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Die Grenzboten. Jg. 66, 1907, Erstes Vierteljahr.

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Luftreisen

Bruxelles" (2250 Kubikmeter), der andre der Ballon "söhnte" des Münchner
Vereins für Luftschiffahrt.

Wir selbst verlassen unsre anfängliche Höhe, weil das Ballongas an die
schon merklich kühler werdende Atmosphäre von seiner Wärme ausstrahlt und
sich zusammenzieht, und kommen damit in die lebhaftere Strömung des kleinen
Belgiers. Plötzlich steigt dieser, weil er der Erde zu nahe gekommen war, und
verlangsamt in der höhern, ruhigern Schicht seinen Flug. Bald sind wir unter
ihm hinweg, und auch den Österreicher "Helios" überholen wir auf dieselbe Weise,
sodaß wir trotz unsrer spätern Abfahrt die zweiten sind. Nur der Ballon
"Cogncik" ist uns ein gut Stück voraus. Wir beobachten, wie er zur Fest¬
stellung der Windrichtung und Windgeschwindigkeit in den höhern Schichten von
Zeit zu Zeit Piloten, kleine Wasserstoffballons, entsendet. Noch tiefer freilich
dürfen wir nicht sinken, wir sind kaum noch 40 Meter vom Boden entfernt
und können ganz bequem mit den Menschen unter uns Gespräche führen.
Parallel zum Nordring, der das Häusermeer Berlins begrenzt, gehts über
Pankow und Weißensee mit Rennbahn und Teich gerade auf die städtische
Irrenanstalt Herzberge zu. Auf den Veranden der von schönen Parkanlagen
umrahmten villenartigen Gebäude sitzen die Kranken beim Nachmittagskaffee und
freuen sich an dem himmlischen Schauspiel. Entsetzen dagegen erregt unser
Nahen im Wirtschaftshofe der Anstalt: ein großes Volk Haushühner trippelt
und flattert hilflos umher. Eine von vielen Bahnen durchschnittne Fläche liegt
unter uns mit den Orten Friedrichsfelde, Biesdorf und Kaulsdorf, und zu
unsrer Rechten führt die Spree von Stralau und Rummelsburg aufwärts ucich
Köpenick. Noch ahnt die Stadt nicht, was ihr in den nächsten Tagen bevor¬
steht. In das tragische Geschick eines Königssohnes war ihr Name einst ver¬
flochten: der volkstümlichste Herrscher Preußens stand hier als Kronprinz vor
einem Kriegsgerichte. Jetzt soll ein Abenteurer sie in den Mund der Leute
bringen als Schauplatz einer Komödie, über der man unsre Ballonwettfahrt und
sogar Hohenlohes Denkwürdigkeiten eine Weile vergißt.

Länger, als uns lieb ist, dürfen wir den Anblick der Stadt genießen, haben
doch auch wir aus demselben Grnnde wie vorhin der kleine Belgier höher steigen
müssen in die uns beinahe windstill erscheinende Region und sehen nunmehr
die erst von uns überholten Ballons "Radium" und "Helios" wieder unter
uns wegeilen. Etwas südlicher als wir kreuzen sie vor uns den Müggelsee,
der von dunkeln Forsten eingeschlossen unter den Strahlen der Abendsonne in
einem Gemisch von Purpur und Gold erglänzt, und im Geiste treten uns die in
ihrer natürlichen Farbenpracht aufgenommnen, an künstlerischer Wirkung kaum
noch zu überbietendem Meeres- und Küstenbilder wieder vors Auge, die uns
vor wenig Tagen Geheimrat Professor Miethe in der Aula der Technischen
Hochschule vorgeführt hat. Weiter südlich über der Bürgerheide und den Müggel-
bergen vereinigen sich bei Schmöckwitz die Dahmeseen zu einem gewaltigen
Stern, der uns auch früher schon entzückt hat. Denn es ist nun das vierte


Grenzboten I 1907 5
Luftreisen

Bruxelles" (2250 Kubikmeter), der andre der Ballon „söhnte" des Münchner
Vereins für Luftschiffahrt.

Wir selbst verlassen unsre anfängliche Höhe, weil das Ballongas an die
schon merklich kühler werdende Atmosphäre von seiner Wärme ausstrahlt und
sich zusammenzieht, und kommen damit in die lebhaftere Strömung des kleinen
Belgiers. Plötzlich steigt dieser, weil er der Erde zu nahe gekommen war, und
verlangsamt in der höhern, ruhigern Schicht seinen Flug. Bald sind wir unter
ihm hinweg, und auch den Österreicher „Helios" überholen wir auf dieselbe Weise,
sodaß wir trotz unsrer spätern Abfahrt die zweiten sind. Nur der Ballon
„Cogncik" ist uns ein gut Stück voraus. Wir beobachten, wie er zur Fest¬
stellung der Windrichtung und Windgeschwindigkeit in den höhern Schichten von
Zeit zu Zeit Piloten, kleine Wasserstoffballons, entsendet. Noch tiefer freilich
dürfen wir nicht sinken, wir sind kaum noch 40 Meter vom Boden entfernt
und können ganz bequem mit den Menschen unter uns Gespräche führen.
Parallel zum Nordring, der das Häusermeer Berlins begrenzt, gehts über
Pankow und Weißensee mit Rennbahn und Teich gerade auf die städtische
Irrenanstalt Herzberge zu. Auf den Veranden der von schönen Parkanlagen
umrahmten villenartigen Gebäude sitzen die Kranken beim Nachmittagskaffee und
freuen sich an dem himmlischen Schauspiel. Entsetzen dagegen erregt unser
Nahen im Wirtschaftshofe der Anstalt: ein großes Volk Haushühner trippelt
und flattert hilflos umher. Eine von vielen Bahnen durchschnittne Fläche liegt
unter uns mit den Orten Friedrichsfelde, Biesdorf und Kaulsdorf, und zu
unsrer Rechten führt die Spree von Stralau und Rummelsburg aufwärts ucich
Köpenick. Noch ahnt die Stadt nicht, was ihr in den nächsten Tagen bevor¬
steht. In das tragische Geschick eines Königssohnes war ihr Name einst ver¬
flochten: der volkstümlichste Herrscher Preußens stand hier als Kronprinz vor
einem Kriegsgerichte. Jetzt soll ein Abenteurer sie in den Mund der Leute
bringen als Schauplatz einer Komödie, über der man unsre Ballonwettfahrt und
sogar Hohenlohes Denkwürdigkeiten eine Weile vergißt.

Länger, als uns lieb ist, dürfen wir den Anblick der Stadt genießen, haben
doch auch wir aus demselben Grnnde wie vorhin der kleine Belgier höher steigen
müssen in die uns beinahe windstill erscheinende Region und sehen nunmehr
die erst von uns überholten Ballons „Radium" und „Helios" wieder unter
uns wegeilen. Etwas südlicher als wir kreuzen sie vor uns den Müggelsee,
der von dunkeln Forsten eingeschlossen unter den Strahlen der Abendsonne in
einem Gemisch von Purpur und Gold erglänzt, und im Geiste treten uns die in
ihrer natürlichen Farbenpracht aufgenommnen, an künstlerischer Wirkung kaum
noch zu überbietendem Meeres- und Küstenbilder wieder vors Auge, die uns
vor wenig Tagen Geheimrat Professor Miethe in der Aula der Technischen
Hochschule vorgeführt hat. Weiter südlich über der Bürgerheide und den Müggel-
bergen vereinigen sich bei Schmöckwitz die Dahmeseen zu einem gewaltigen
Stern, der uns auch früher schon entzückt hat. Denn es ist nun das vierte


Grenzboten I 1907 5
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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 66, 1907, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341885_301253/41>, abgerufen am 24.07.2024.