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Die Grenzboten. Jg. 66, 1907, Erstes Vierteljahr.

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Katholische Belletristik und Publizistik

Teil vielleicht i" der Stoffwahl." Daß spezifisch katholische Stoffe der Auf¬
nahme eines Buches auch in nichtkatholischen Leserkreisen an sich nicht hinderlich
seien, beweise der Roman Colomas, dessen deutsche Ausgabe rasch hinterein¬
ander sechs Auflagen erlebt habe.

Die dritte Ursache sei die schon beschriebne Engherzigkeit, die alle Literatur
ausschließlich nach pädagogischen Rücksichten beurteile. "Nehmen wir speziell
den Roman, der, wie Goethe sagt, das wahre Leben sein soll, nur folgerecht,
was dein Leben abgeht. Wie kann man das Leben in diesem Sinne darstellen,
ohne dabei dem Erzieher in die Quere zu kommen?" Der Roman sei nun
einmal kein Erziehungsmittel. Goethe sage ganz richtig: "erziehen heißt, die
Jugend an die Bedingungen gewöhnen, unter denen sie in einem gewissen
Kreise existieren kann. Der Roman dagegen stellt die Leidenschaft dar, die
aus der Gesellschaft hinaus in den Tod treibt, und er stellt dieses grenzenlose
Streben als das Jnteressanteste dar." Der Roman habe ernste Konflikte, auch
zum Beispiel Ehekonflikte, zu behandeln, und da die ernstesten Konflikte aus
der Sünde entspringen, so sei auch deren Darstellung nicht zu umgehn. Selbst¬
verständlich sündigen auch Priester, und es sei kein Grund vorhanden, warum
nicht auch sündige Priester sollten dargestellt werden. "Daß jedoch die Kritik
nicht jedem Nomanfabrikanten die Karikierung von Priestern und Ordensleuten
nachsehen kann, wie sie von gewissen protestantischen und jüdischen Schrift¬
stellern und Blaustrümpfen betrieben wird, braucht wohl nicht besonders her¬
vorgehoben zu werden." Am auffülligsten macht sich die Engherzigkeit in der
Form der Prüderie bemerkbar. Prüderie, schreibt Veremundns, "ist eine Zeit¬
krankheit, die in Perioden moralischen Niedergangs als eine über das Ziel
hinausschießende Reaktion gegen sittliche Entartung und Schamlosigkeit auftritt.
Sie ist nervös gewordne, also kränkelnde Sittlichkeit." Und gerade die an
dieser Krankheit leidenden Leute seien es, die sich, statt sich zu schämen und
zu verbergen, am allerlautesten breit machen, sich mit ihrer defekten Sittlichkeit
zu Richtern der Zeit aufwerfen. "Sie beschuldigen ein Werk versteckter Lüstern¬
heit, das nur Formschönes, sinnlich Schönes darstellt. Auch das sinnlich
Schöne ist vom Schöpfer dem Geschöpfe zur Frende geschaffen, und gerade der
Künstler bedarf seiner zur Darstellung der höchsten Ideen. Nur muß er die
Sinnlichkeit beherrschen, nicht die Sinnlichkeit ihn." Und als Erziehungs¬
grundsatz bewähre sich die Prüderie schlecht. "Man muß es leider nur zu oft
erleben, wie wenig eine mit bloßen Prohibitionsmaßregeln bewahrte Unschuld
stand zu halten vermag, wenn erst einmal die unvermeidlichen Versuchungen
an sie herantreten. Ich kenne eine beträchtliche Anzahl sehr prüd erzogner
Menschenkinder, die, kaum aus der Haft ihrer Erziehungsanstalt entlassen, dein
ersten Ansturm zum Opfer fielen." Als abschreckendes Beispiel geradezu kin¬
discher Prüderie wird eine Stelle aus einer katholischen Broschüre zitiert und
dieser eine Betrachtung des katholischen Dichters Eichendorff gegenübergestellt,
der als Feinde der Poesie den kirchlichen Rigorismus katholischer Mornllehrer


Katholische Belletristik und Publizistik

Teil vielleicht i» der Stoffwahl." Daß spezifisch katholische Stoffe der Auf¬
nahme eines Buches auch in nichtkatholischen Leserkreisen an sich nicht hinderlich
seien, beweise der Roman Colomas, dessen deutsche Ausgabe rasch hinterein¬
ander sechs Auflagen erlebt habe.

Die dritte Ursache sei die schon beschriebne Engherzigkeit, die alle Literatur
ausschließlich nach pädagogischen Rücksichten beurteile. „Nehmen wir speziell
den Roman, der, wie Goethe sagt, das wahre Leben sein soll, nur folgerecht,
was dein Leben abgeht. Wie kann man das Leben in diesem Sinne darstellen,
ohne dabei dem Erzieher in die Quere zu kommen?" Der Roman sei nun
einmal kein Erziehungsmittel. Goethe sage ganz richtig: „erziehen heißt, die
Jugend an die Bedingungen gewöhnen, unter denen sie in einem gewissen
Kreise existieren kann. Der Roman dagegen stellt die Leidenschaft dar, die
aus der Gesellschaft hinaus in den Tod treibt, und er stellt dieses grenzenlose
Streben als das Jnteressanteste dar." Der Roman habe ernste Konflikte, auch
zum Beispiel Ehekonflikte, zu behandeln, und da die ernstesten Konflikte aus
der Sünde entspringen, so sei auch deren Darstellung nicht zu umgehn. Selbst¬
verständlich sündigen auch Priester, und es sei kein Grund vorhanden, warum
nicht auch sündige Priester sollten dargestellt werden. „Daß jedoch die Kritik
nicht jedem Nomanfabrikanten die Karikierung von Priestern und Ordensleuten
nachsehen kann, wie sie von gewissen protestantischen und jüdischen Schrift¬
stellern und Blaustrümpfen betrieben wird, braucht wohl nicht besonders her¬
vorgehoben zu werden." Am auffülligsten macht sich die Engherzigkeit in der
Form der Prüderie bemerkbar. Prüderie, schreibt Veremundns, „ist eine Zeit¬
krankheit, die in Perioden moralischen Niedergangs als eine über das Ziel
hinausschießende Reaktion gegen sittliche Entartung und Schamlosigkeit auftritt.
Sie ist nervös gewordne, also kränkelnde Sittlichkeit." Und gerade die an
dieser Krankheit leidenden Leute seien es, die sich, statt sich zu schämen und
zu verbergen, am allerlautesten breit machen, sich mit ihrer defekten Sittlichkeit
zu Richtern der Zeit aufwerfen. „Sie beschuldigen ein Werk versteckter Lüstern¬
heit, das nur Formschönes, sinnlich Schönes darstellt. Auch das sinnlich
Schöne ist vom Schöpfer dem Geschöpfe zur Frende geschaffen, und gerade der
Künstler bedarf seiner zur Darstellung der höchsten Ideen. Nur muß er die
Sinnlichkeit beherrschen, nicht die Sinnlichkeit ihn." Und als Erziehungs¬
grundsatz bewähre sich die Prüderie schlecht. „Man muß es leider nur zu oft
erleben, wie wenig eine mit bloßen Prohibitionsmaßregeln bewahrte Unschuld
stand zu halten vermag, wenn erst einmal die unvermeidlichen Versuchungen
an sie herantreten. Ich kenne eine beträchtliche Anzahl sehr prüd erzogner
Menschenkinder, die, kaum aus der Haft ihrer Erziehungsanstalt entlassen, dein
ersten Ansturm zum Opfer fielen." Als abschreckendes Beispiel geradezu kin¬
discher Prüderie wird eine Stelle aus einer katholischen Broschüre zitiert und
dieser eine Betrachtung des katholischen Dichters Eichendorff gegenübergestellt,
der als Feinde der Poesie den kirchlichen Rigorismus katholischer Mornllehrer


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[0420] Katholische Belletristik und Publizistik Teil vielleicht i» der Stoffwahl." Daß spezifisch katholische Stoffe der Auf¬ nahme eines Buches auch in nichtkatholischen Leserkreisen an sich nicht hinderlich seien, beweise der Roman Colomas, dessen deutsche Ausgabe rasch hinterein¬ ander sechs Auflagen erlebt habe. Die dritte Ursache sei die schon beschriebne Engherzigkeit, die alle Literatur ausschließlich nach pädagogischen Rücksichten beurteile. „Nehmen wir speziell den Roman, der, wie Goethe sagt, das wahre Leben sein soll, nur folgerecht, was dein Leben abgeht. Wie kann man das Leben in diesem Sinne darstellen, ohne dabei dem Erzieher in die Quere zu kommen?" Der Roman sei nun einmal kein Erziehungsmittel. Goethe sage ganz richtig: „erziehen heißt, die Jugend an die Bedingungen gewöhnen, unter denen sie in einem gewissen Kreise existieren kann. Der Roman dagegen stellt die Leidenschaft dar, die aus der Gesellschaft hinaus in den Tod treibt, und er stellt dieses grenzenlose Streben als das Jnteressanteste dar." Der Roman habe ernste Konflikte, auch zum Beispiel Ehekonflikte, zu behandeln, und da die ernstesten Konflikte aus der Sünde entspringen, so sei auch deren Darstellung nicht zu umgehn. Selbst¬ verständlich sündigen auch Priester, und es sei kein Grund vorhanden, warum nicht auch sündige Priester sollten dargestellt werden. „Daß jedoch die Kritik nicht jedem Nomanfabrikanten die Karikierung von Priestern und Ordensleuten nachsehen kann, wie sie von gewissen protestantischen und jüdischen Schrift¬ stellern und Blaustrümpfen betrieben wird, braucht wohl nicht besonders her¬ vorgehoben zu werden." Am auffülligsten macht sich die Engherzigkeit in der Form der Prüderie bemerkbar. Prüderie, schreibt Veremundns, „ist eine Zeit¬ krankheit, die in Perioden moralischen Niedergangs als eine über das Ziel hinausschießende Reaktion gegen sittliche Entartung und Schamlosigkeit auftritt. Sie ist nervös gewordne, also kränkelnde Sittlichkeit." Und gerade die an dieser Krankheit leidenden Leute seien es, die sich, statt sich zu schämen und zu verbergen, am allerlautesten breit machen, sich mit ihrer defekten Sittlichkeit zu Richtern der Zeit aufwerfen. „Sie beschuldigen ein Werk versteckter Lüstern¬ heit, das nur Formschönes, sinnlich Schönes darstellt. Auch das sinnlich Schöne ist vom Schöpfer dem Geschöpfe zur Frende geschaffen, und gerade der Künstler bedarf seiner zur Darstellung der höchsten Ideen. Nur muß er die Sinnlichkeit beherrschen, nicht die Sinnlichkeit ihn." Und als Erziehungs¬ grundsatz bewähre sich die Prüderie schlecht. „Man muß es leider nur zu oft erleben, wie wenig eine mit bloßen Prohibitionsmaßregeln bewahrte Unschuld stand zu halten vermag, wenn erst einmal die unvermeidlichen Versuchungen an sie herantreten. Ich kenne eine beträchtliche Anzahl sehr prüd erzogner Menschenkinder, die, kaum aus der Haft ihrer Erziehungsanstalt entlassen, dein ersten Ansturm zum Opfer fielen." Als abschreckendes Beispiel geradezu kin¬ discher Prüderie wird eine Stelle aus einer katholischen Broschüre zitiert und dieser eine Betrachtung des katholischen Dichters Eichendorff gegenübergestellt, der als Feinde der Poesie den kirchlichen Rigorismus katholischer Mornllehrer

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 66, 1907, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341885_301253/420>, abgerufen am 05.07.2024.