichse zu Universalpillen, die ihm das immer magenleidende
Publikum unsers aufgeklärten Zeitalters mit tausend Prozent über die Her¬
stellungskosten bezahlt. Und da rascher Geldgewinn nur im dichtesten Haufen
möglich ist -- weit übers Land verstreute Schafe scheren wäre ein lang¬
wieriges Geschäft --, so gewöhnt man sich an das Zusammenleben mit
Menschenmassen, und die Gewohnheit wird Bedürfnis. Dieses Bedürfnis zu¬
sammen mit dem rücksichtslosen Streben nach Geldgewinn, mit der Schätzung
aller Dinge nach ihrem Tausch- und Kaufwert, mit dem Ersatz der Arsstuess
durch die diAnes8, der Qualität durch die Quantität, und mit den für Geld
käuflichen Modeeitelkeiten und Modevergnügungen macht das aus, was man
den modernen Geist nennt. Der moderne Mensch will mit einer Herde
arbeiten, sich mit einer Herde vergnügen und als Hammel einer Herde die
Politik seines Vaterlands machen. Er will su masse den neusten witzlosen
Simplicissimuswitz belachen, den neusten Gassenhauer brüllen, die Beine der
neusten Tingeltangelsängerin bewundern, in der mit Tabakqualm, Alkohol¬
dunst und animalischer Kohlensäure vergifteten Lust des größten Lokals den
neusten Volksredner hören, der die hundert Jahre alten Parteiphrasen mit
einigen neuen Personennamen und Ereignissen ausputzt; er will jeden Morgen
zum Frühstück einen Sack voll Sensationen genießen, und wenn er ausgeht,
einen Rummel um sich haben. Und sogar der edlere Geist des Gebildeten
ist vom Quantitätswahn angesteckt. In einem entlegnen Dorfe ein gemüt¬
liches Heim bewohnen, im stillen und unbekannt eine segensreiche Wirksamkeit
in einem engbegrenzten Kreise üben und sich im übrigen an seiner Familie,
an seinem Klavier, an einem guten Buche und einem täglichen Spaziergang,
hier und da einer Unterhaltung mit einem verständigen Nachbar genügen
lassen, das mag er nicht, das verträgt er nicht. Er will ein lebendiges
Mutoskop, beständig wechselnde Bilder um sich haben, Anregungen, wie er es
nennt, indem er damit die Armut seines Innern offenbart, aus dem nicht
genug eigne Vorstellungen quellen, ihn seelisch am Leben zu erhalten.

Dieser Zustand hat ein eigentümliches aktuelles Interesse für die preußische
Politik. Diese macht die unerhörtesten Anstrengungen, die polnischen Landes¬
teile mit deutschen Ansiedlern zu bevölkern. Es ist hier nicht zu erörtern,
ob die Gründe der äußern Politik, die zu diesen Anstrengungen treiben, stich¬
haltig sind, sondern nur darauf hinzuweisen, daß wir soeben den Grund auf¬
gedeckt haben, warum überhaupt Anstrengungen notwendig sind, und warum
sie mit Aufwendung von noch so vielen Hundertmillionenfonds keinen durch¬
schlagenden Erfolg haben können. Der Naturtrieb führt den Menschen aus
den dichtbewohntcn in die dünnbevölkerten oder wüsten Gegenden der Erde,
zur allmählichen Beherrschung und Benutzung der ganzen Erdoberflüche und
zur persönlichen Aneignung eines Stückchens dieser Fläche. Unter der Leitung


Grenzboten I 1907 61
Kapital und Arbeit in den vereinigten Staaten

Schuhwichse. Erwischt ihn dabei der Pleitegeier, so macht er es wie der
amerikanische Goldonkel in einem Roman von Zobeltitz, er verarbeitet den
Rest seiner Schuhwichse zu Universalpillen, die ihm das immer magenleidende
Publikum unsers aufgeklärten Zeitalters mit tausend Prozent über die Her¬
stellungskosten bezahlt. Und da rascher Geldgewinn nur im dichtesten Haufen
möglich ist — weit übers Land verstreute Schafe scheren wäre ein lang¬
wieriges Geschäft —, so gewöhnt man sich an das Zusammenleben mit
Menschenmassen, und die Gewohnheit wird Bedürfnis. Dieses Bedürfnis zu¬
sammen mit dem rücksichtslosen Streben nach Geldgewinn, mit der Schätzung
aller Dinge nach ihrem Tausch- und Kaufwert, mit dem Ersatz der Arsstuess
durch die diAnes8, der Qualität durch die Quantität, und mit den für Geld
käuflichen Modeeitelkeiten und Modevergnügungen macht das aus, was man
den modernen Geist nennt. Der moderne Mensch will mit einer Herde
arbeiten, sich mit einer Herde vergnügen und als Hammel einer Herde die
Politik seines Vaterlands machen. Er will su masse den neusten witzlosen
Simplicissimuswitz belachen, den neusten Gassenhauer brüllen, die Beine der
neusten Tingeltangelsängerin bewundern, in der mit Tabakqualm, Alkohol¬
dunst und animalischer Kohlensäure vergifteten Lust des größten Lokals den
neusten Volksredner hören, der die hundert Jahre alten Parteiphrasen mit
einigen neuen Personennamen und Ereignissen ausputzt; er will jeden Morgen
zum Frühstück einen Sack voll Sensationen genießen, und wenn er ausgeht,
einen Rummel um sich haben. Und sogar der edlere Geist des Gebildeten
ist vom Quantitätswahn angesteckt. In einem entlegnen Dorfe ein gemüt¬
liches Heim bewohnen, im stillen und unbekannt eine segensreiche Wirksamkeit
in einem engbegrenzten Kreise üben und sich im übrigen an seiner Familie,
an seinem Klavier, an einem guten Buche und einem täglichen Spaziergang,
hier und da einer Unterhaltung mit einem verständigen Nachbar genügen
lassen, das mag er nicht, das verträgt er nicht. Er will ein lebendiges
Mutoskop, beständig wechselnde Bilder um sich haben, Anregungen, wie er es
nennt, indem er damit die Armut seines Innern offenbart, aus dem nicht
genug eigne Vorstellungen quellen, ihn seelisch am Leben zu erhalten.

Dieser Zustand hat ein eigentümliches aktuelles Interesse für die preußische
Politik. Diese macht die unerhörtesten Anstrengungen, die polnischen Landes¬
teile mit deutschen Ansiedlern zu bevölkern. Es ist hier nicht zu erörtern,
ob die Gründe der äußern Politik, die zu diesen Anstrengungen treiben, stich¬
haltig sind, sondern nur darauf hinzuweisen, daß wir soeben den Grund auf¬
gedeckt haben, warum überhaupt Anstrengungen notwendig sind, und warum
sie mit Aufwendung von noch so vielen Hundertmillionenfonds keinen durch¬
schlagenden Erfolg haben können. Der Naturtrieb führt den Menschen aus
den dichtbewohntcn in die dünnbevölkerten oder wüsten Gegenden der Erde,
zur allmählichen Beherrschung und Benutzung der ganzen Erdoberflüche und
zur persönlichen Aneignung eines Stückchens dieser Fläche. Unter der Leitung


Grenzboten I 1907 61
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[0473] Kapital und Arbeit in den vereinigten Staaten Schuhwichse. Erwischt ihn dabei der Pleitegeier, so macht er es wie der amerikanische Goldonkel in einem Roman von Zobeltitz, er verarbeitet den Rest seiner Schuhwichse zu Universalpillen, die ihm das immer magenleidende Publikum unsers aufgeklärten Zeitalters mit tausend Prozent über die Her¬ stellungskosten bezahlt. Und da rascher Geldgewinn nur im dichtesten Haufen möglich ist — weit übers Land verstreute Schafe scheren wäre ein lang¬ wieriges Geschäft —, so gewöhnt man sich an das Zusammenleben mit Menschenmassen, und die Gewohnheit wird Bedürfnis. Dieses Bedürfnis zu¬ sammen mit dem rücksichtslosen Streben nach Geldgewinn, mit der Schätzung aller Dinge nach ihrem Tausch- und Kaufwert, mit dem Ersatz der Arsstuess durch die diAnes8, der Qualität durch die Quantität, und mit den für Geld käuflichen Modeeitelkeiten und Modevergnügungen macht das aus, was man den modernen Geist nennt. Der moderne Mensch will mit einer Herde arbeiten, sich mit einer Herde vergnügen und als Hammel einer Herde die Politik seines Vaterlands machen. Er will su masse den neusten witzlosen Simplicissimuswitz belachen, den neusten Gassenhauer brüllen, die Beine der neusten Tingeltangelsängerin bewundern, in der mit Tabakqualm, Alkohol¬ dunst und animalischer Kohlensäure vergifteten Lust des größten Lokals den neusten Volksredner hören, der die hundert Jahre alten Parteiphrasen mit einigen neuen Personennamen und Ereignissen ausputzt; er will jeden Morgen zum Frühstück einen Sack voll Sensationen genießen, und wenn er ausgeht, einen Rummel um sich haben. Und sogar der edlere Geist des Gebildeten ist vom Quantitätswahn angesteckt. In einem entlegnen Dorfe ein gemüt¬ liches Heim bewohnen, im stillen und unbekannt eine segensreiche Wirksamkeit in einem engbegrenzten Kreise üben und sich im übrigen an seiner Familie, an seinem Klavier, an einem guten Buche und einem täglichen Spaziergang, hier und da einer Unterhaltung mit einem verständigen Nachbar genügen lassen, das mag er nicht, das verträgt er nicht. Er will ein lebendiges Mutoskop, beständig wechselnde Bilder um sich haben, Anregungen, wie er es nennt, indem er damit die Armut seines Innern offenbart, aus dem nicht genug eigne Vorstellungen quellen, ihn seelisch am Leben zu erhalten. Dieser Zustand hat ein eigentümliches aktuelles Interesse für die preußische Politik. Diese macht die unerhörtesten Anstrengungen, die polnischen Landes¬ teile mit deutschen Ansiedlern zu bevölkern. Es ist hier nicht zu erörtern, ob die Gründe der äußern Politik, die zu diesen Anstrengungen treiben, stich¬ haltig sind, sondern nur darauf hinzuweisen, daß wir soeben den Grund auf¬ gedeckt haben, warum überhaupt Anstrengungen notwendig sind, und warum sie mit Aufwendung von noch so vielen Hundertmillionenfonds keinen durch¬ schlagenden Erfolg haben können. Der Naturtrieb führt den Menschen aus den dichtbewohntcn in die dünnbevölkerten oder wüsten Gegenden der Erde, zur allmählichen Beherrschung und Benutzung der ganzen Erdoberflüche und zur persönlichen Aneignung eines Stückchens dieser Fläche. Unter der Leitung Grenzboten I 1907 61

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 66, 1907, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341885_301253/473>, abgerufen am 04.07.2024.