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Die Grenzboten. Jg. 66, 1907, Erstes Vierteljahr.

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einer Änderung der Reichsverfassung, durch Beseitigung des für ihn unfrucht¬
baren Bodens der Allgemeinheit der Bolkswahl, Die Fürsten sollten einen
neuen Bund schließen, der diese Allgemeinheit beschränkte, das heißt als solche
aufhob, irgendwie -- die praktischen Einzelheiten sind gegenüber dem Gedanken
selbst nicht mehr von Bedeutung.

Delbrück sagt in seiner zweiten Abhandlung über diese Frage*), in Hinblick
ans die Angriffe, die er zum Danke für seine Entdeckung erfuhr: das Schreck¬
lichste bei dem Suchen nach der Wahrheit sei, wenn man sie gefunden habe.
In noch viel ernsteren Sinne gilt das Wort für uns alle. Das ist vielleicht
auch im Allgenblicke der innere Grund des heftigen Widerspruchs des größer"
Teils der deutschen Presse gegen Delbrücks Entdeckung gewesen. Mögen
die Redaktionen wissen oder nicht wissen, zunächst war es eine im Sinne und
im Interesse der Leser ganz natürliche instinktive Abwehr gegen eine Vorstellung,
die man nicht haben wollte. Denn wenn auch die Wahrheit nie zu teuer er¬
kauft wird, diese Wahrheit hier scheint doch sehr teuer zu sei". Es werden
nicht viele mit Delbrücks Freund übereinstimmen, daß der von Bismarck ge¬
plante Staatsstreich unsre "Rettung" gewesen wäre. Die meisten werden doch
wohl init Delbrück in diesem Staatsstreich ein arges Wagnis sehen. Ein fast
wahnwitziges Unterfangen entwickelt sich vor unsers Geistes Auge, ein Ver¬
brechen an dem Volke, das gerade dieser Bismarck erst groß gemacht hatte;
und das könnte für die an Bismarck sich anklammernde Erinnerung, für das
Empfinden des Volkes einen herben innern Verlust bedeuten. Da wird wohl
nichts weiter übrig bleiben, als sich einmal über den Kaufpreis dieser neuen
Wahrheit in Ruhe klar zu werden.

Die erste Frage, die sich hier aufdrängt, möchte man fast derb in die
Form fassen, ist es denkbar, daß Bismarck so töricht war? Hat wirklich dieser
Manu, den wir wie eine persönliche Verkörperung des deutschen Volkes ver¬
ehrten, von der Seele dieses Volkes so wenig gewußt, daß er ernstlich glaubte,
das neue Deutsche Reich mir als einen Fürstenvertrag behandeln zu können?
Bei aller Ehrfurcht vor dem staatsrechtlichen Gutachten eines Justizministers--
diese Auffassung scheint denn doch über die Grenzen des Normalen hinauszugehn-
In der Erfüllung der jahrhundertelangen Sehnsucht der deutschen Stämme nach
einem einheitlichen nationalen Zusammenschlüsse sollte das, was nur die not¬
wendige Form der Vereinigung gewesen war, auf einmal das Wesen aus-
machen? Und das sollte gerade der Mann geglaubt haben, der den ganzen
Werdegang dieser Vereinigung nicht uur miterlebt, nein: in eigner Person ge¬
leitet hatte? Mau glaubt vor einem Rätsel zu steh". Dem oberflächlichen
Blicke könnte vielleicht eine Lösung in der Richtung möglich scheinen, daß es
sich ja nnr um eine Form, uur ein staatsrechtliches Mittel gehandelt habe.




") a. n. O. S. 5M.
a. n. O. S. Si2, 513.

einer Änderung der Reichsverfassung, durch Beseitigung des für ihn unfrucht¬
baren Bodens der Allgemeinheit der Bolkswahl, Die Fürsten sollten einen
neuen Bund schließen, der diese Allgemeinheit beschränkte, das heißt als solche
aufhob, irgendwie — die praktischen Einzelheiten sind gegenüber dem Gedanken
selbst nicht mehr von Bedeutung.

Delbrück sagt in seiner zweiten Abhandlung über diese Frage*), in Hinblick
ans die Angriffe, die er zum Danke für seine Entdeckung erfuhr: das Schreck¬
lichste bei dem Suchen nach der Wahrheit sei, wenn man sie gefunden habe.
In noch viel ernsteren Sinne gilt das Wort für uns alle. Das ist vielleicht
auch im Allgenblicke der innere Grund des heftigen Widerspruchs des größer»
Teils der deutschen Presse gegen Delbrücks Entdeckung gewesen. Mögen
die Redaktionen wissen oder nicht wissen, zunächst war es eine im Sinne und
im Interesse der Leser ganz natürliche instinktive Abwehr gegen eine Vorstellung,
die man nicht haben wollte. Denn wenn auch die Wahrheit nie zu teuer er¬
kauft wird, diese Wahrheit hier scheint doch sehr teuer zu sei». Es werden
nicht viele mit Delbrücks Freund übereinstimmen, daß der von Bismarck ge¬
plante Staatsstreich unsre „Rettung" gewesen wäre. Die meisten werden doch
wohl init Delbrück in diesem Staatsstreich ein arges Wagnis sehen. Ein fast
wahnwitziges Unterfangen entwickelt sich vor unsers Geistes Auge, ein Ver¬
brechen an dem Volke, das gerade dieser Bismarck erst groß gemacht hatte;
und das könnte für die an Bismarck sich anklammernde Erinnerung, für das
Empfinden des Volkes einen herben innern Verlust bedeuten. Da wird wohl
nichts weiter übrig bleiben, als sich einmal über den Kaufpreis dieser neuen
Wahrheit in Ruhe klar zu werden.

Die erste Frage, die sich hier aufdrängt, möchte man fast derb in die
Form fassen, ist es denkbar, daß Bismarck so töricht war? Hat wirklich dieser
Manu, den wir wie eine persönliche Verkörperung des deutschen Volkes ver¬
ehrten, von der Seele dieses Volkes so wenig gewußt, daß er ernstlich glaubte,
das neue Deutsche Reich mir als einen Fürstenvertrag behandeln zu können?
Bei aller Ehrfurcht vor dem staatsrechtlichen Gutachten eines Justizministers—
diese Auffassung scheint denn doch über die Grenzen des Normalen hinauszugehn-
In der Erfüllung der jahrhundertelangen Sehnsucht der deutschen Stämme nach
einem einheitlichen nationalen Zusammenschlüsse sollte das, was nur die not¬
wendige Form der Vereinigung gewesen war, auf einmal das Wesen aus-
machen? Und das sollte gerade der Mann geglaubt haben, der den ganzen
Werdegang dieser Vereinigung nicht uur miterlebt, nein: in eigner Person ge¬
leitet hatte? Mau glaubt vor einem Rätsel zu steh». Dem oberflächlichen
Blicke könnte vielleicht eine Lösung in der Richtung möglich scheinen, daß es
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») a. n. O. S. 5M.
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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 66, 1907, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341885_301253/451>, abgerufen am 04.07.2024.