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Die Grenzboten. Jg. 66, 1907, Erstes Vierteljahr.

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Katholische Belletristik und Publizistik

wie Professor Conrad Lange, der meint, noch niemals sei ein junger Mensch
durch einen Roman wie Zolas Nana verdorben worden. Das sei ein boden¬
loser Optimismus; mit seinen eignen Söhnen werde Lange das Experiment
schwerlich machen. "Auch bei Werken, die das Laster mit angeblich sittlichen
Tendenzen zwar abstoßend, jedoch, wie Zola, in gemeiner Weise darstellen,
ist die Frage vom praktischen Standpunkte der Volkserziehung strenger zu be¬
urteilen als vom Staudpunkte der theoretischen Moral." Werke, die mit
brutalen Lebenstatsachen ausgespielt sind, müssen trotz vorgeblich sittlicher Ten¬
denz als unsittlich bekämpft werden, weil sie das Schamgefühl abstumpfen.
Absolut unsittlich dürften freilich auch sie nicht genannt werden; das seien nur
solche, "die einen an sich unsittlichen Gedanken zur Grundlage haben, die Sünde
als begehrenswert hinstellen oder durch sexuell reizende Schilderungen die Scham
verletzen".

Die pädagogische Rücksicht dürfe aber nicht so weit gehn, daß man auch
dem Künstler jede Darstellung der Wirklichkeit verbiete, die möglicherweise
Knaben und jungen Mädchen schaden könnte. Das katholische Publikum und
die katholische Kritik würden aber gegenwärtig von dieser pädagogischen Rück¬
sicht in dem Maße beherrscht, daß sie auch in der Literaturgeschichte für die
Beurteilung vou Kunstwerken den Ausschlag gebe. "Goethebiographien wie
die des Baumgartner ödes Jesuiten, der unsre großen Klassiker, von Lessing
angefangen, der Reihe nach heruntergerissen hat, und der jetzt die französische
Literatur mißhandelt^ mögen gegenüber gewissen Übertreibungen der Gegenseite
ihre Berechtigung haben, obwohl auch dann noch nicht, wie hier, der Grundsatz
maßgebend zu sein braucht, gerade alles schlecht zu finden und das Große,
Schöne, Edle und Bedeutende an Goethe durch die Fülle des einseitig ge-
häuften Tadels so um seine Schätzung zu bringen, daß der Leser mit einem
Eindruck von dem Buche scheidet, der in keinem Verhältnis mehr steht zu dem,
was uns Goethe trotz alledem sein kann und sein darf." Nun stehe es jn
dem Katholiken frei, protestantische Literaturgeschichten und Rezensionen zu be¬
nutzen, und wenn Veremundus gute katholische Leistungen dieser Art wünscht,
will er das keineswegs so verstanden wissen, "als ob wir uns durch die Aus¬
füllung dieser Lücke abschließen, unabhängig machen und auf uns selbst stelle"?
sollten. Gerade das Gegenteil müßten wir zu erreichen streben: uns Gehör
verschaffen, mit arbeiten, Einfluß gewinnen, ähnlich wie wir dies, dank dem
praktischen, tatkräftigen Gegenwartssinn der Zentrumsführer, in der Politik er¬
reicht haben. Das einzige Mittel aber, zu diesem Ziele zu gelangen, ist posi¬
tive Mitarbeit von einem freien und großherzigen Standpunkt aus, ist die
Beschäftigung mit allen die Zeit bewegenden Fragen in einer auch den Gegner
uicht verletzenden Form, ist das aufrichtige Bemühen, das künstlerische Ringen
und Sehnen der Zeit verstehen zu lernen, ist endlich jene unparteiische Wahr¬
heitsliebe, die das Gute und Schöne, wo immer auch sie es findet, an¬
erkennt und bereitwillig aufnimmt." Ein arger Übelstand sei, daß die katholische


Katholische Belletristik und Publizistik

wie Professor Conrad Lange, der meint, noch niemals sei ein junger Mensch
durch einen Roman wie Zolas Nana verdorben worden. Das sei ein boden¬
loser Optimismus; mit seinen eignen Söhnen werde Lange das Experiment
schwerlich machen. „Auch bei Werken, die das Laster mit angeblich sittlichen
Tendenzen zwar abstoßend, jedoch, wie Zola, in gemeiner Weise darstellen,
ist die Frage vom praktischen Standpunkte der Volkserziehung strenger zu be¬
urteilen als vom Staudpunkte der theoretischen Moral." Werke, die mit
brutalen Lebenstatsachen ausgespielt sind, müssen trotz vorgeblich sittlicher Ten¬
denz als unsittlich bekämpft werden, weil sie das Schamgefühl abstumpfen.
Absolut unsittlich dürften freilich auch sie nicht genannt werden; das seien nur
solche, „die einen an sich unsittlichen Gedanken zur Grundlage haben, die Sünde
als begehrenswert hinstellen oder durch sexuell reizende Schilderungen die Scham
verletzen".

Die pädagogische Rücksicht dürfe aber nicht so weit gehn, daß man auch
dem Künstler jede Darstellung der Wirklichkeit verbiete, die möglicherweise
Knaben und jungen Mädchen schaden könnte. Das katholische Publikum und
die katholische Kritik würden aber gegenwärtig von dieser pädagogischen Rück¬
sicht in dem Maße beherrscht, daß sie auch in der Literaturgeschichte für die
Beurteilung vou Kunstwerken den Ausschlag gebe. „Goethebiographien wie
die des Baumgartner ödes Jesuiten, der unsre großen Klassiker, von Lessing
angefangen, der Reihe nach heruntergerissen hat, und der jetzt die französische
Literatur mißhandelt^ mögen gegenüber gewissen Übertreibungen der Gegenseite
ihre Berechtigung haben, obwohl auch dann noch nicht, wie hier, der Grundsatz
maßgebend zu sein braucht, gerade alles schlecht zu finden und das Große,
Schöne, Edle und Bedeutende an Goethe durch die Fülle des einseitig ge-
häuften Tadels so um seine Schätzung zu bringen, daß der Leser mit einem
Eindruck von dem Buche scheidet, der in keinem Verhältnis mehr steht zu dem,
was uns Goethe trotz alledem sein kann und sein darf." Nun stehe es jn
dem Katholiken frei, protestantische Literaturgeschichten und Rezensionen zu be¬
nutzen, und wenn Veremundus gute katholische Leistungen dieser Art wünscht,
will er das keineswegs so verstanden wissen, „als ob wir uns durch die Aus¬
füllung dieser Lücke abschließen, unabhängig machen und auf uns selbst stelle«?
sollten. Gerade das Gegenteil müßten wir zu erreichen streben: uns Gehör
verschaffen, mit arbeiten, Einfluß gewinnen, ähnlich wie wir dies, dank dem
praktischen, tatkräftigen Gegenwartssinn der Zentrumsführer, in der Politik er¬
reicht haben. Das einzige Mittel aber, zu diesem Ziele zu gelangen, ist posi¬
tive Mitarbeit von einem freien und großherzigen Standpunkt aus, ist die
Beschäftigung mit allen die Zeit bewegenden Fragen in einer auch den Gegner
uicht verletzenden Form, ist das aufrichtige Bemühen, das künstlerische Ringen
und Sehnen der Zeit verstehen zu lernen, ist endlich jene unparteiische Wahr¬
heitsliebe, die das Gute und Schöne, wo immer auch sie es findet, an¬
erkennt und bereitwillig aufnimmt." Ein arger Übelstand sei, daß die katholische


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[0418] Katholische Belletristik und Publizistik wie Professor Conrad Lange, der meint, noch niemals sei ein junger Mensch durch einen Roman wie Zolas Nana verdorben worden. Das sei ein boden¬ loser Optimismus; mit seinen eignen Söhnen werde Lange das Experiment schwerlich machen. „Auch bei Werken, die das Laster mit angeblich sittlichen Tendenzen zwar abstoßend, jedoch, wie Zola, in gemeiner Weise darstellen, ist die Frage vom praktischen Standpunkte der Volkserziehung strenger zu be¬ urteilen als vom Staudpunkte der theoretischen Moral." Werke, die mit brutalen Lebenstatsachen ausgespielt sind, müssen trotz vorgeblich sittlicher Ten¬ denz als unsittlich bekämpft werden, weil sie das Schamgefühl abstumpfen. Absolut unsittlich dürften freilich auch sie nicht genannt werden; das seien nur solche, „die einen an sich unsittlichen Gedanken zur Grundlage haben, die Sünde als begehrenswert hinstellen oder durch sexuell reizende Schilderungen die Scham verletzen". Die pädagogische Rücksicht dürfe aber nicht so weit gehn, daß man auch dem Künstler jede Darstellung der Wirklichkeit verbiete, die möglicherweise Knaben und jungen Mädchen schaden könnte. Das katholische Publikum und die katholische Kritik würden aber gegenwärtig von dieser pädagogischen Rück¬ sicht in dem Maße beherrscht, daß sie auch in der Literaturgeschichte für die Beurteilung vou Kunstwerken den Ausschlag gebe. „Goethebiographien wie die des Baumgartner ödes Jesuiten, der unsre großen Klassiker, von Lessing angefangen, der Reihe nach heruntergerissen hat, und der jetzt die französische Literatur mißhandelt^ mögen gegenüber gewissen Übertreibungen der Gegenseite ihre Berechtigung haben, obwohl auch dann noch nicht, wie hier, der Grundsatz maßgebend zu sein braucht, gerade alles schlecht zu finden und das Große, Schöne, Edle und Bedeutende an Goethe durch die Fülle des einseitig ge- häuften Tadels so um seine Schätzung zu bringen, daß der Leser mit einem Eindruck von dem Buche scheidet, der in keinem Verhältnis mehr steht zu dem, was uns Goethe trotz alledem sein kann und sein darf." Nun stehe es jn dem Katholiken frei, protestantische Literaturgeschichten und Rezensionen zu be¬ nutzen, und wenn Veremundus gute katholische Leistungen dieser Art wünscht, will er das keineswegs so verstanden wissen, „als ob wir uns durch die Aus¬ füllung dieser Lücke abschließen, unabhängig machen und auf uns selbst stelle«? sollten. Gerade das Gegenteil müßten wir zu erreichen streben: uns Gehör verschaffen, mit arbeiten, Einfluß gewinnen, ähnlich wie wir dies, dank dem praktischen, tatkräftigen Gegenwartssinn der Zentrumsführer, in der Politik er¬ reicht haben. Das einzige Mittel aber, zu diesem Ziele zu gelangen, ist posi¬ tive Mitarbeit von einem freien und großherzigen Standpunkt aus, ist die Beschäftigung mit allen die Zeit bewegenden Fragen in einer auch den Gegner uicht verletzenden Form, ist das aufrichtige Bemühen, das künstlerische Ringen und Sehnen der Zeit verstehen zu lernen, ist endlich jene unparteiische Wahr¬ heitsliebe, die das Gute und Schöne, wo immer auch sie es findet, an¬ erkennt und bereitwillig aufnimmt." Ein arger Übelstand sei, daß die katholische

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 66, 1907, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341885_301253/418>, abgerufen am 27.07.2024.