Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 66, 1907, Erstes Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
Katholische Belletristik und Publizistik

und den evangelischen Pietismus bekämpft und unter anderm schreibt: "Beide
Gegner, die herben Asketiker wie die süßlichen Pietisten, würden, wenn sie zur
Alleinherrschaft gelangten, gar bald mit der Poesie fertig werden, die sie jetzt,
weil sie sie nicht verstehn, nur unwillig tolerieren. Eine kräftige Sinnlichkeit
ist das unentbehrliche Material aller Kunst, und dieser droht der Untergang,
gleichviel ob die einen dieses Material ganz vernichten, oder die andern es
zur Impotenz verstümmeln." Das war die vierte Ursache. Als fünfte wird
die mangelhafte katholische Kritik angeführt, die im vorstehenden schon hin¬
länglich charakterisiert ist, und die es unter anderm verschuldet, daß die deutschen
Katholiken die beiden heut lebenden wirklich bedeutenden katholischen Dichter,
die sie haben, gar nicht kennen: Martin Greif und Emil Marriot (Pseudonym
für Emilie Mataja). Endlich, das ist die sechste Ursache, besitzen die Katho¬
liken "kein belletristisches Organ, das seine Leser ausschließlich unter den ge¬
bildeten Erwachsnen sucht".

Ein besondres Kapitel wird den katholischen Familienblüttern und Zeitungen
gewidmet, sofern sie sich mit Belletristik befassen. Die dargelegte Gemütsver¬
fassung ihres Publikums hat zur Folge, daß sie sich alle Einsendungen vor
allem daraufhin ansehen müssen, ob darin nicht ein Duell, ein Selbstmord,
ein uneheliches Kind oder sonst etwas für die Zimperlichen Anstößiges vor¬
kommt, und falls dieses der Fall ist, auch das Beste zurückweisen. In Spanien
sei man darin viel weitherziger. Der sehr realistische Roman "Lappalien"
(Pequenas) des mehrerwühnten Jesuiten Coloina ist in dem von Jesuiten
herausgegebnen "Boten vom heiligen Herzen Jesu" erschienen. In der Vor¬
rede begegnet der Verfasser dem Einwurf, sein Roman könne die Herzens¬
unschuld gefährden. "Von welcher Unschuld spricht mau da? Von der wahren,
arglosen, frommen Herzeusunschuld, die nichts weiß, und die weder von der
Theorie noch von der Praxis etwas ahnt? Sie wird diese Blätter ohne Ver¬
ständnis lesen und ohne zwischen den Zeilen zu lesen; sie wird die Rose
pflücken, ohne an den Dung zu denken. Wenn sie ihn aber riecht und dann
entdeckt, so waren ihre Augen eben nicht so verschlossen, wie man sich einge¬
bildet hatte, so schöpfte diese Unschuld ihre Kraft weniger aus ihrer Herzens-
reinheit als aus ihrer Unwissenheit." In Deutschland hätte den Roman keine
katholische Zeitschrift angenommen; das hat der Jesuit gewußt und ihn gleich
dem Inselverlag übergeben. Veremundus ermahnt die Redakteure und Ver¬
leger, sie sollen keine solche Angsthasen sein. Die Dummen und Bigotten, die
gegenwärtig das katholische Familienblatt und das Zeitungsfeuilletvn beherrschen,
machten höchstens 5 Prozent der Leserschnft aus. Die Zahl der Verständigen
und Gebildeten, denen es zukomme, den Ton anzugeben, sei mindestens ebenso
groß. Von den übrigen 90 Prozent aber gelte das Sprüchlein von David
Strauß: "Das Publikum ist eine Kuh, die grast und grast nur immerzu.
Kommt eine Blum ihr vor die Nah', die nimmt sie mit und fragt nicht: was?
Ist ihr wie andres Futter auch, beschäftigt das Maul und füllt den Bauch."


Katholische Belletristik und Publizistik

und den evangelischen Pietismus bekämpft und unter anderm schreibt: „Beide
Gegner, die herben Asketiker wie die süßlichen Pietisten, würden, wenn sie zur
Alleinherrschaft gelangten, gar bald mit der Poesie fertig werden, die sie jetzt,
weil sie sie nicht verstehn, nur unwillig tolerieren. Eine kräftige Sinnlichkeit
ist das unentbehrliche Material aller Kunst, und dieser droht der Untergang,
gleichviel ob die einen dieses Material ganz vernichten, oder die andern es
zur Impotenz verstümmeln." Das war die vierte Ursache. Als fünfte wird
die mangelhafte katholische Kritik angeführt, die im vorstehenden schon hin¬
länglich charakterisiert ist, und die es unter anderm verschuldet, daß die deutschen
Katholiken die beiden heut lebenden wirklich bedeutenden katholischen Dichter,
die sie haben, gar nicht kennen: Martin Greif und Emil Marriot (Pseudonym
für Emilie Mataja). Endlich, das ist die sechste Ursache, besitzen die Katho¬
liken „kein belletristisches Organ, das seine Leser ausschließlich unter den ge¬
bildeten Erwachsnen sucht".

Ein besondres Kapitel wird den katholischen Familienblüttern und Zeitungen
gewidmet, sofern sie sich mit Belletristik befassen. Die dargelegte Gemütsver¬
fassung ihres Publikums hat zur Folge, daß sie sich alle Einsendungen vor
allem daraufhin ansehen müssen, ob darin nicht ein Duell, ein Selbstmord,
ein uneheliches Kind oder sonst etwas für die Zimperlichen Anstößiges vor¬
kommt, und falls dieses der Fall ist, auch das Beste zurückweisen. In Spanien
sei man darin viel weitherziger. Der sehr realistische Roman „Lappalien"
(Pequenas) des mehrerwühnten Jesuiten Coloina ist in dem von Jesuiten
herausgegebnen „Boten vom heiligen Herzen Jesu" erschienen. In der Vor¬
rede begegnet der Verfasser dem Einwurf, sein Roman könne die Herzens¬
unschuld gefährden. „Von welcher Unschuld spricht mau da? Von der wahren,
arglosen, frommen Herzeusunschuld, die nichts weiß, und die weder von der
Theorie noch von der Praxis etwas ahnt? Sie wird diese Blätter ohne Ver¬
ständnis lesen und ohne zwischen den Zeilen zu lesen; sie wird die Rose
pflücken, ohne an den Dung zu denken. Wenn sie ihn aber riecht und dann
entdeckt, so waren ihre Augen eben nicht so verschlossen, wie man sich einge¬
bildet hatte, so schöpfte diese Unschuld ihre Kraft weniger aus ihrer Herzens-
reinheit als aus ihrer Unwissenheit." In Deutschland hätte den Roman keine
katholische Zeitschrift angenommen; das hat der Jesuit gewußt und ihn gleich
dem Inselverlag übergeben. Veremundus ermahnt die Redakteure und Ver¬
leger, sie sollen keine solche Angsthasen sein. Die Dummen und Bigotten, die
gegenwärtig das katholische Familienblatt und das Zeitungsfeuilletvn beherrschen,
machten höchstens 5 Prozent der Leserschnft aus. Die Zahl der Verständigen
und Gebildeten, denen es zukomme, den Ton anzugeben, sei mindestens ebenso
groß. Von den übrigen 90 Prozent aber gelte das Sprüchlein von David
Strauß: „Das Publikum ist eine Kuh, die grast und grast nur immerzu.
Kommt eine Blum ihr vor die Nah', die nimmt sie mit und fragt nicht: was?
Ist ihr wie andres Futter auch, beschäftigt das Maul und füllt den Bauch."


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0421" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/301675"/>
          <fw type="header" place="top"> Katholische Belletristik und Publizistik</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_1561" prev="#ID_1560"> und den evangelischen Pietismus bekämpft und unter anderm schreibt: &#x201E;Beide<lb/>
Gegner, die herben Asketiker wie die süßlichen Pietisten, würden, wenn sie zur<lb/>
Alleinherrschaft gelangten, gar bald mit der Poesie fertig werden, die sie jetzt,<lb/>
weil sie sie nicht verstehn, nur unwillig tolerieren. Eine kräftige Sinnlichkeit<lb/>
ist das unentbehrliche Material aller Kunst, und dieser droht der Untergang,<lb/>
gleichviel ob die einen dieses Material ganz vernichten, oder die andern es<lb/>
zur Impotenz verstümmeln." Das war die vierte Ursache. Als fünfte wird<lb/>
die mangelhafte katholische Kritik angeführt, die im vorstehenden schon hin¬<lb/>
länglich charakterisiert ist, und die es unter anderm verschuldet, daß die deutschen<lb/>
Katholiken die beiden heut lebenden wirklich bedeutenden katholischen Dichter,<lb/>
die sie haben, gar nicht kennen: Martin Greif und Emil Marriot (Pseudonym<lb/>
für Emilie Mataja). Endlich, das ist die sechste Ursache, besitzen die Katho¬<lb/>
liken &#x201E;kein belletristisches Organ, das seine Leser ausschließlich unter den ge¬<lb/>
bildeten Erwachsnen sucht".</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1562" next="#ID_1563"> Ein besondres Kapitel wird den katholischen Familienblüttern und Zeitungen<lb/>
gewidmet, sofern sie sich mit Belletristik befassen. Die dargelegte Gemütsver¬<lb/>
fassung ihres Publikums hat zur Folge, daß sie sich alle Einsendungen vor<lb/>
allem daraufhin ansehen müssen, ob darin nicht ein Duell, ein Selbstmord,<lb/>
ein uneheliches Kind oder sonst etwas für die Zimperlichen Anstößiges vor¬<lb/>
kommt, und falls dieses der Fall ist, auch das Beste zurückweisen. In Spanien<lb/>
sei man darin viel weitherziger. Der sehr realistische Roman &#x201E;Lappalien"<lb/>
(Pequenas) des mehrerwühnten Jesuiten Coloina ist in dem von Jesuiten<lb/>
herausgegebnen &#x201E;Boten vom heiligen Herzen Jesu" erschienen. In der Vor¬<lb/>
rede begegnet der Verfasser dem Einwurf, sein Roman könne die Herzens¬<lb/>
unschuld gefährden. &#x201E;Von welcher Unschuld spricht mau da? Von der wahren,<lb/>
arglosen, frommen Herzeusunschuld, die nichts weiß, und die weder von der<lb/>
Theorie noch von der Praxis etwas ahnt? Sie wird diese Blätter ohne Ver¬<lb/>
ständnis lesen und ohne zwischen den Zeilen zu lesen; sie wird die Rose<lb/>
pflücken, ohne an den Dung zu denken. Wenn sie ihn aber riecht und dann<lb/>
entdeckt, so waren ihre Augen eben nicht so verschlossen, wie man sich einge¬<lb/>
bildet hatte, so schöpfte diese Unschuld ihre Kraft weniger aus ihrer Herzens-<lb/>
reinheit als aus ihrer Unwissenheit." In Deutschland hätte den Roman keine<lb/>
katholische Zeitschrift angenommen; das hat der Jesuit gewußt und ihn gleich<lb/>
dem Inselverlag übergeben. Veremundus ermahnt die Redakteure und Ver¬<lb/>
leger, sie sollen keine solche Angsthasen sein. Die Dummen und Bigotten, die<lb/>
gegenwärtig das katholische Familienblatt und das Zeitungsfeuilletvn beherrschen,<lb/>
machten höchstens 5 Prozent der Leserschnft aus. Die Zahl der Verständigen<lb/>
und Gebildeten, denen es zukomme, den Ton anzugeben, sei mindestens ebenso<lb/>
groß. Von den übrigen 90 Prozent aber gelte das Sprüchlein von David<lb/>
Strauß: &#x201E;Das Publikum ist eine Kuh, die grast und grast nur immerzu.<lb/>
Kommt eine Blum ihr vor die Nah', die nimmt sie mit und fragt nicht: was?<lb/>
Ist ihr wie andres Futter auch, beschäftigt das Maul und füllt den Bauch."</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0421] Katholische Belletristik und Publizistik und den evangelischen Pietismus bekämpft und unter anderm schreibt: „Beide Gegner, die herben Asketiker wie die süßlichen Pietisten, würden, wenn sie zur Alleinherrschaft gelangten, gar bald mit der Poesie fertig werden, die sie jetzt, weil sie sie nicht verstehn, nur unwillig tolerieren. Eine kräftige Sinnlichkeit ist das unentbehrliche Material aller Kunst, und dieser droht der Untergang, gleichviel ob die einen dieses Material ganz vernichten, oder die andern es zur Impotenz verstümmeln." Das war die vierte Ursache. Als fünfte wird die mangelhafte katholische Kritik angeführt, die im vorstehenden schon hin¬ länglich charakterisiert ist, und die es unter anderm verschuldet, daß die deutschen Katholiken die beiden heut lebenden wirklich bedeutenden katholischen Dichter, die sie haben, gar nicht kennen: Martin Greif und Emil Marriot (Pseudonym für Emilie Mataja). Endlich, das ist die sechste Ursache, besitzen die Katho¬ liken „kein belletristisches Organ, das seine Leser ausschließlich unter den ge¬ bildeten Erwachsnen sucht". Ein besondres Kapitel wird den katholischen Familienblüttern und Zeitungen gewidmet, sofern sie sich mit Belletristik befassen. Die dargelegte Gemütsver¬ fassung ihres Publikums hat zur Folge, daß sie sich alle Einsendungen vor allem daraufhin ansehen müssen, ob darin nicht ein Duell, ein Selbstmord, ein uneheliches Kind oder sonst etwas für die Zimperlichen Anstößiges vor¬ kommt, und falls dieses der Fall ist, auch das Beste zurückweisen. In Spanien sei man darin viel weitherziger. Der sehr realistische Roman „Lappalien" (Pequenas) des mehrerwühnten Jesuiten Coloina ist in dem von Jesuiten herausgegebnen „Boten vom heiligen Herzen Jesu" erschienen. In der Vor¬ rede begegnet der Verfasser dem Einwurf, sein Roman könne die Herzens¬ unschuld gefährden. „Von welcher Unschuld spricht mau da? Von der wahren, arglosen, frommen Herzeusunschuld, die nichts weiß, und die weder von der Theorie noch von der Praxis etwas ahnt? Sie wird diese Blätter ohne Ver¬ ständnis lesen und ohne zwischen den Zeilen zu lesen; sie wird die Rose pflücken, ohne an den Dung zu denken. Wenn sie ihn aber riecht und dann entdeckt, so waren ihre Augen eben nicht so verschlossen, wie man sich einge¬ bildet hatte, so schöpfte diese Unschuld ihre Kraft weniger aus ihrer Herzens- reinheit als aus ihrer Unwissenheit." In Deutschland hätte den Roman keine katholische Zeitschrift angenommen; das hat der Jesuit gewußt und ihn gleich dem Inselverlag übergeben. Veremundus ermahnt die Redakteure und Ver¬ leger, sie sollen keine solche Angsthasen sein. Die Dummen und Bigotten, die gegenwärtig das katholische Familienblatt und das Zeitungsfeuilletvn beherrschen, machten höchstens 5 Prozent der Leserschnft aus. Die Zahl der Verständigen und Gebildeten, denen es zukomme, den Ton anzugeben, sei mindestens ebenso groß. Von den übrigen 90 Prozent aber gelte das Sprüchlein von David Strauß: „Das Publikum ist eine Kuh, die grast und grast nur immerzu. Kommt eine Blum ihr vor die Nah', die nimmt sie mit und fragt nicht: was? Ist ihr wie andres Futter auch, beschäftigt das Maul und füllt den Bauch."

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341885_301253
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341885_301253/421
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 66, 1907, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341885_301253/421>, abgerufen am 05.07.2024.